Aufwachsen mit einer alleinerziehenden Mutter

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Aufwachsen mit einer alleinerziehenden Mutter

Wenn es um ihre Kinder geht, dann ist meine Mutter eine Löwin. Sie investiert Nerven und Zeit, verteidigt, beschützt, kämpft mit und für uns. Und steckt dabei oft selbst zurück.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Printversion der 'Liga', dem Magazin der österreichischen Liga für Menschenrechte.

Meine Mutter mag kein gesundes Essen. Das wussten mein Bruder und ich nicht, bis wir mit der Schule fertig waren und ausgezogen sind. Stattdessen haben wir als Kinder selbst Kresse angepflanzt, zwischendurch gab es Sojasprossen oder Mais, an Ostern haben wir statt Eiern Mangos gesucht.

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Abends, wenn wir am Esstisch gesessen sind und meine Mutter etwas Gesundes gekocht hatte, war sie oft einfach nicht hungrig. Weil sie, als wir in der Schule waren, eine Pizza oder einfach nur ein Brot mit Käse gegessen hatte. Weil sie Brot mit Käse und Mayonnaise liebt und Gemüse nicht.

Als sie mir das endlich (und ganz nebenbei) erzählte, war ich schon um die 20. Sie wusste, dass sie meinem Bruder und mir nichts mehr vormachen musste – wir waren erwachsen und hatten nun die Essgewohnheiten übernommen, die sie uns all die Jahre als die ihren vorgespielt hatte. Nach 20 Jahren konnte sie wieder sie selbst sein.

Meine Mutter war 24, als ich, 26, als mein Bruder zur Welt kam. Sie wollte immer schon selbst Kinder haben, war sehr lange Einzelkind und erzählt immer wieder, wie sie sich früher geschworen hatte: "Die Kinder müssen in der Mehrheit sein, um sich gegen ihre Eltern wehren zu können." Eine Zeit lang waren wir zwei und zwei – zwei Eltern, zwei Kinder –, aber eigentlich waren wir Kinder sehr früh in der Mehrheit. Auch, als meine Eltern noch verheiratet waren. Wir waren immer schon ein unzerstörbarer Kern aus drei Personen.

Eine Zeit lang waren wir zwei und zwei – zwei Eltern, zwei Kinder –, aber eigentlich waren wir Kinder sehr früh in der Mehrheit.

Zum Einschlafen hat uns unsere Mutter Lieder der Beatles vorgesungen, sie hat mit uns Höhlen aus Decken und Kissen gebaut und uns darin Geschichten von Pippi Langstrumpf vorgelesen, in denen Pippi ihre Kraft für Gutes einsetzt; oder auch Geschichten von Räubern und Dieben, Rittern und mutigen Schulkindern.

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Geschichten von Menschen, die sich gegen alles behaupten und Geschichten vom kleinen Tiger und kleinen Bären, die füreinander da waren. Auch, wenn dem Tiger ein Streifen verrutscht war. Mein Bruder und ich haben das übernommen. Sich einsetzen für die, die Hilfe brauchen. Und: zusammenhalten. Immer.

Meine Mutter ist mit uns zuhause geblieben, auf Kindergeburtstage gegangen, sie hat meinem Bruder nachts die Hände verbunden, weil er sie sich wegen seiner Neurodermitis blutig gekratzt hatte. Mein Vater war währenddessen arbeiten. Wenn er daheim war, war er oft so erschöpft, dass er nur wenig Nerven für uns hatte.

Ich liebe meinen Vater und ich finde viel von ihm in meinem Bruder und mir wieder. Ich habe auch unzählige wunderbare Erinnerungen an meine Kindheit, in der er uns in die Luft geworfen oder erfundene Geschichten über Till Eulenspiegel erzählt hat. Auch heute kann ich mit ihm über alles reden. Er ist ein unglaublich intelligenter, interessanter und sympathischer Mensch, mit dem ich über Politik, Musik und Bücher diskutieren kann – mit unserer Erziehung hatte er aber nur wenig zu tun. Als ich 12 war, ließen sich meine Eltern scheiden. Alleine war meine Mutter mit uns Kindern schon lange davor.

Mein kleiner Bruder und ich.

Ihr Vater hatte ihr einmal gesagt, sie bräuchte keine Matura, also hatte sie keine – und Ende 30 stand sie dann alleine da, mit zwei Kindern, keinem Mann und keiner Arbeit, weil sie in ihren ursprünglichen Beruf nicht mehr zurück konnte. Also machte sie die Matura nach, wurde in Mindeststudienzeit zur Magistra, pendelte teilweise zwischen Salzburg und Innsbruck hin und her, arbeitete, studierte, stellte uns abends Essen auf den Tisch, ging in die Schule, wenn Lehrer mit ihr über uns Kinder sprechen wollten und machte mit uns die Hausaufgaben, die wir nicht verstanden.

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Sie hörte zu, wenn ich weinte, weil ich mit meinem ersten Freund gestritten hatte. Und beim zweiten und dritten tat sie es mit genau so viel Geduld, Nerven und aufrichtigem Interesse. Sie war da, wenn uns Kindern alles zu viel wurde und zeigte nie, wenn auch einmal bei ihr alles zu viel war. Und das war es teilweise.

Meine Mutter ist eine blonde, große, strahlende Erscheinung, fröhlich, optimistisch, mit strahlenden grünen Augen. Wenn es um ihre Kinder geht, dann ist sie eine Löwin. Sie gibt nie auf, investiert Nerven und Zeit, verteidigt, beschützt und kämpft mit uns. Und steckt dabei oft selbst zurück. Sie sagt, dass sie etwas nicht braucht, weil sie weiß, dass wir Kinder es gerne hätten; sagt, sie habe Zeit, etwas zu erledigen, auch wenn es nicht stimmt, weil sie weiß, dass es uns Kindern eine Hilfe wäre. Und sie würde jetzt sagen, all das sei selbstverständlich. Und genau das macht sie zu dem wunderbaren Menschen, der sie ist.

Meine Mutter hat uns nicht wissen lassen, wenn es eng wurde.

Doch alleinerziehend zu sein, heißt immer auch zurückstecken zu müssen. Laut Statistik Austria sind 14,1 Prozent der österreichischen Bevölkerung von Armut betroffen, das sind 1.185.000 Menschen. Alleinlebende Frauen, Familien mit vielen Kindern und Alleinerziehende sind besonders armutsgefährdet. 2014 lebten in Österreich 110.000 Familien mit nur einem Elternteil, 93 Prozent davon von Frauen geführte Haushalte.

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Das Österreichische Institut für Familienforschung an der Universität Wien (ÖIF) errechnete 2014, dass 30,8 Prozent der Personen, die als Kind oder als Elternteil in einem solchen Haushalt leben, armutsgefährdet seien. Alleinerziehende und ihre Kinder sind im Alltag häufig von materieller Deprivation betroffen. Nur die Hälfte der Alleinerziehenden kann sich eine Woche Urlaub im Jahr leisten, 23 Prozent können sich keine neue Kleidung und 10 Prozent nicht einmal das ausreichende Heizen der Wohnung leisten.

Wir hatten zu dritt zwar nicht viel Geld, mein Vater hat uns finanziell aber immer unterstützt. Einschnitte wie Verzicht auf Kleidung und Heizen gab es bei uns also nie. Meine Mutter hat uns nicht wissen lassen, wenn es eng wurde. Auch dann nicht, wenn sie Geld ausgeben musste, das sie zu diesem Zeitpunkt nicht hatte.

Ich erinnere mich an ein einziges Mal, als ich Teenager war, dass sie mir erzählte, wie knapp es gerade wäre. Ich habe Angst bekommen damals, wusste nicht, was ich tun könnte. Ich glaube, dass meine Mutter das gemerkt hat. Aber alleinerziehend zu sein bedeutet eben auch, niemanden zu haben, mit dem man sich über solche Dinge den Kopf zerbrechen kann. Niemanden zu haben, mit dem man sich Verantwortung und Aufgaben teilen kann, niemanden, der einmal zwei Tage auf die Kinder aufpassen kann oder der einkaufen geht, bis man von der Arbeit heimkommt.

Alleinerziehend zu sein bedeutet eben auch, niemanden zu haben, mit dem man sich Verantwortung und Aufgaben teilen kann, niemanden, der einfach mal einkaufen geht, bis man von der Arbeit heimkommt.

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Heute reden wir über alles wie Freundinnen – Gleichberechtigte, die sich gegenseitig bei Problemen helfen. Wir sind zusammen gewachsen, mein Bruder, meine Mutter und ich. Wir haben zusammen geweint, wir waren füreinander da, haben zusammen Pläne geschmiedet, wenn einer nicht wusste, wie es im Leben weitergehen soll und zusammen überlegt, wenn einer vor einer wichtigen Entscheidung stand.

Wir haben so viele Witze, die nur wir drei verstehen und so viele Erinnerungen, die ich nicht nur nicht vergessen, sondern die ich auch irgendwann meinen eigenen Kindern erzählen möchte. Dass wir als Familie so eng zusammengewachsen sind, ist ein großer Verdienst meiner Mutter, die neben allem anderen immer auch darauf bedacht war, meinem Bruder und mir zu vermitteln, wie wichtig Geschwister füreinander sind und wie schön Familie und Zusammenhalt sein kann.

Obwohl es für meine Mutter oft schwierig war, oder vielleicht gerade deswegen, haben wir von ihr immer gesagt bekommen, wie schön es ist, Kinder zu haben. Wie bereichernd jeder gemeinsame Schritt ist, jede Grenzerfahrung, jedes gemeinsame Lachen. Ja, ohne Kinder hätte sie es manchmal vielleicht leichter gehabt, aber es wäre auch langweilig gewesen, leer, sagt sie.

Manchmal ist es einschüchternd, selbst an Kinder zu denken, weil ich mir nicht vorstellen kann, das alles jemals auch so meistern zu können wie sie. Aber wir sind alle nicht unfehlbar. Das zu akzeptieren ist Familie. Und heute, wo wir alle Gleichberechtigte sind, ist es nicht mehr nur unsere Mutter, die für uns kämpft, wir sind alle zu Löwen geworden, die füreinander alles tun würden.

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