"Ich hasse es, bipolar zu sein. Es ist großartig." Das schrieb Kanye West in neongrün auf das Cover seines neuen Albums Ye , das am 1. Juni erschien. Mit dem lang ersehnten neuen Album machte der 41-jährigen Rapper auch öffentlich, von einer bipolaren Störung betroffen zu sein. In einem darauf folgenden Interview erzählt er, dass er erst vor knapp zwei Jahren diagnostiziert wurde.
Ein Kanye West leidet aber nicht an einer bipolaren Störung, er ist von ihr gesegnet. So rappt er am Ende des Songs "Yikes": "That's my bipolar shit / That's my superpower / ain't no disability / I'm a superhero! Agghhhh!" Für ihn handele es sich nicht um eine Behinderung, sondern um eine Superkraft. Er, der Superheld, verdanke der Bipolarität seine Kreativität. Auf Twitter wird er dafür scharf kritisiert. Viele werfen dem Künstler vor, die Krankheit zu verharmlosen, zu romantisieren und zu stigmatisieren. Außerdem vermuten manche User, er nutze eine Erkrankung als Ausrede für sein impulsives Verhalten (zum Beispiel den unangebrachten Sklaverei-Kommentar).
Aber ist das so? Steht Kanye West mit seinem Empfinden alleine da? Was weiß man eigentlich über bipolare Störungen? Was sind sie und woran erkennt man sie? Sind sie wirklich eine kreative Superpower? Wir haben mit Experten und Betroffenen gesprochen, um herauszufinden, wie sich die Krankheit auf den Alltag auswirkt, wie und ob sie behandelt werden sollte und was bipolare Störungen und Kunst verbindet.Bipolare Störungen (auch als manisch-depressive Erkrankungen bekannt) gehören laut Nadja Stehlin von der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS) zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen Deutschlands. Aktuell würden rund zwei Prozent der Deutschen mit der Diagnose "bipolare Störung" leben, aber viele Menschen seien einfach nicht diagnostiziert. In den USA sind es laut dem National Institute For Mental Health 2,8 Prozent der Bevölkerung.Nona ist Trans-Frau und leidet seit sie denken kann an bipolaren Störungen: "Ich hatte immer diese Auf- und Ab-Spiralen. Phasenweise ging es mir richtig scheiße, mit depressiven Episoden, Antriebslosigkeit, Angst vor Menschen und dem ganzen Müll, und dann ging's mir plötzlich total gut." Gut hieß für die Wahlberlinerin aber, nicht mehr zu schlafen und sich nur noch aufs Spaß haben zu fokussieren, ständig feiern zu gehen, ihr ganzes Geld auf einmal zu verballern. "Da würde ein Normalsterblicher längst zusammenfallen, für den wäre das gar nicht aushaltbar. Für jemanden, der bipolar ist, ist das aber machbar", sagt Diplompsychologe Sascha Neumann.
"Da würde ein Normalsterblicher längst zusammenfallen, für den wäre das gar nicht aushaltbar."
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Diese energiegeladene Phase nennt man Manie, eine Art ziellose Hyperaktivität. Bei einer bipolaren Störung wechselt sie sich mit der klassischen Depression ab. So entstehen die für dieses Krankheitsbild typischen manisch-depressiven Abwechslungsphasen.
"Jeder hat mal eine manisch-depressive Phase im Alltag."
"Drogenkonsum ist ein typischer Auslösefaktor der Erkrankung."
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"Ich hätte es gut gefunden, wenn mir etwas passiert wäre!"
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Diese Glorifizierung wird durch solch prominente Betroffene wie Kanye West noch verstärkt. Gerade, wenn ein so großer Künstler seine Bipolarität als Superpower beschreibt, ohne die er nie so kreativ sein könnte. Sascha Neumann kann diese romantisierte Darstellung der Krankheit trotz deren Schattenseiten gut nachvollziehen: "Letzten Endes kann er so ein Vorbild sein, auch für alle mit einer ähnlichen Diagnose. So kann er zeigen, dass die Krankheit durchaus etwas Positives hat."Auch wenn lange nicht jeder, der an einer bipolaren Störung leidet, automatisch vor Kreativität sprudelt und das Zeug zum erfolgreichen Musiker hat, sind Betroffene laut DGBS "überdurchschnittlich häufig sehr kreativ". Sie seien daher auch häufiger als Künstler tätig. Und tatsächlich: Die Liste der bipolaren Künstler ist lang. Neumann geht sogar so weit zu sagen, dass alle guten Künstler, egal ob Musiker, Schriftsteller oder Maler, darunter leiden würden. "Einer Angela Merkel würde keiner eine bipolare Störung nachsagen. Aber eine Marilyn Monroe hat natürlich eine gehabt. Völlig logisch. Oder Pablo Picasso. Wie im Wahn hat der ja gemalt!", so Neumann.Sie hätten diese künstlerischen Leistungen unter Behandlung von Psychopharmaka gar nicht vollbringen können, ist sich der Diplompsychologe sicher. "Man stelle sich mal vor, man hätte einen Kanye West sein Leben lang behandelt, oder alle Menschen, die eine bipolare Störung haben. Dann sähe die Welt sehr, sehr traurig aus. Dann gäbe es auch ‘Die Leiden des jungen Werthers’ von Goethe nicht, der auch als bipolar bezeichnet wurde." In einer Euphoriephase sei man einfach produktiver und kreativer als jemand, der solche Episoden nicht erlebt.
"Die typische Künstlermentalität hat oft mit Bipolarität zu tun."
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Nona zum Beispiel hat ihre Produktivität genutzt und angefangen, eigene Texte zu schreiben und auf Poetry-Slam-Bühnen aufzutreten. "Wenn alles geil ist, hat man die Ressourcen und die Kraft, richtig was zu tun. Voller Energie kann man dann das, was man verarbeitet hat, während man depressiv war, komplett umsetzen." Ihre Manien hätten ihr gezeigt, dass sie unfassbar gerne im Rampenlicht steht.Dennoch sind manische Phasen auch auslaugend und gefährlich. Seelisch und körperlich, manchmal gehen sie auch auf Kosten des sozialen Umfeldes. Nadja Stehlin warnt: "Die Erkrankung führt zu teilweise sehr risikoreichem, unüberlegtem Verhalten, beispielsweise in Bezug auf Untreue."Vor allem muss man auch mit den Tiefphasen leben, samt Schlafstörungen und starken Depressionen. "Suizidale Gedanken, Versuche und auch vollzogene Suizide sind bei einer bipolaren Störung nicht selten", so die DGBS-Sprecherin.Damit hat auch Kanye West zu kämpfen. Dabei ist "I thought about killing you" vom neuen Album Ye mit Zeilen wie "And I think about killing myself / And I love myself way more than I love you, so …" nicht der erste Song, in dem der Rapper von Suizid spricht. Schon 2010 wiederholte er in "Power" immer wieder: "Now this will be a beautiful death / I’m jumping out the window / I’m letting everything go".Sascha Neumann bestätigt, dass die Wahrscheinlichkeit, jung zu sterben, dem ein Ende setzen zu wollen, bei Menschen mit bipolarer Störung höher ist, als bei denen ohne. "Auch beim Club 27 waren einige manisch Depressive dabei."
"Auch beim Club 27 waren einige manisch Depressive dabei."
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"Alleine komme ich noch nicht klar."
"Ich habe einen Glückszustand erlebt, den kein gesunder Mensch je erleben kann."
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Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden bei Organisationen wie Agus Hilfe.Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist: 143. Hier gibt es auch einen Chat. In dieser Liste sind weitere Anlaufstellen für Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Schweiz aufgeführt.Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist: 142. Auch hier gibt es einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden in Österreich bei Organisationen wie SUPRA Hilfe.Mehr zum Thema:Folge Noisey auf Facebook , Instagram und Snapchat.