Politik

Rechtsextremismus: Was ist in meiner Heimat Hessen los?

Ein NPD-Ortsvorsitzender, ein politischer Mord, rechte Polizeischüler: Ist Hessen das neue Sachsen? Wir dürfen Rechtsextremismus nicht in den Osten verdrängen, findet unsere Autorin.
Das Wappen von Hessen, aus dem das Wappentier rausfüllt
Hessen, das neue Sachsen? | Foto: Wikipedia

Anfang Juni schießt ein Neonazi dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in den Kopf. Direkt vor seinem Haus. Ein politischer Mord. Sechs Autominuten von der Haustür meiner Eltern entfernt.

Vergangenes Wochenende wählten Ortsbeiräte aus SPD, CDU und FDP den NPD-Funktionär und bekannten Neonazi Stefan Jagsch im hessischen Altenstadt einstimmig zum Ortsvorsteher – weil er sich "gut mit Computern auskennt" und sich "absolut kollegial und ruhig" verhalte. Sein Name taucht mehrfach im hessischen Verfassungsschutzbericht auf.

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Auf WhatsApp schickten sich Polizeischüler aus Mühlheim am Main rassistische und antisemitische Inhalte: Eins der Fotos zeigt das Gesicht eines Schwarzen, auf den ein Zielfernrohr gerichtet ist, dazu der Satz im Schriftzug der Waffenfirma Heckler & Koch: "Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt".

Im Dezember wurden Morddrohungen gegen die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz bekannt. Sie kämpft unter anderem für die Opfer des NSU, der 2006 in Kassel, 20 Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt, Halit Yozgat in einem Internetcafé mit zwei gezielten Schüssen ermordete.


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Das ist nur eine Zusammenstellung von Nachrichten aus meiner Heimat, die in der letzten Zeit an mir gerüttelt haben. Ich sage nicht: Hessen ist das neue Sachsen. Aber: Wer das Problem Rechtsextremismus in den Osten Deutschlands verlagert, verdrängt damit etwas, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Der exotisiert ein Problem, mit dem sich auch jeder im Westen beschäftigen muss. Weil auch dort – und vielleicht sogar vor allem in strukturschwachen, ländlichen Gegenden – rechte Strukturen existieren und Rechtspopulisten die Ängste der Menschen für ihren Erfolg nutzen.

"Das Problem lässt sich nicht mehr von der Hand weisen", sagt Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen, die wie ich in Nordhessen geboren und aufgewachsen ist. "Retrospektiv würde ich sagen, dass es konstant das gleiche Potenzial hier gab. Das ist jetzt nur präsenter, es existiert ein größerer Druck auf Behörden und das gesellschaftliche Klima insgesamt ist ein anderes. Die Leute trauen sich mehr."

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Ich habe mit alten Schulfreundinnen und ihren Eltern über dieses Klima und rechtes Gedankengut in meiner Heimat gesprochen. Fast alle wollten reden, viele aber nur anonym.

"Die Menschen fühlen sich vergessen"

Wenn ich an Zuhause denke, fällt mir weites Ackerland ein, satte Rapsfelder bis zum Horizont und der sumpfige Geruch von Gülle. 80 Prozent der Fläche Hessens nimmt der ländliche Raum ein. Dörfer, Kleinstädte, Gemeinden. Mir fallen die Fachwerkfassaden ein, die kleinen mittelalterlichen Kirchen in fast jedem Kaff. Ich denke an Funklöcher, an schlechtes Netz. An Leute, die keine Sorgen haben, weil sie bei Volkswagen angestellt sind und ein Reihenhaus besitzen, vor dem ein Auto pro Familienmitglied parkt. Für mich ist klar: Ich bin im Idyll aufgewachsen.

"Die Menschen leben gerne hier", sagt die Mutter eines alten Klassenkameraden, selbst Lehrerin. "Aber sie fühlen sich nach und nach vergessen." Die Region, die während der NS-Zeit so braun war, dann Wohlstand erlebte, sehe jetzt zu, wie es wieder bergab geht: Ämter und Schwimmbäder machen dicht, im nächsten Krankenhaus schließt die Geburtshilfestation. Das rufe Wut und Aggression bei Leuten hervor, die sich ohnmächtig fühlen. Dazu kamen die Flüchtlinge. "Die AfD weiß das zu nutzen."

Bei der letzten Kommunalwahl bekommt die AfD in meiner Heimatgemeinde knapp 12 Prozentdoppelt so viel wie FDP und Linke. Die Partei ist mittlerweile in ganz Hessen in der Kommunalpolitik vertreten. Der Vater eines alten Klassenkameraden ist Fraktionsmitglied. Der Schulfreund ist heute 27 und Softwareentwickler. Früher eher der Außenseiter-Typ, etwas dicker als die anderen, still. Er ist nach der Zehnten auf die Realschule gewechselt, hat nach Ausbildung und Fachabi angefangen zu studieren.

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"Als ich zum Studium nach Kassel gegangen bin, das war während der Flüchtlingskrise, da hat man ganz klare Unterschiede gemerkt: Die aus der Stadt waren eher links, fast schon zu links. Und die vom Dorf, so wie wir, waren CDU, eher in der rechten Schiene. Wir haben viel über Flüchtlinge diskutiert. Aber irgendwann haben wir beschlossen: Wir reden nicht mehr darüber. Mittlerweile denke ich: Ich mag mir die ganzen Negativ-News nicht mehr geben. Und: Ändern kann ich ja sowieso nichts. Ich glaube, viele Leute werden heute durch die Medien manipuliert."

Als Jugendliche auf dem Land war unser größtes Problem, welche Eltern einen zur nächsten Kirmes fahren und wer da wie viel Jacky-Cola verträgt. Große Konflikte wegen Rassismus kannte ich jedenfalls nicht. Vielleicht auch, weil ich niemanden kannte, der hätte diskriminiert werden können. Die "Quoten-Ausländer" an unserer Schule, wie ein Freund sie früher nannte, waren gut integriert, ihre Eltern lebten in zweiter Generation in Deutschland und sie selbst schießen sonntags die Tore für den Verein. Unsere Freunde waren Türken, Italienerinnen, Kasachen – aber das seien keine "Ausländer", sagt eine Schulfreundin. Sie arbeitet mittlerweile für den Staat, hat ein Haus und ist verheiratet.

"Bei uns herrscht der Konsens: Ausländer, die brauchen wir hier nicht. Ich glaube, dass das eine grundsätzliche Haltung hier ist. Viele trauen sich nur nicht, genau das zu sagen. Weil man sowas in Deutschland nicht sagen darf. Ich gehe nicht mehr in Kassel einkaufen, weil da mehr Ausländer sind als früher. Da habe ich Angst, vor allem als Frau. Im Dorf hier gibt es nur zwei Ausländer, aber wenn was passiert, randaliert wurde oder es eine Schlägerei gab, denken viele, dass es die waren."

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Sozialpsychologen nennen das Phänomen den "Halo-Effekt", eine Wahrnehmungsverzerrung: Wir bilden uns unwillkürlich ein, dass jemand mit bekannten Eigenschaften ein guter Mensch sein muss. Andere Merkmale wie dunkle Haut, unverständliche Sprache, Kopftuch, unordentliche Kleidung machen das Gegenüber zu einem schlechteren Menschen. Das Problem: Vorurteile sind schwer zu revidieren. Vor allem, wenn man nicht aktiv dagegen ankämpft. Manchmal werden sie zu selbsterfüllenden Prophezeiungen: Wer in Fremden etwas Böses sieht, neigt eher zu Ausgrenzung und befeuert damit das Aggressionspotenzial des anderen.

Wie es ist, wenn jemand ausgeschlossen wird, weiß Lydia, eine andere ehemalige Klassenkameradin. Sie ist mit einem Äthiopier zusammen, erwartet gerade ihr zweites Kind mit ihm:

"Ich habe seit 2014 mit Geflüchteten in unserer Heimatstadt zu tun, weil meine Mutter mit der Flüchtlingsarbeit angefangen hat. Da hatte ich nicht das Gefühl, dass es ein Problem ist in unserer Stadt. Allerdings hat sich das in den letzten Jahren verschärft. Es gibt immer wieder kleine Situationen, wo man den Hass spürt, seien es Blicke, wenn ich mit meinem Freund Hand in Hand durch die Straßen laufe oder wenn er Fußball spielt und vom Rand oder von den gegnerischen Spielern Kommentare kommen. Man merkt wirklich, die Grenze wird immer weiter, die Leute trauen sich viel mehr und schneller was zu sagen. Es fehlen Begegnungen."

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"In hessischen Dörfern wurden rassistische Übergriffe lange als Kirmesschlägereien abgetan", sagt Sonja Brasch von NSU-Watch. "Vielen Leuten im Dorf sind die Opfer solcher Angriffe fremder als die Täter." Es gehe um soziale Nähe.

Ein anderes Problem sei laut Brasch, dass es im Dorfkontext nur wenig Widerrede gäbe. Keiner will "Nestbeschmutzer" sein und das Dorf in eine rechte Ecke rücken, denn dann kommen die Journalisten und mit ihnen der Ärger. Andersdenkende, Alternative und Linke, aber auch Homosexuelle, ziehen also eher weg, erklärt Brasch: "Man hat in diesen kleinen Orten in Hessen eine starke soziale Dichte, aber eine räumliche Weite. Man muss mit den Leuten Kontakt halten, politische Konflikte müssten auf der persönlichen Ebene ausgetragen werden." Auch einige meiner Bekannten sind weggezogen. Nach Marburg und Kassel. Oder gleich nach Berlin und München. Ich auch. Einer, der gerade in Kassel Philosophie studiert, beschreibt es so:

"Es herrscht ein eher angepasstes Klima, es gibt wenig unterschiedliche Interessen. Hier ist schon alles sehr trocken, nüchtern-deutsch, würde ich sagen. Man spricht sich ja auch nicht auf der Straße an. Meine Eltern wohnen seit 30 Jahren hier und sind immer noch die Zugezogenen. Gefährlich wird es, wenn Leute dieser Idee von einem Volk nicht mehr abgeneigt sind und dass in diesem Volk manche Gruppen keinen Platz finden."

Schaut man sich den Verfassungsschutzbericht an, findet man in Hessen keine großen Auffälligkeiten, weder was die Zahl rassistischer oder rechtsextremer Straftaten angeht noch wie viele Leute eigentlich aktuell beobachtet werden. Der Hauptverdächtige im Fall Lübcke, Stephan E., wurde allerdings seit fünf Jahren nicht mehr als Extremist eingestuft, weil er unauffällig war, stand also nicht mehr unter Beobachtung und taucht daher auch nicht in den Zahlen auf.

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"Man braucht in den hessischen Dörfern keine Kameradschaftsstruktur", sagt Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen, da sei die rechte Hegemonie so stark, dass sich Neonazis frei bewegen können. "Die Frage ist ja auch immer: Wie sieht so ein Neonazi aus? Das sind Familienväter und Mütter, die haben Kinder, am Grundstück ihrer Eltern angebaut, die sitzen abends in den Kneipen."

Die Mitte Deutschlands war nie neonazifrei

"Politische Gruppierungen überdauern Systeme und Katastrophen", hat der Frankfurter Philosoph Adorno 1967 bei einem Vortrag über die Aspekte des neuen Rechtsradikalismus gesagt, "alte nationalsozialistische Zentren wie Nordhessen" scheinen "besonders anfällig zu sein". Ein Jahr vorher war die NPD in den hessischen Landtag eingezogen.

Die Mitte Deutschlands war nie neonazifrei. Das müssen wir sehen. Und darüber sprechen. Es geht auch im Mordfall Lübcke nicht um Einzeltäter, sondern um gut vernetzte Rechtsterroristen, die immer wieder Mordlisten erstellen oder Anwältinnen bedrohen, Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Etwas Gutes habe der Fall in meiner alten Heimat ausgelöst, erzählt der Vater eines Klassenkameraden aus Grundschulzeiten: An vielen Schulen werde jetzt mehr darüber gesprochen, was das Fundament einer Demokratie ausmacht, die unterschiedliche Meinungen aushält, die kompromissbereit ist.

Wo Menschen abdriften, fehlt oft der Dialog. Frontalvorträge von Rechtspopulisten der AfD reißen die mit, die sich selbst lieber zurücklehnen, aber erst im Gespräch kommen Menschen wirklich weiter. Den Versuch, solche Gespräche anzuregen, hat die Initiative "Nach dem Rechten sehen" zuletzt in Kassel gestartet und ein Festival für Aufklärung organisiert. Ein Anfang. Davon brauchen wir mehr.

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