Die deutsche YouTube-Szene und der Fall Gina-Lisa haben es uns in diesem Jahr noch einmal besonders prägnant vor Augen geführt: Sexismus ist auch noch anno 2016 salonfähig, die Gleichstellung der Geschlechter noch immer eine unserer größten gesamtgesellschaftlichen und politischen Herausforderungen.
Mit der Chanchengleichheit ist es nicht weit her. Stattdessen ist das persönliche und berufliche Entfaltungspotenzial in unserer Gesellschaft in vielen Fällen immer noch stark davon abhängig, zu welchem Geschlecht man gehört.
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Diese Diskriminierung manifestiert sich nicht zuletzt über die Sprache, in der wir tagtäglich miteinander kommunizieren. Die Pädagogin Johanna Müller beschäftigt sich seit dem Verfassen ihrer Masterarbeit mit der sogenannten gendergerechten Sprache. Diese soll nicht nur dazu beitragen, dass eine Gleichstellung der Geschlechter auf sprachlicher Ebene zum Ausdruck gebracht wird, sie kann auch Denkprozesse bei jedem Einzelnen von uns anstoßen—individuelle Reflektionen, die notwendig sind, damit Gleichstellung kein politisches und juristisches Schlagwort bleibt, sondern Menschen tatsächlich beginnen, sich mit der gesellschaftlichen Notwendigkeit von Gleichberechtigung auseinanderzusetzen.
In einem großen Heavy-Metal-Forum wurde Johannas Adresse samt eines Fotos von ihr veröffentlicht.
Da genderneutrale Sprache aber oft umständlich und wenig ästhetisch ist, wird sie nicht nur von militanten Kritikern der Genderbewegung abgelehnt, sondern auch von Menschen, die Gleichberechtigungsbestrebungen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen.
Um es zu ermöglichen, eine gendergerechte Sprache so zu benutzen, dass sie auch elegant klingt und nicht als sprachlich störend empfunden wird, hat Johanna Müller im Februar 2015 ihr Online-Wörterbuch geschickt-gendern.de veröffentlicht. Es soll „als Inspiration” für alle jene dienen, die gendergerecht formulieren wollen oder müssen (z.B. weil es im Beruf von ihnen verlangt wird).
Tatsächlich wird das Wörterbuch bis heute von vielen dieser Menschen benutzt und durch regelmäßige Einsendungen neuer Wortvorschläge kontinuierlich ausgebaut. Gleichzeitig wird Johanna seit dem Launch von geschickt-gendern.de kontinuierlich aus verschiedenen gesellschaftlichen Lagern heraus angefeindet und beleidigt.
Während sich beispielsweise ein Blog, das den Feminismus pauschal als „menschenfeindlich” abtut und Gastautoren zum Thema „Genderwahn” sucht, nur über das Wörterbuch lustig macht, empfiehlt eine der Reichsbürgerbewegung nahestehende Website, es um den Eintrag „Idiot => Gendernde” zu erweitern. Weniger zurückhaltend sind da die Menschen, die Johanna beleidigende Nachrichten über das Kontaktformular des Wörterbuchs zukommen lassen. Im Schutz der Anonymität von erdachten Nutzernamen wie „Minister Mittelmaas” schleudern sie mit Schimpfworten wie „geisteskranke Fotzen”, „Schwachbratze” oder „Bekloppter” um sich.
In einem großen Heavy-Metal-Forum wurde gar Johannas Adresse samt eines Fotos von ihr unter dem Titel „In Kiel wohnen nur Verrückte” veröffentlicht. Sie sah sich daraufhin veranlasst, ihre Telefonnummer aus dem Impressum des Wörterbuchs zu löschen und erstattete bei Anzeige bei der Polizei.
„In einigen Bundesländern ist es bei Ämtern und Behörden gesetzlich vorgeschrieben, geschlechtsneutral zu formulieren. Dabei hat praktisch jede Institution ihren eigenen Ratgeber für das Benutzen genderneutraler Sprache, obwohl alle vor denselben Herausforderungen stehen.”
Auffällig sind aber nicht nur die persönlichen Anfeindungen und Beleidigungen, sondern auch, dass sich unter der negativen Kritik höchst selten ein konstruktiver Vorschlag befindet. Während sich in vielen Blogs und Forendiskussionen an einzelnen Formulierungen des Wörterbuchs gestoßen wird und diese absichtlich ins Absurde getrieben werden, nutzen andere ihr Pseudo-Feedback an Johanna auch gleich, um ihrem Ärger über „Lügenpresse” und „Gutmenschen” Luft zu verschaffen.
Wir haben mit Johanna darüber gesprochen, wie überrascht und ratlos sie angesichts der undifferenzierten und unsachlichen Reaktionen auf das Wörterbuch ist, mit dem sie eigentlich längst überfällige Lösungsvorschläge für ein politisches Problem liefert.
Hallo Johanna, du sagst, dein Online-Wörterbuch für genderneutrale Sprache erhitzt bereits seit anderthalb Jahren die Gemüter, und es hagelt unsachliche und beleidigende Kommentare. Warum entscheidest du dich gerade jetzt, öffentlich darüber zu sprechen? Ist irgendetwas Bestimmtes vorgefallen?
Nein, eigentlich nicht. Ich sehe mich aber mit diesen Diskussionen und beleidigenden Äußerungen immer wieder aufs Neue konfrontiert. Ich verstehe nicht, warum Menschen so emotional und unsachlich auf dieses Thema reagieren und frage mich, wie ich damit umgehen soll. Mit dem Artikel auf Zebrabutter habe ich jetzt quasi laut über das Problem nachgedacht.
Es ist so, dass ich schon kurz nachdem ich das Projekt gestartet hatte, über Bekannte, die es in ihrem Bekanntenkreis geteilt haben, von negativen Reaktionen gehört habe. Ich habe mich schon damals gefragt, warum die Leute, denen meine Website nicht zusagt, sie nicht einfach ignorieren können.
Welches ist denn der Hauptkritikpunkt an deinem Wörterbuch und wie wird die Kritik an dich herangetragen?
Es erreichen mich viele Einsendungen über das Formular auf der Website. Ich sehe aber auch, wie sich Leute auf Facebook negativ über das Wörterbuch auslassen. Manche nehmen sich sogar die Zeit, einen ausführlichen Eintrag auf ihrem eigenen Blog zu verfassen. Viele Dinge lese ich nicht genau, um mich persönlich zu schützen und Beleidigungen nicht an mich heranzulassen. Viele Leute werfen dem Wörterbuch vor, es würde versuchen, sie und ihre Sprache zu manipulieren. Dabei bleibt es ja allen selbst überlassen, das Wörterbuch zu nutzen oder auch nicht.
„Ich helfe Leuten dabei, wie sie es machen können, ich zwinge sie nicht, dass sie es tun”
Wer soll denn deiner Meinung nach von diesem Wörterbuch profitieren?
Gerichtet ist es in erster Linie an Menschen, die in ihrem Beruf täglich mit genderneutraler Sprache arbeiten müssen oder es wichtig finden, gendergerechte Sprache anzuwenden. In einigen Bundesländern ist es bei Ämtern und Behörden gesetzlich vorgeschrieben, geschlechtsneutral zu formulieren. Dabei hat praktisch jede Institution ihren eigenen Ratgeber für das Benutzen genderneutraler Sprache, obwohl alle vor denselben Herausforderungen stehen. Ich dachte deshalb, dass eine zentrale Datenbank für alle sehr sinnvoll wäre. Das Wörterbuch stößt bei dieser Zielgruppe auf sehr große Resonanz und Dankbarkeit und ich bekomme viele Einsendungen mit konstruktiven Wortvorschlägen, die fast alle in das Wörterbuch einfließen. Mit dieser Hilfe ist das Wörterbuch schnell von 150 auf 500 Einträge gewachsen.
Hat dein Wörterbuch aber nicht dadurch, dass öffentliche Einrichtungen das Wörterbuch benutzen und einzelne Mitarbeiter selbst Vorschläge einreichen, schon eine gewisse Beeinflussungskraft?
Die reine Existenz des Wörterbuches zwingt niemanden, dieses zu benutzen. Ich bestimme ja nicht, dass in einer Institution gendergerechte Sprache angewendet werden soll. Ich stelle lediglich ein Instrument zur Verfügung, um gendergerecht zu formulieren. Vielen Leuten gefallen die gängigen Ausdrucksweisen gendergerechter Sprache (*innen, _innen, Innen, (innen), etc.) nicht, weil sie oft den Lesefluss stören und als unangenehm empfunden werden oder Texte sehr lang macht. Das Wörterbuch zeigt, wie es auch sprachlich ansprechend und lesbar geht.
Ich helfe Leuten dabei, wie sie es machen können, ich zwinge sie nicht, dass sie es tun. Es ist bei der genderneutralen Sprache genauso wie bei allen anderen Prozessen der Gleichstellung der Geschlechter ein Prozess, der gleichzeitig von oben und von unten angestoßen werden muss. Es ist wichtig, dass die Politik sich positioniert und ggf. auch rechtliche Vorgaben macht. Aber es wäre ein zu krasser Eingriff in unsere Persönlichkeitsrechte, wenn die Politik vorschreibt, gendergerechte Sprache immer und überall, auch im privaten Alltag, anzuwenden. Gleichzeitig ist auch eine Veränderung von unten wichtig. Nur wenn Menschen verstehen, warum gendergerechte Sprache einen Unterschied macht, werden sie bereit sein, diese zu benutzen.
Trotzdem lehnen viele Menschen deine Vorschläge noch immer rigoros ab—wie kann man diese Leute deiner Meinung nach trotzdem für gendergerechte Sprache begeistern?
Wie schon gesagt, will das Wörterbuch ja nicht missionieren. Ich denke aber, dass vieles auch einfach über die Alltagssprache funktioniert. Sprache ist ja nichts festgeschriebenes. Sprache entwickelt sich immer weiter und zwar oft aus der Alltagssprache heraus. Ein gutes Beispiel ist das genderneutrale Wort „Studierende”, das sich eigentlich schon ziemlich gut durchgesetzt hat. Viele benutzen es, ohne dass sie sich bewusst sind, dass sie gerade ein genderneutrales Wort benutzen.
Sollten also alle Menschen, die ein Interesse daran haben, dass sich genderneutrale Sprache durchsetzt, diese in ihre umgangssprachliche Ausdrucksweise integrieren?
Naja, natürlich wird niemand von morgens bis abends ausschließlich genderneutral reden. Das wäre schon ein ziemlich hoher Anspruch und bräuchte jahrelange Einübung. Auch ich merke, dass ich zum Beispiel im Beruf viel mehr darauf achte als im privaten Kontext. Aber ja, Sprache funktioniert so. Sie hat eine gewisse Macht und beeinflusst unser Denken, kann also Veränderungen bewirken. Das funktioniert auch mit genderneutralen Ausdrücken.
Andreas Kraß vom Berliner Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien hat einmal in einem Interview gesagt: „Die Geschlechtervielfalt stellt eine der letzten Gewissheiten des konservativ-bürgerlichen Lagers in Frage, und das löst Ängste aus.” Wie würdest du diese Aussage einschätzen, nachdem du nun von ziemlich vielen Leuten Widerstand gegen deine Bestrebungen erfahren hast?
Ich könnte mir schon vorstellen, dass diese These zutrifft, kann es aber nur vermuten. Mit Sicherheit haben die emotionalen Reaktionen auch etwas mit Angst zu tun, denn Sprache ist etwas Identitätsstiftendes. Vor allem gendergerechte Sprache kann tiefsitzende Rollenverständnisse erschüttern. Ich denke dabei an die Vorstellung, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt, oder daran, dass Männer nicht das starke Geschlecht sind und es deshalb ausreicht, Frauen einfach nur mitzumeinen.
Wieso hast du die drei Begriffe „AfD”, „Reichsbürger” und „Lügenpresse” in dem Blog-Artikel über die Beschimpfungen so deutlich hervorgehoben?