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Gaming

Leute erzählen uns, welche Videospiele ihr Sozialleben "zerstört" haben

"An Weihnachten schloss ich mich mit 'Mass Effect 2' auf der Toilette ein."
Foto: StockSnap | Pixabay | CC0 [bearbeitet]

Im Juni 2018 bestätigte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), was viele "Killerspiele!!11"-Rufer schon lange vermutet hatten: Computerspiele sind gefährlich. Zumindest so sehr, dass man nach ihnen süchtig werden kann. Computerspielsucht oder "Gaming Disorder" kann in Zukunft offiziell als Krankheit diagnostiziert werden. Eine Entscheidung, die nicht nur unter Ärzten kontrovers diskutiert wurde. Auch wir denken sorgenvoll an alle Momente zurück, in denen die Rettung einer virtuellen Welt deutlich wichtiger erschien, als Pfandflaschen abzugeben oder mit den Großeltern zu telefonieren. Wo hört Spaß an gut inszenierten Geschichten auf und wo fängt zwanghafte Realitätsflucht an? Sind wir alle süchtig? Oder ist exzessives Zocken bei den meisten Menschen nicht doch eher eine Phase, die sich auf ein bestimmtes Spiel beschränkt und irgendwann vorbeigeht?

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Sechs Leute erzählen, wann ein Videospiel ihr Leben komplett übernommen hat – und wie sie wieder in den schnöden Alltag zurückgefunden haben.

Claus – "Deus Ex"

Computerspiele haben mein Leben zerstört. Nein, das stimmt nicht, aber ich weiß, dass mich gute Spiele so sehr in ihren Bann ziehen können, dass ich komplett versacke. Das haben mich ein paar kurzweilige Monate zwischen Abi und Zivildienst und zwischen Zivildienst und Unistart gelehrt. Mein Alltag: lange schlafen, aufstehen, nicht duschen, spielen, um vier Uhr morgens wieder ins Bett. Große Freiheit, große Erfolge! Allerdings nur beim Zocken, meine Real-Life-Erfolge waren mir zu dieser Zeit richtig banane.

Damals sorgte das erste Deus Ex dafür, dass mir das postapokalyptische New York City wichtiger war als mein komplett unapokalyptisches Dorf. Ich weiß nicht mehr, wie die Hauptfigur hieß, aber man konnte monatelang in ihrer Welt zu Hause sein, saugefährliche Aufgaben lösen, sich vor sauaggressiven Killer-Robotern verstecken und irgendeiner evil Corporation das Handwerk legen. Nur um nach und nach zu checken, dass man selbst Teil des Problems war. Frechheit! Ihr Schweine!

Während dieser Suchtmonate kam regelmäßig meine Schwester in mein Zimmer, um mir abschätzig über die Schulter zu gucken. Die Gewalt, die Spannung, das war ihr alles nichts. Behauptete sie zumindest. Nach einem Monat hat sie dann auch Deus Ex gespielt und man hörte nach jedem Schuss ein "Oh! Entschuldigung! Nein! Wow! Aaah!" aus ihrem Zimmer. Als meine Deus Ex-Sucht schließlich befriedigt war, habe ich dann mit irgendeinem GTA-Teil angefangen. Das habe ich meiner Schwester aber nicht gezeigt. Ich wusste, dass sich dieses Spiel negativ auf ihr sowieso schon gefährliches Fahrverhalten auswirken würde.

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Lisa – "Mass Effect 1-3"

Als ich irgendwann beschloss, den ersten Teil der Mass Effect-Trilogie anzufangen, wusste ich nicht, dass ich mich damit in einen Rausch aus Hunderten Stunden voller Tobsuchtsanfälle, an Manie grenzender Faszination und echten Tränen begeben würde. Star Wars war nie so mein Ding, Star Trek auch nicht, somit erschien mir die Vorstellung, selbst Teil einer epischen Weltraum-Saga zu werden, nicht sonderlich verlockend. Dann erstellte ich meine Commander Shepard, lernte meine Crew kennen, mit der ich irgendwann die Galaxie retten würde, und was soll ich sagen: Es war um mich geschehen.

Ich nutzte jede freie Minute, um mich vor den Laptop zu setzen. Schon wenn die Startmelodie ertönte, bekam ich eine Gänsehaut. Stundenlang führte ich Gespräche über die Befindlichkeiten meiner Crewmitglieder, flirtete mit allem, was einen Puls hatte und sich auf meinem Raumschiff befand, und las mich durch die Kodexeinträge, in denen die Hintergründe der Spielwelt erklärt wurden. Ich sagte Verabredungen ab, weil mir eine "Loyalitätsmission" für einen Nebencharakter wichtiger war, als mit echten Freunden in einer Bar zu sitzen. An Weihnachten schloss ich mich mit Mass Effect 2 auf dem Laptop auf der Toilette ein, weil meine Mutter während einer wichtigen Zwischensequenz einfach nicht aufhörte, mir Fragen zu meinem Studium zu stellen.

Schließlich war ich bei Mass Effect 3 angelangt, dem letzten Teil der Trilogie und somit auch dem Ende meiner Geschichte als Commander Shepard. Ein letztes Mal Rumhängen mit der Crew, ein letztes Mal ein enervierendes Gespräch mit einem Bösewicht dadurch abrupt beenden, dass man ihm einfach in den Kopf schießt – ich hatte Tränen in den Augen. Die letzte Mission überstand ich nur mit einer Flasche Rotwein, die ich – für mein damaliges Studentenlotterleben ungewöhnlich – aus meinem einzigen Weinglas trank. So gesehen bin ich beinahe dankbar, dass der vergangenes Jahr erschienene Nachfolger Mass Effect: Andromeda so unglaublich schlecht ist. Sonst hätte ich wahrscheinlich meinen Job kündigen müssen.

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Julius – "Bloodborne"

2015 erschien das Action-Rollenspiel Bloodborne und veränderte mein Privatleben nachhaltig. In der Zeit nach dem Release stellte ich mir wochenlang morgens den Wecker, um möglichst früh mit dem Zocken anfangen zu können. Das komplexe Kampfsystem des Spiels gab mir das Gefühl, ein nichtsnutziger Vollidiot zu sein, dafür baute mich jedes Erfolgserlebnis umso mehr auf. Jeder Schritt vorwärts konnte mich vom Leben trennen, jeder Sprung über den Abgrund machte mich aber auch zu einem Gott. Also innerlich zumindest.

Ob nun vor der Arbeit oder sogar am Wochenende (wo ich mich aus dem Bett meiner noch schlafenden Freundin schlich) – was die Snooze-Funktion nicht konnte, schaffte Bloodborne. Trotz Schiss vor Gruselfilmen stellte ich mich immer wieder den Schrecken, bewunderte still die Architektur der Levels, während ich gleichzeitig laut alles daran verfluchte. Ich wollte dieses Spiel schlagen, gerade weil es mir so zusetzte. Auf Arbeit studierte ich in YouTube-Videos, wie andere Spieler den Boss besiegten, an dem ich nicht vorbeigekommen war: "Es ist möglich, ich muss es nur so probieren, Gottverdammt!" Feierabend, schnell nach Hause, Bloodborne spielen, stundenlang.

Nichtige Bedürfnisse wie Pinkeln oder Hunger bemerkte ich erst, wenn ich das Spiel dann doch mal kurz pausierte. Beim Einschlafen spielte ich Bloodborne im Kopf weiter. Überlegte, was ich in meiner abendlichen Session alles geschafft hatte, obwohl ich keinen Boss gelegt und nicht viel neues Terrain betreten hatte. Wo könnte ich noch trainieren? Vielleicht lieber eine andere Waffe nehmen? Nochmal kurz Handy an, Guides durchforsten, Pläne schmieden.

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Irgendwann fiel auch der letzte Boss, Bloodborne war geschlagen. Wilhelm Busch hat mal gesagt: "Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir liebten." 60 Stunden Liebe – klingt doch eigentlich ganz gut.

Rebecca – "Die Sims"

Ich war 10, als ich angefangen habe, mir bei Die Sims eine idealisierte Version meines Lebens aufzubauen. Während eines langweiligen Winterurlaubs mit meiner Familie erstellte ich am Laptop meines Vaters zum ersten Mal stundenlang luxuriöse Villen mit Pool und Jacuzzi und durchlebte polyamoröse Liebschaften mit meinen damaligen Schulschwärmen. Danach war ich angefixt. Auch meine Sommerferien verbrachte ich vor dem Laptop im Bett. Schließlich hatte ich keine Verpflichtungen und massenhaft Zeit, um Tag und Nacht in einer virtuellen Parallelwelt Freundschaften mit den Alien-Nachbarn zu pflegen und meine Spielfiguren in einem Pool ohne Leiter sterben zu lassen. Die Sims hat kein Ziel, kein Game Over, keine Missionen, die man abschließt. Theoretisch kannst du es ewig weiterspielen.

Wenn deine Figur am Herd den Feuertod stirbt, hast du immer noch deine vier Drillings-Paare, mit denen du weiterspielen kannst oder wechselst zu einer anderen Familie in einer anderen Nachbarschaft. Ich habe zu Höchstzeiten in einer Nacht sicherlich drei Generationen einer Familie mit gut bezahlten Jobs in der Politik und einer Helikopter-Fahrgemeinschaft aufgebaut. Erst wenn der Laptop abgestürzt ist oder das Spiel sich aufgehängt hat, bin ich schlafen gegangen. Manchmal habe ich sogar davon geträumt, wie ich in einem Sims-Haus die Wände hochziehe.

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Heute bereue ich es ein bisschen, dass ich meine Sommerferien vor dem Computer verbracht habe, statt mit Freunden und Freundinnen ins Schwimmbad zu fahren und mich nachts auf einer Parkbank neben einem Waldstück zu betrinken. Aber eins muss ich klarstellen: Ich habe nie Cheat-Codes wie "Motherlode" benutzt!

Dennis – "Heroes of the Storm"

Ich liebe Heroes of the Storm. Wirklich. Seit 2015 spiele ich es fast täglich. Wochentags vielleicht eine Stunde am Abend, zwei bis drei Stunden am Wochenende. Ich habe sogar Nachhilfe genommen, so gut finde ich es! Dass ich ein Problem habe, merkte ich allerdings erst kürzlich, einen Abend vor meinem Urlaub. Ich hatte lange an Arbeitssachen gesessen und es war schon kurz vor Mitternacht, als ich merkte: In Heroes gab es noch einige Quests, die ich nicht abgeschlossen hatte. Bis halb Drei Uhr morgens saß ich vor meinem Rechner und arbeitete die Aufgaben ab. Spaß hatte ich dabei nicht.

Heroes of the Storm ist ein MOBA, eines dieser Multiplayer-Games, in denen zwei Teams aus je fünf Helden gegeneinander antreten. Die erfolgreichsten MOBAs – League of Legends, Dota 2 – füllen Stadien. Heroes of the Storm nicht. Aber ich liebe es trotzdem. Denn es traut sich, das Spielprinzip zu verändern. Auf unterschiedlichen Karten gibt es unterschiedliche Ziele, die Runden gehen schnell vorbei, und die Helden sind oft kreativer als bei der Konkurrenz: So kämpft Weltraum-Schnecke Abathur gar nicht selbst in den Duellen mit, sondern lenkt die Schlacht aus der sicheren Basis heraus.

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In Heroes habe ich sogar eine Art Online-Freundeskreis gefunden. Wir quatschen über unser Leben, über Haustiere und Jobs und versuchen dabei, andere Teams platt zu machen. Manchmal frage ich mich zwar, ob ich meine Zeit nicht sinnvoller nutzen könnte: mit einem Buch, Netflix, einem Singleplayer-Spiel mit spannender Story. Aber dann kommt ein neuer Patch, ein neuer Held, eine neue Map und ich hänge wieder bis spät in die Nacht in Matches, in denen mich irgendwelche russischen Teens beschimpfen.

Yasmina – "Dragon Age: Inquisition"

Während ich promoviert habe, bin ich total auf Dragon Age: Inquisition hängen geblieben. Zum einen konnte ich mir meine Tage frei einteilen, ein fataler Fehler. Zum anderen befand ich mich an einem schwierigen Punkt meiner Promotion und wollte mich verzweifelt ablenken. Da kam Inquisition gerade recht. Story, Charaktere, Gameplay – bei dem Fantasy-Rollenspiel stimmte einfach alles für mich. Es gab nur ein Problem: Ich muss bei Spielen immer alles looten, also sämtliche Gegenstände finden, aufheben oder verwerten. Ich muss jeden Raum durchforsten, die komplette Spielwelt nach dem letzten Wertstoff absuchen – sonst werde ich nervös. Von Quests ganz zu schweigen: Egal wie unwichtig die Aufgabe, die mir zufällig dahergelaufene Bauern, Adlige oder Kriminelle geben, ich muss sie annehmen.

Für meinen ersten Durchlauf von Inquisition habe ich über 100 Stunden gebraucht. Dann merkte ich, dass ich gar nicht alle Nebenquests und Geheimnisse gefunden hatte. Ich war fast schon besessen davon, alles zu komplettieren, und schummelte sogar mit Hilfe von Anleitungen auf Reddit oder Tumblr. Wenn mir die Komplettierung mit einem Charakter zu öde wurde, erstellte ich neue Figuren und musste somit auch das Intro neu spielen. Während ich im Spiel Heilpflanzen pflückte und mich durch die immer gleichen Konversationen klickte, lief nebenbei irgendwann Netflix. Schließlich konnte ich die Dialoge schon fast auswendig. Trotzdem konnte ich keine Gesprächsoption auslassen. Zu wissen, dass mein Charakter nicht alles gefragt hatte und ich mir so vielleicht spätere Quests verbaute, die auf Gesprächen am Spielanfang beruhten, ließ mir keine Ruhe.

Irgendwann installierte ich eine Mod, durch die ich die letzte Spielerweiterung nicht mit meinem Hauptcharakter spielen konnte. Die Vorstellung, das ganze Spiel noch einmal machen zu müssen, nahm mir schließlich die Lust. Nach 400 Spielstunden hatte ich wieder ein Leben.

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