"Es wird spannend und knapp", twittert der Abgeordnete Timo Wölken (SPD) wenige Stunden vor der Abstimmung im EU-Parlament. Es geht um die wohl umstrittenste Reform in der Europäischen Union, die Hunderttausende Internet-Nutzer leidenschaftlich bekämpft haben: ein neues Urheberrecht. Doch auch Millionen an Unterschriften, die dutzenden Straßenproteste, all die Videos, Memes und Tweets konnten die Reform nicht aufhalten. Artikel 13 kommt mit einer großen Mehrheit, das hat das Parlament am Dienstagmittag mit 348 Dafür-Stimmen beschlossen, 274 waren dagegen.
Zehntausende Artikel-13-Gegnerinnen und Gegner haben die Abstimmung des Parlaments per Livestream verfolgt. Immer wieder brach das Live-Video ab – möglicherweise, weil mehr Menschen als je zuvor keine Sekunde einer EU-Parlamentssitzung verpassen wollten. Viele Expertinnen und Journalisten sind sich nämlich einig: Die Reform ist eine Katastrophe für die Netzkultur und letztlich auch für die Meinungsfreiheit. Plattformen könnten die strengen Auflagen zur Wahrung des Urheberrechts nur durch Uploadfilter einhalten. Diese Filter würden aber weitaus mehr Inhalte blockieren als nötig, darunter Remixe, Memes, Parodien. Alternativ müssten Plattformen mit Milliarden Nutzerinnen und Nutzern Lizenzen abschließen, um nicht haften zu müssen – und das ist schlicht unmöglich.
Kaum ist das Ergebnis der Abstimmung bekannt, überschlagen sich auch die Kommentare der Zuschauer im Chat des Video-Livestreams von HerrNewstime. Der YouTuber hat seit dem frühen Nachmittag das Finale der Artikel-13-Debatte live begleitet und war einer der lautesten Aktivisten im Kampf gegen die Reform. Tausende Zuschauer machen ihrer Wut Luft und schreiben Dinge wie: "NieMehrCDU!", "Dexit!" und "#Bürgerkrieg". Das Abstimmungsverhalten der größtenteils älteren Parlamentarierinnen und Parlamentarier empfinden viele als Mittelfinger an die junge Generation Internet.Klar, wer sich nach wochenlangem Einsatz gegen Artikel 13 jetzt übergangen fühlt, ist extrem sauer. Aber wirklich schlau ist es nicht, sich die Köpfe einzuschlagen. Wohin also mit der Wut und der Enttäuschung? Wir hätten da drei Vorschläge.
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1. Nicht aufgeben, denn was genau aus Artikel 13 wird, ist noch offen
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Auch im zehrenden Prozedere der EU-Gesetzgebung könnte noch ein Schlupfloch sein: Wie EU-Abgeordnete Julia Reda in einem Tweet erklärt, könnte die Bundesregierung ihre Zustimmung für die Reform im Rat am 9. April zurückziehen. Ohne massiven politischen Druck auf die CDU ist das aber eher unwahrscheinlich.2019 ist das Jahr, in dem vor allem ältere und konservative Politiker in Deutschland merken, dass die angeblich desinteressierte Generation Merkel alles andere als desinteressiert ist. Während Schülerinnen und Schüler freitags gegen mutlose Klimawandel-Politik protestierten, zeigten die Artikel-13-Gegnerinnen in zahlreichen kreativen Protesten, YouTube-Videos und Wutreden, dass sie von Technik und zeitgemäßer Kultur in Netz mehr verstehen als die führenden Köpfe der größten Volkspartei Deutschlands.Diesen Widerstand hat offenbar keiner erwartet. Dabei hat im Jahr 2012 so etwas Ähnliches ja schon einmal geklappt, als viele Internet-Nutzerinnen gegen ACTA mobil machten und die EU das Gesetz letztlich kippte. Sieben Jahre später scheinen ähnliche Proteste vor allem Überforderung zu bewirken: Sven Schulze (CDU) bezeichnete die Demonstrantinnen und Demonstranten als "Bots", Axel Voss (CDU) sprach im Zusammenhang der Anti-Artikel-13-Infokampagnen von "Fake News". Daniel Caspary (CDU) behauptete, einige Demonstranten seien von den großen Tech-Konzernen gekauft worden. Jede dieser Äußerungen hat die politisierten Internet-Nutzenden noch enger zusammengeschweißt. Ihre Antwort waren höhnische, virale Hashtags wie #WirSindDieBots, #Demogeld, #AxelSurft und nicht zuletzt #NieMehrCDU.
2. Stolz sein, denn die Internet-Generation hat jetzt eine politische Stimme
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Das mit "#NieMehrCDU" wird natürlich nicht klappen, denn Demokratie ist für alle da, und es gibt immer noch jede Menge Menschen, die die CDU feiern. Aber die Proteste um Artikel 13 sollten deutlich gezeigt haben: Es wird Zeit, dass Parteien auch die junge Internet-Generation ernst nehmen und besser repräsentieren. Ende Mai wird ein neues Europäisches Parlament gewählt.Nicht nur das neue EU-Urheberrecht kann zum Problem für das freie Internet werden. Längst gibt es zig andere Baustellen, über die gestritten werden muss. Zum Beispiel über die großen Tech-Konzerne wie Google, Facebook, Amazon. Immer wieder zeigt sich, dass diese Firmen miese Monopolisten sein können. Wenn Google-Tochter YouTube mal wieder an den Werbe-Einnahmen für YouTuber schraubt oder Facebooks Algorithmus im Newsfeed weniger Menschen journalistische Artikel zeigt. Keine Frage: Die Freiheit im Netz ist auch dann in Gefahr, wenn Kreative von den Spielregeln einiger weniger großer und undurchsichtiger Anbieter abhängig sind.
3. Kritisch bleiben, denn das freie Internet wird auch von anderer Seite bedroht
Auch über künftige EU-Gesetze kann und muss gestritten werden. Ein Gesetzesentwurf der Europäischen Kommission vom Herbst 2018 zielt etwa auf Uploadfilter ab – schon wieder. Dieses Mal soll die Verbreitung von terroristischen Inhalten verhindert werden. Demnach sollen Online-Plattform gesetzlich verpflichtet werden, Terror-Propaganda innerhalb einer Stunde zu löschen und auch einen Re-Upload zu stoppen.
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Gut für die Demokratie, werden die einen sagen. Die anderen werden sagen: Schon wieder eine Zensurmaschine, die auch für andere Zwecke missbraucht werden könnte. Aktuell ist das ganze nur ein Vorschlag, denn, wie gesagt: Für EU-Gesetzgebung braucht man unfassbar viel Geduld.Der Streit um Artikel 13 ist nicht nur ein Streit um ein sinnvolles Urheberrecht, sondern auch ein Konflikt zwischen der jungen Social-Media- und der älteren E-Mail-Generation. Die E-Mail-Generation will dem Internet alte Regeln einer weitgehend analogen Welt aufzwingen, die Social-Media-Generation fühlt sich zu Recht übergangen. Aber eines steht fest: Irgendwann ist es die Social-Media-Generation, die in den Parlamenten die Mehrheit hat.Gut möglich, dass in zwanzig bis dreißig Jahren dann unsere Kinder, Neffen und Nichten furchtbar wütend auf uns sein werden, weil wir es sind, die rückständige und dämliche Gesetzesvorschläge für schlau halten. Aber ob ihre höhnischen Memes dann lustiger sein werden als die Memes von heute? I daut it.Folge Sebastian auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat