FYI.

This story is over 5 years old.

co-parenting

Diese Berner Kinder haben elf Väter und Mütter

Alle Erwachsenen in der WG sind für die Erziehung der sechs Kinder zuständig. Ein Besuch in einem Wohnkollektiv.
Alle Fotos von Klaus Petrus

Es ist kurz nach 07:00 Uhr an diesem Mittwoch. Laura sitzt mit ihren Töchtern Gianna und Annalena am Tisch und frühstückt. Kurz vor 08:00 Uhr schickt sie Noëlle, Zai, Gianna, Annalena und Noam in die Schule. Dann Alba in die Kita bringen, einkaufen, kochen. Laura, 42, ist aber nicht Mutter von sechs Kindern, sondern Bewohnerin eines Wohnkollektivs. Der Mittwoch ist ihr Kinderbetreuungstag. Nach dem Mittagessen mit den Kindern Hausaufgaben machen. Und nachmittags aufs Trampolin, in den Wald oder einen Kuchen backen, bevor Laura, die die restlichen Tage als Anwältin arbeitet, das Abendessen kocht. Gemüse schneiden, anbraten und würzen für die zehn Mitbewohner*innen und die sechs Kinder zwischen 3 und knapp 15 Jahren.

Anzeige

Laura wohnt am Rand von Kehrsatz, einem Dorf 13 S-Bahn-Minuten von Bern entfernt. Wo Laura lebt, ist Kehrsatz aber weniger Schweizer Durchschnittsagglo mit perfekt getrimmtem Rasen vor dem Haus und weissen Spitzenvorhängen hinter den Fenstern. Hier ist Kehrsatz vielmehr ein Experimentierfeld des Zusammenlebens mit einer Holzschaukel und Tomatenstauden vor dem Bauernhaus und einem markanten Holztisch hinter den Fenstern. Früher war hier der Stall, inzwischen ist er zum Gemeinschaftsraum umgebaut. Neben der Haustüre steht ein Briefkasten für alle, "Wohnbaugenossenschaft Schrägwinkel", innen werden die Briefe auf alle Fächer verteilt: Post für vier Mütter, zwei Väter, fünf Erwachsene ohne Kinder sowie sechs Kinder. Die beiden Kinder, bei denen nur die Mutter hier wohnt, sind regelmässig auch bei ihrem Vater.

"Man wechselt von WG zu WG. Ich hatte das Gefühl, dass ich auf Dauer nicht so leben möchte. Ich wollte nicht eines Tages merken, dass es nirgends mehr passt, dass in den WGs alle immer jünger werden – und am Schluss bin ich alleine in einer Wohnung." Als Mutter eines Neugeborenen unterschieden sich ihre Bedürfnisse von denen ihrer früheren Mitbewohner*innen. Diese hatten einen anderen Rhythmus. Als ihr Partner André zusammen mit Freundinnen und Freunden nach jahrelanger Suche ein Bauernhaus fand, das sie gemeinsam umbauen wollten, entschied sich Laura, auch einzuziehen. Unter der Bedingung eines Betreuungsplatzes für die gemeinsame Tochter Annalena. In Bern hatte Annalena einen Kita-Platz, in Kehrsatz übernahm eine der damaligen Mitbewohnerinnen die Betreuung. Seit sieben Jahren wohnt Laura also in einem Wohnkollektiv, das langfristig und verbindlich sein soll.

Anzeige

"Im besten Fall werden wir hier zusammen alt. Ich wollte weiterhin in einer WG wohnen, nicht mit dem Vater meiner Kinder zusammen, sondern dass die Töchter mal bei ihm sind und mal bei mir." Laura befasst sich als Anwältin unter anderem mit dem Familienrecht. Es erstaunt sie nicht, dass viele Beziehungen in die Brüche gehen: "Wir haben zu hohe Erwartungen an die eine Person, mit der wir zusammenleben. Die kann sie gar nicht erfüllen." Laura spricht von überladenen Beziehungen in der Kleinfamilie mit Eltern und Kindern, davon, dass der Partner alles erfüllen muss – die gemeinsame Kinderbetreuung, das Führen des Haushaltes, finanzielle Verpflichtungen, die Liebesbeziehung. Alles Gründe, warum Laura den Alltag lieber mit mehreren Kindern und Erwachsenen teilt, warum für sie Kinder nicht automatisch zur eigenen Wohnung führen, sondern zu einem dreistöckigen Bauernhaus und einem Nebengebäude mit Platz für ein Büro, eine Werkstatt, ein Massagezimmer, ein Webatelier und ein Dojo.

Von Montag bis Freitag ist täglich eine der Mütter oder einer der Väter zuständig für die Kinderbetreuung. Montags Mandy, dienstags Constantin, mittwochs Laura, donnerstags Samira, freitags André. So geht das Woche für Woche, ausser während der Schulferien. Geteilte Kinderbetreuung. Für den Haushalt gibt es einen Putzplan, fürs Abendessen einen Kochplan, für die Finanzen ein Konto für alle – gemeinsame Ökonomie heisst das in Kommunenkreisen –, alle zwei bis drei Wochen eine Sitzung, an der das Zusammenleben diskutiert wird. Auch Kindersitzungen wurden bereits einberufen: "Uns stört es, wenn wir über eure Spielsachen stolpern, uns stört es, wenn ihr im Gemeinschaftsraum herumschreit, uns stört es, dass ihr um den Tisch rennt, wenn wir noch am essen sind." Geteilte Kindererziehung.

Anzeige

Kurz vor 19:00 Uhr, der Tisch ist mit 16 Tellern gedeckt, die siebenjährigen Schulkolleginnen Gianna und Zai rennen mit Zauberstäben in der Hand vom Kamin herüber. Die Türe geht auf und Mandy kommt herein. "Mandy!", die neunjährige Annalena rennt herbei und umarmt ihre grosse Mitbewohnerin. Abendessen. Wo früher Kühe Heu wiederkäuten, sitzen nun fünf Kinder am langen Tisch und essen Hamburger, nach und nach stossen Erwachsene dazu. An der Küchentheke stehen Ratatouille, Ofenkartoffeln mit Raclettekäse und Salat bereit. "Darf ich noch ein Fleisch ohne Brot haben, Mandy?", fragt Annalena, die Tochter von Laura. "Frag das doch Laura!" Das gemeinsame Abendessen als Fixpunkt. Allerdings war dies am Anfang ein kurzer Moment. Die Kinder waren noch klein. Geschrei während des Essens, Stille nach dem Essen. Die Eltern sprangen damals gleich vom Tisch auf, um ihre Kinder ins Bett zu bringen – und danach vielleicht gleich selber liegen zu bleiben. Ein Frust für diejenigen ohne Kinder. Ausser Lärm hatten sie wenig vom Zusammenleben. Darum führte das Wohnkollektiv ein getrenntes Kinder- und Erwachsenenabendessen ein. Immer freitags Omelette oder Fischstäbchen für die Kinder, Wein und Gespräche für die Erwachsenen.


Auch auf VICE: Aufwachsen ohne Gender


Eine Pflicht zur Kinderbetreuung gibt es im Wohnkollektiv nicht. "Es gibt sicher eine Person, die meine Kinder nicht ins Bett bringt, wenn es nicht sein muss." Laura schmunzelt. Sie spricht von Timo, dem Mitbewohner, der von Anfang an gesagt hat, dass er bei der Kinderbetreuung nicht mitmachen will. Als das Wohnkollektiv noch keine Kita-Plätze im Dorf hatte und alle Erwachsenen bei der Kinderbetreuung mithalfen, baute er lieber das Haus um. Inzwischen hütet er die Kinder auch mal stundenweise, wenn niemand anderes Zeit hat. Daneben gibt es unter den Bewohner*innen ohne Kinder unterschiedliches Interesse an den Kindern: Manche übernehmen alltägliche Betreuungsaufgaben, andere machen Ausflüge oder kochen mit den Kindern. Eine nicht zu unterschätzende Unterstützung für die Eltern. Bei Gesprächen mit anderen Eltern merkt Laura, dass sie es weniger streng hat: "Nach der Arbeit musste ich nie die Kinder in der Kita abholen, einkaufen und dann Zuhause kochen. Das hat es einfach nicht gegeben. Und für andere berufstätige Mütter ist dies Alltag."

Anzeige

Der Alltag im Wohnkollektiv hat dafür andere Herausforderungen. Bin jetzt ich zuständig oder jemand anderes? Habe ich gerade etwas anderes gesagt, als die Eltern sagen würden? "Wenn keine andere erwachsene Person da ist, dann ist es klar: Dann bin ich zuständig und mache die Regeln. Aber wenn mehrere Erwachsene und die Eltern da sind, dann ist es manchmal unklar, wer etwas sagt. Und wenn mich das Verhalten eines Kindes nervt und ich das einer erwachsenen Person direkt sagen könnte, dann kann ich es auch dem Kind direkt sagen. Dann sind nicht die Eltern verantwortlich," sagt Laura. Konfliktlösung im Wohnkollektiv.

Läge auf dem gemeinsamen Konto inzwischen nicht ziemlich viel Geld, fände sich auch hier das Potenzial zum Konflikt. Wie unterschiedliche Bedürfnisse nicht zu Konflikten führen, wird im Wohnkollektiv häufig diskutiert. Das braucht Zeit, Nerven, Kompromissbereitschaft. Am Wochenende wollen die einen auf dem Sofa hängen, Zeitung lesen, Kaffee trinken oder Platten hören. Die anderen wollen einen riesigen Legoturm bauen. Und dies alles im Gemeinschaftsraum im ehemaligen Stall des Bauernhauses. Nach der jahrelangen Baustelle, auf der mehrere Mitbewohner arbeiteten und die Kinder die Wände mit Zeichnungen bemalten, gibt es nun im Nebengebäude zusätzlichen Platz. "Ich hätte gerne ein ruhiges Gemeinschaftszimmer mit einer Bibliothek und Sesseln. Ich möchte mich nicht in mein Zimmer zurückziehen müssen, wenn ich ein Buch oder die Zeitung lesen will. Dafür bin ich nicht hierher gezogen." Alle Bewohner*innen, auch die Kinder, haben ein eigenes Zimmer. Ein separates Wohnzimmer haben Laura, André und die beiden Töchter allerdings nicht: "Raum ist für mich eher Zeit, Qualitätszeit als Familie. Nach dem Abendessen sind wir häufig als Familie zusammen: Wie geht es euch? Wie war euer Tag? Wie war es in der Schule?"

Annalena erzählt dann davon, dass sie heute in der Schule wieder einmal gefragt worden sei, wie viele Geschwister sie denn habe: "Wir sind eben eine WG." In Kehrsatz dauert das WG-Leben lange, und es beginnt schon früh.

VICE auf Facebook und Instagram.