Popkultur

Haftbefehl ist der spießige Vorstadt-Daddy, den Deutschrap braucht

Auf Instagram heißt es beim Rapper jetzt: "Der Rasen müsste auch mal wieder gemäht werden."
Was macht Haftbefehl? Den Rasen vor seinem Vorstadt-Reihenhaus mähen.
Collage bestehend aus: Reihenhaus: imago images | photothek || Hecke + Himmel: imago images | blickwinkel ||

Haftbefehl: imago images | Martin Müller || Flügel: imago images | Westend61

Haftbefehl hat zugelegt, am Bauch, und zwar richtig. Gerade ist er mit seiner Familie im Strandurlaub, macht sich in seinen Instagram-Storys über seine Plauze lustig, fährt Autoscooter mit den Kindern, und beschwert sich über die Sterilität seines Beach-Ressorts.

Andere Rapper erfinden für jedes Album eine neue Variante ihrer Kunstfigur und etablieren sie mühsam in einer mehrmonatige Promophase über alle sozialen Kanäle. Seit Haftbefehl im Februar DWN angekündigt hat, sein erstes Solo-Album seit 2013, macht er in einer außergewöhnlichen Rolle Werbung dafür: als Vorstadt-Daddy.

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In Zeiten von frauenbegrapschenden Rappern aus Hamburg und Lidocain- und Tilidin-Trap-Berlinern wie Capital Bra ist der neue Haftbefehl damit vor allem eines: erfrischend öde. Haftbefehl aka Aykut Anhan aka der geläuterte alte weise Mann. Normalerweise erreichen Rapper diesen Status erst, sobald sich bei ihnen goldene Schallplatten stapeln und sie im Privatfernsehen Juroren für Castingshows werden. Wenn sie, wie Sido oder Kool Savas, nur noch die Nostalgie ihrer Fans bedienen, die in der Oldschool sitzen geblieben sind. Und nicht wenn – wie bei Haftbefehl – ganz Deutschland auf dieses Album hinfiebert.

Haftbefehl dreht jetzt Videos, in denen er sein Einfamilienhaus präsentiert oder die Spielzeug-Bagger seiner Kinder

Es gab mal eine Zeit, da wedelte Haftbefehl mit gesichtstätowierten Freunden in der "Halt die Fresse"-Reihe von Aggro.tv mit einer Panzerfaust herum: "Feier in Nobelclubs und die Kahbas, sie blow'n", hieß es damals. Heute heißt es: "Der Rasen müsste auch mal wieder gemäht werden." Haftbefehl dreht jetzt Videos, in denen er sein Einfamilienhaus präsentiert oder die Spielzeug-Bagger seiner Kinder im Sandkasten.

Partys, Drogen, Saufen? "Die Zeiten sind vorbei", sagt Haftbefehl in einer weiteren Instagram-Story aus seinem Strandurlaub Ende Juni. Er ist mittlerweile 33 Jahre alt und mehrfacher Vater. Und es ist wirklich herzerweichend, ihm dabei zuzusehen, wie er mit seiner Frau im Arm auf besoffen tut, lallt und torkelt, das natürlich nur imitiert, und sagt: "Scheiß auf Alkohol, Mann. Wir gehen ins Bett."

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Es gibt mittlerweile die erste Generation von Rappern, die erst Stars und dann alt wurden: Sido, Bushido – und jetzt: Haftbefehl. Und ist das nicht eigentlich etwas Schönes? Immerhin ist das, was alternde Rapper machen, immer noch besser als das, was mit alternden Rockstars passiert. Wer will die schon noch sehen? Immer wieder Abschlusstourneen, bis sie irgendwann an ihrem Gitarrenhals ersticken oder sich beim angedeuteten Stage-Dive die künstliche Hüfte verdrehen.

Die jahrelange Feierphase hat natürlich auch bei Haftbefehl Spuren hinterlassen. Besonders auf den Zähnen. Er raucht seit 20 Jahren, sagt er, müsste also mit 13 angefangen haben. Da sind die Zähne natürlich nicht mehr perlweiß, sondern eher wüstentarnfarben. Aber jetzt reicht’s ihm.

Haftbefehl Instagramstory zu Zähne aufhellen

Deshalb trägt Haftbefehl in einer weiteren Story eine Art leuchtende Plastikzahnspange im Mund. "Ich hab mir heute die Zähne bleachen lassen mit so 'nem Zeug, das nennt sich Smile Secret", sagt er. "Ein Phonebleaching!", ruft die PR-Dame aus dem Off. "Jaja, ein Phonebleaching … mit Kokos-Irgendwas … ", eiert er rum. Am Ende nennt er die Website des Produkts. Die PR-Frau flüstert: "Sag einfach 'Swipe Up'". Haftbefehl guckt verwirrt, die Eigenarten des Instagram-Marketings erschließen sich ihm offenbar noch nicht.

In diesem Moment wirkt er liebenswert überfordert mit hypermodernen Kommunikationsmitteln wie diesem. Eben wie ein Vorstadt-Daddy, der seine WhatsApp-Nachrichten mit Emojis flutet, damit der eigentliche Text darin ertrinkt.

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Aber Haftbefehl macht jetzt nicht nur Werbung auf Insta, er macht auch Politik, und die passt noch viel besser in die Reihenhaussiedlung als seine Storys.

Was Angela Merkel für die Politik und Jogi Löw für den Fußball sind, ist Haftbefehl für Deutschrap: BRD-Establishment

2011 sagte er noch über Kanzlerin Angela Merkel, sie solle sich "ficken", denn sie sei eine Lügnerin, die es nicht verdient habe, "da oben" zu stehen.

Als Kanzlerin Angela Merkel Mitte Juni dieses Jahres den ukrainischen Staatspräsident in Berlin begrüßte, zitterte sie heftig bei der Nationalhymne, sie war wohl dehydriert. Haftbefehl schickte Besserungswünsche per Instagram.

Nach seinen Genesungswünschen verkündete er, jetzt der Bundeskanzlerin auf Instagram zu folgen. Der Grund: Alles, was Merkel in den vergangenen Jahren getan hat, kam "von Herzen". Sie sei, anders als offenbar alle anderen Politiker (laut Haftbefehl alles "Idioten"), keine Marionette der USA. Ob schon einmal jemand aus einem seltsameren Grund der Kanzlerin eine politische Liebeserklärung gemacht hat?

Egal. Haftbefehl war schon immer anders als andere Rapper.

Einer, für den etablierte Regeln des Genres nicht gelten. Einer, der im Jahr 2016 gemeinsam mit Xatar von der Wochenzeitung Die Zeit zum Talk geladen wurde und sich im Laufe des Gesprächs wunderte: "Merkst du das, Brudi? Wir werden hier gerade feuilletonisiert."

So wie Haftbefehl drauf ist, wäre es ihm wahrscheinlich lieb, wenn von seinen Steuergeldern die erste Aykut-Anhan-Kindertagesstätte gebaut werden würde

Da deutete sich schon an, was heute offensichtlich ist: Haftbefehl gehört zum bundesrepublikanischen Establishment. Zum Kanon dessen, was Deutschland heute zu Deutschland macht: Was Angela Merkel für die deutsche Politik und Bundestrainer Jogi Löw für den deutschen Fußball ist – das ist Haftbefehl für den deutschen Rap. Die, deren Amtszeit man nicht mehr in Jahren, sondern in Epochen misst; die, die an der Spitze stehen. Die von Avantgardisten zu Etablierten zu den Nicht-mehr-weg-zu-denkenden wurden.

Haftbefehl sagt, er sei eben gezwungen, sich mit Politik ernsthaft auseinander zu setzen, weil er mittlerweile jährlich über eine Million Euro Steuern an den deutschen Staat zahle. Eine Geschäftsbeziehung gewissermaßen. Politisch bleibt er dabei flexibel, er sagt, sein Lieblingspolitiker sei Gregor Gysi von der Partei Die Linke. Ob Haftbefehl wohl weiß, was Gysi vom Spitzensteuersatz (rauf!) und der Vermögenssteuer (rauf!) für Großverdiener wie ihn hält? Obwohl: So wie Haftbefehl gerade drauf ist, wäre es ihm wahrscheinlich das Liebste, wenn von seinen Steuergeldern die erste Aykut-Anhan-Kindertagesstätte gebaut werden würde.

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