Wie es ist, in einem Geisterhaus aufzuwachsen
Sarah und ihre Schwestern. Foto: Sarah Waldron

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Wie es ist, in einem Geisterhaus aufzuwachsen

Alles hat sich verändert, als meine Schwester anfing, den "Jungen in Blau" zu sehen.

In der Literatur gibt es den unzuverlässigen Erzähler schon seit Hunderten von Jahren. Im wahren Leben gab es ihn schon immer. Wir sind alle unzuverlässige Erzähler, auch wenn wir die besten Absichten haben. Wir erinnern uns falsch an unser Leben. Wir übertreiben, wir schmücken aus und wir halluzinieren. Als Kind bewahrt uns unsere Unreife davor, Ereignisse korrekt zu deuten oder das glauben wir zumindest. Vielleicht lässt sie uns Ereignisse aber auch genau so sehen, wie sie sind. Das solltest du immer im Hinterkopf behalten, während du diese Geschichte liest.

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Ich bin in einem Geisterhaus aufgewachsen. Glaube ich.

Ich komme aus Tralee, einer kleinen Stadt an der zerklüfteten Küsten des südwestlichsten Rands von Irland. Durch eine unglückliche Mischung aus atmosphärischen Fronten, Tälern und Bergen ist es in meiner Heimatstadt etwa drei Viertel des Jahres bewölkt und regnerisch. Am bekanntesten ist vermutlich der alljährlich stattfindende Schönheitswettbewerb The Rose of Tralee. Ansonsten gibt es eigentlich nur uns und den atlantischen Ozean. Vor rund 600 Jahren existierte dort, wo heute Tralee ist, eine erste Siedlung. Allerdings wurde die Stadt im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder teilweise oder komplett platt gemacht. Die Folge: Die ältesten Gebäude hier sind gerade mal 200 Jahre alt.

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In eines dieser vergleichsweise alten Häuser – einem dreistöckigen Gebäude mit fünf Schlafzimmern und einer gelb gestrichenen Fassade – sind meine Familie und ich eingezogen, als ich sieben Jahre alt war. Meine beiden jüngeren Schwestern Mary und Iseult waren damals fünf und drei.

Unser vorheriges Haus war winzig. Am Anfang teilten wir uns ein Zimmer von der Größe eines Schranks, mit einem schmalen Gang, der unser Stockbett von dem Gitterbett meiner jüngsten Schwester trennte. Durch die beengten Verhältnisse entwickelten wir eine ziemlich enge Beziehung, die selbst für Geschwister ungewöhnlich war. Wir wussten alles voneinander: Mary, eine Schauspielerin und Quasselstrippe, wie sie im Buche steht, die starke und furchtlose Iseult, die so gut wie nie weinte und ich, die Vorsichtige und Übersensible. Obwohl wir uns charakterlich wie Äpfel und Birnen glichen, hatten wir immer ein gemeinsames Ziel: möglichst viel Unsinn machen.

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Wir hockten uns mit einer Decke oben an die Treppe und zogen uns abwechselnd nach unten, rutschten über das Geländer, hängten uns an Türrahmen oder sprangen auf den Betten herum, bis die Sprungfedern der Matratze nachgaben. Dabei kam auch oft die Decke runter, sodass das sauber bezogene Doppelbett meiner Eltern regelmäßig mit jahrzehntealter Farbe, Putz und Bruchstücken des Deckenfries bedeckt war.


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Von Marys Zimmer im oberen Stockwerk aus, warfen wir auch oft die Schuhe der anderen aus dem Fenster, die schließlich in der Regenrinne oder auf dem Dach des Nachbarhauses landeten. Unseren Eltern haben wir nie erzählt, was mit den Schuhen passiert ist. Nach einiger Zeit begannen sich die einzelnen Schuhe neben unseren Kleiderschränken zu türmen, weil wir natürlich immer nur einen von beiden aus dem Fenster katapultierten.

Wir prügelten und kratzten uns und wir schrieen in die ehemalige Stille hinein, die mit uns ein jähes Ende gefunden hatte.

Obwohl wir irgendwann unsere eigenen Zimmer hatten, schliefen wir noch immer oft zusammen. Manchmal kam unsere Großmutter Maureen zu uns, um auf uns aufzupassen. Sie erzählte uns immer von den Vorzeichen des Todes. Die singende Todesfee, die den Tod eines Familienmitglieds ankündigte. Oder die Geschichte des anklopfenden Todes, nach der jemandem unmittelbar der Tod bevorsteht, wenn es dreimal laut an die Tür klopft, aber niemand zu sehen ist.

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Ich hob Kindergräber im Garten aus, als hätte es mir eine körperlose Stimme aufgetragen.

Meine Oma war eine spezielle Frau. Sie wusste, wie man störrische, kleine Kinder davon abhält, nachts aus ihren Betten aufzustehen: man musste ihnen einfach nur eine Todesangst machen. Maureen war eine fromme Katholikin und ihr Glaube an ein Leben nach dem Tod und die übernatürlichen Kräfte von Heiligen zogen sich auch durch ihre Geschichten. Durch sie waren wir schon nahezu prädestiniert dazu, an Geister zu glauben.

Eines Tages waren wir schließlich fest davon überzeugt, dass es in unserem Haus spuken würde. Normalerweise hätten wir uns einen großen Spaß daraus gemacht, uns Geistergeschichten erzählt, an Türknäufen gerüttelt oder uns gegenseitig erschreckt. Doch dann durchbohrten unerklärliche Geräusche die Nacht. Gegenstände bewegten sich ohne unser Zutun. Ich hob Kindergräber im Garten aus, als hätte es mir eine körperlose Stimme aufgetragen. Und Mary begann, den "Jungen in Blau" zu sehen.

Vor unserem Einzug wurde das Haus von einem Mann bewohnt, dessen Name noch immer in die rote Ziegelwand an der Grenze unseres Vorgarten eingeritzt ist. Uns wurde erzählt – oder wir haben uns erzählt –, dass dieser Mann Geschwister hätte, die in dem Haus verstorben wären und ihre Geister noch immer hier wohnen würden. Damals sah unser Haus noch genauso so aus wie früher. Alles knarrte und war von Holzwürmern befallen, mit staubigen Winkeln und wackligen Dielen.

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Das Wohnzimmer war im Erdgeschoss, neben einem schmalen Gang, der zur Speisekammer führte. In der Speisekammer gab es eine kleine Durchreiche zum Esszimmer, die mit dem alten Kram des Vorbesitzers voll gestellt war: Fotos, Zeitungen und verstaubte Gemälde und Zeichnungen. Über der Küchentür hingen noch die Glocken, über die sich die längst verstorbenen Damen des Hauses früher bemerkbar machen konnten, wenn sie etwas brauchten. Weil die Mechanik schon lange vor unserem Einzug stillgelegt worden war, waren sie längst verstummt. Manchmal konnte ich aber aus dem Augenwinkel sehen, wie sie sich tonlos bewegten.

Im Nachhinein betrachtet, waren wir Kinder vielleicht auch einfach mehr als bereit dazu, an übernatürliche Geschehnisse zu glauben. Es war ein starkes Rauschmittel, das immer morbidere Formen annahm. Unser Garten war damals noch vollkommen verwuchert und die Apfel- und Birnbäume von allem möglichen Gestrüpp umrankt: Bärenklau, Traubenkraut und wild wucherndem Knöterich, der aussieht wie Bambus, aber nicht annähernd so angenehm ist. Meist schlug ich mir eine Schneise durch das Gestrüpp, um zu einem kleinen, geschützten Platz im hinteren Teil des Gartens zu kommen, wo sich die Glockenblumen ausbreiteten.

Gestützt durch unsere Geistergeschichten und wahrscheinlich auch motiviert durch eine gesunde Dosis katholische Erziehung, baute ich dort kleine Grabsteine, damit die toten Kinder in meiner Vorstellung endlich Frieden finden konnte. Als der Garten neu gestaltet, geplättet und eine Schaukel aufgestellt wurde, war ich zu Tode betrübt. Ich dachte, die Geister würden dadurch gestört. (Wenn du glaubst, dass ich damals das seltsame Kind in der Schule war, dann hast du recht.)

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Das war der Moment, in dem auch die Geräusche anfingen.

Schließlich wurde das ganze Haus renoviert. Das Erdgeschoss wurde komplett entkernt und neu gestaltet. Die Speisekammer verschwand und die Glocken flogen in den Müll. Das war der Moment, in dem auch die Geräusche anfingen. Wenn wir in der Küche waren, hörten wir Menschen über die Treppe laufen und gedämpfte Gespräche über unseren Köpfen. Wenn ich allein war, öffneten oder schlossen sich Türen von alleine. Und in dem Gang, der zur Küche führte, war es meist so kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte, selbst wenn der Rest des Hauses beheizt war. Außerdem hatten zwei meiner Freundinnen, die nach einander bei mir übernachteten, eine Panikattacke und sprachen anschließend beide von demselben Gefühl der Furcht, so als wäre ihr Brustkorb eingeschnürt.

Als Mary zehn Jahr alt war, sah sie in der Reflexion ihres GameBoys einen kleinen, blonden Jungen in einem blauen Schlafanzug, der ihr über die Schulter schaute. Es war der "Junge in Blau" und er war gekommen, um sich ihren Highscore bei Super Mario anzusehen. Sie rannte vollkommen hysterisch nach unten, doch meine Mutter versicherte ihr, dass es nur eine optische Täuschung gewesen sei. Ein andermal wachte sie mitten in der Nacht auf und konnte beobachten, wie sich ein feiner Nebel über ihrem Bett bildete. Dann sah sie einen schwebenden Kopf, der zu einem Mann in einer Militäruniform gehörte.

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Kurz danach hörten wir auf, in ihrem Zimmer zu spielen. Meine Großmutter wurde eingeschaltet, die einen Priester anrief, um unser Haus zu segnen. Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, aber laut meiner Mutter hätte ich "Das ist dann wohl das Ende der Geister!" gerufen, als der Priester mit einer Flasche Weihwasser in der Hand wieder verschwand.


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Psychologen sagen, dass es sich bei derartigen Erscheinungen um Kollektivhalluzinationen handelt, die durch Wunschdenken und gemeinsame Gedächtnislücken entstehen. Das und der Begriff der kollektiven weiblichen Hysterie (von dem griechischen Wort hystera, was so viel bedeutet wie "Uterus") wurde immer wieder dazu verwendet, um übernatürliche Erscheinungen zu erklären – von Poltergeistern bis hin zu den Hexenprozessen von Salem. Doch auch Menschen, die nichts von unseren Geschichten wussten, haben während ihres Besuchs von ähnlichen Erfahrungen berichtet. Eine Reihe entsetzter Ex-Freunde kann das bestätigen: Türen, die sich öffnen, während man miteinander rummacht oder Geister, die an die Badezimmertür klopfen, obwohl man eigentlich nur in Ruhe pinkeln wollte.

"Von der Sekunde an, in der man ein Ereignis über ein anderes stellt, formt man damit die Bedeutung der Vergangenheit", schrieb die Biografin Mary Karr mal über ihre eigenen Erinnerungen. Um einen Familienmythos zu erschaffen, habe ich in meiner Geschichte ebenfalls das Eine ausgelassen und das Andere erzählt: dass meine Großmutter glaubte, dass der Tod wortwörtlich anklopfen würde und meine Mutter beobachten konnte, wie panisch sie reagierte, als sie eines Nachts die Tür öffnete und niemanden sehen konnte. Dass meine Mutter nicht unbedingt so entspannt geblieben ist, weil sie uns nicht glaubte, sondern weil sie vielmehr glauben wollte, dass unser Haus ein glückliches Zuhause war. Dass wir uns alle anders an Geschichten erinnern und dass sich Iseult an nichts von alledem erinnert.

Dass ich knapp zwei Jahrzehnte, nachdem der "Junge in Blau" vor Mary erschienen war, die Badezimmertür geöffnet habe und für einen Bruchteil von einer Sekunde einen kleinen blonden Jungen im Schlafanzug vor mir sah.

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Doch selbst als ich älter wurde und wir alle auszogen (ich nach London, Mary nach Dublin und Iseult nach Melbourne), als mein Glaube an Gott schwächer wurde und schließlich ganz verschwand und ich akzeptierte, dass es keine Geister gab, passierten in unserem Haus noch immer merkwürdige Dinge. Als Teenager und Erwachsener habe ich mich daran gewöhnt und habe es damit begründet, dass es ein altes Haus war. Manche Häuser haben schiefe Böden oder undichte Rohre und unseres lässt dich eben an deinem Verstand oder an deinen eigenen Augen zweifeln.

Gelegentlich passiert es mir immer noch, dass ich allein zu Hause in der Küche stehe, um Tee zu kochen und sich über mir jemand bewegt.

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