Warum Seenotretter die Menschen nicht einfach zurück nach Libyen bringen
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Warum Seenotretter die Menschen nicht einfach zurück nach Libyen bringen

Und vier weitere Fragen zur Seenotrettung, die sich viele gerade stellen.

Es gibt Zahlen, die man nicht ignorieren kann. Im vergangenen Jahr starben etwa 3.200 Menschen im Mittelmeer bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen. 2016 waren es sogar mehr als 5.000 Menschen. Für die Afrikaner, die zumeist aus Libyen aufbrechen, um nach Europa zu gelangen, kann das Mittelmeer weiterhin den Tod bedeuten.

Um zu helfen, gründeten sich 2015 verschiedene Freiwilligen-Organisationen wie "Sea Watch" oder "Sea Eye", die zunächst nur die Lage im Mittelmeer beobachten wollten, dann aber zunehmend selber eingreifen mussten, weil sie ständig Menschen in Seenot begegneten. Bekamen sie dafür anfangs viel Unterstützung, so hat sich der Wind mittlerweile gegen diese NGOs gedreht: Die neue italienische Regierung steht ihnen offen feindselig gegenüber und hat bereits zwei NGO-Schiffen das Anlegen in Italien verweigert. Auch in Deutschland ist die Debatte über die Seenotretter schärfer geworden: Anfang Juli veröffentlichte die Zeit ein "Pro und Contra" zu der Frage, ob man die Seenotrettung nicht doch lieber "lassen soll".

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Klar ist: Das Thema ist emotional, für alle Seiten. Was aber oft fehlt, ist das Wissen um grundlegende Fakten. Hier sind die wichtigsten Fragen zu der Arbeit der Seenotretter – und ihre Antworten:

1. Warum bringen die Seenotretter die Menschen nicht einfach zurück nach Libyen?

Das ist die Frage, die praktisch unter jedem Bericht über die privaten Seenotretter zwanzigmal gestellt wird: Menschen vor dem Ertrinken retten ist ja richtig, aber warum bringt man die Menschen dann nach Europa – und nicht einfach an die oft viel nähere libysche oder tunesische Küste zurück? Könnte man so nicht sogar noch mehr Leben retten, wenn man den kürzeren Weg fährt?

Die einfache Antwort: Es ist nicht erlaubt. Denn das Seerecht sieht nicht nur vor, dass jedes Schiff Menschen in Seenot retten muss – sondern auch, dass der Kapitän oder die Kapitänin die Pflicht hat, sie danach an einen "sicheren Ort" zu bringen. Laut der Resolution der Vereinten Nationen ist das "ein Ort, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse gedeckt werden können".


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Das heißt: Die Geretteten dürfen nicht einfach am nächsten Hafen abgeladen werden, sondern der Hafen muss sicher sein. Libyen ist das aber nicht: Laut einem Bericht des Auswärtigen Amtes werden Migranten in den dortigen Lagern systematisch misshandelt, gefoltert und vergewaltigt. Der Bericht spricht von "KZ-ähnlichen Verhältnissen" in den Lagern.

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"Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2012 entschieden, dass man Geflüchtete nicht zurück nach Libyen bringen darf, weil sie dort der Gefahr von systematischer Folter ausgesetzt sind", erklärt Alexander Proelß, Direktor des Instituts für Rechtspolitik an der Uni Trier, gegenüber VICE. Offiziell gilt das aber nur für Staaten. "Die große Frage ist, ob das auch für NGOs gilt", sagt Proelß. "Da streiten sich die Gelehrten. Mein Argument: Man kann von NGOs kein Verhalten verlangen, das Staaten verboten ist."

Johann Pätzold ist einer der Seenotretter, die vor der libyschen Küste Menschen vor dem Ertrinken bewahrt haben. Anfang 2016 kreuzte der 30-jährige Rostocker mit dem Schiff "Sea Eye" auf dem Mittelmeer. "Es kam nie in Frage, Menschen nach Libyen zurückzubringen", sagt er. Daran hätten auch die Geflüchteten keinen Zweifel gelassen. "Alle, die wir an Bord geholt haben, waren eher bereit zu sterben, als sich dorthin zurückbringen zu lassen."

Aber selbst wenn Libyen nicht erlaubt ist: Können die NGOs die Geretteten nicht einfach im benachbarten Tunesien an Land bringen? Das Problem hier ist, dass Tunesien kein Asylgesetz hat, dort also niemand Asyl beantragen kann. Wenn die Geretteten aber Asyl in Europa beantragen wollen, dann darf ein europäisches Schiff (egal ob staatlich oder privat) den Mensch laut der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in ein Land zurückweisen, in dem "sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde". Die Organisation Pro Asyl argumentiert deshalb, dass Tunesien nicht angefahren werden dürfe, weil Tunesien Geflüchtete immer wieder ins Gefängnis steckt. Alexander Proelß ist sich nicht ganz so sicher: "Dazu liegen keine Entscheidungen vor", sagt er. "Das heißt, es ist nicht ausgeschlossen, Menschen nach Tunesien zurückzubringen. Das passiert aber bisher nicht."

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2. Warum braucht es überhaupt private Seenotretter?

Eine Demonstrantin bei der

Demonstrantin bei einer Demo pro Seenotrettung im Juli in Berlin || Foto: imago | Tim Wagner

Für Experten Alexander Proelß ist die Antwort klar: "Weil die staatlichen Missionen offenbar nicht ausgereicht haben, um zu verhindern, dass so viele Menschen ertrinken."

Symptomatisch für das Scheitern der Staatengemeinschaft ist dabei das Ende der Mission Mare Nostrum, deren Schiffsbesatzungen von Herbst 2013 an etwa ein Jahr lang Menschen aus dem Mittelmeer fischten. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) hat Mare Nostrum rund 150.000 Menschen gerettet. Danach wurde sie aber von der Operation Triton abgelöst, die sich vorwiegend auf Grenzsicherung beschränkt. Deshalb sind private Organisationen eingesprungen, um noch mehr Leichen im Mittelmeer zu verhindern.

Ob sich nun aber sagen lässt, dass es private Seenotretter "braucht", hängt stark vom politischen Standpunkt ab. Vor allem von rechts kommt immer wieder der Vorwurf auf, dass die Retter das Geschäft der Schlepper besorgen würden. Zunehmend sehen sich die Retter, die zu Beginn noch mit staatlichen Stellen zusammengearbeitet haben, an den Pranger der nach rechts gerückten Öffentlichkeit gestellt, vor allem in Deutschland und Italien. Doch auch die Justiz übt Druck aus: Dem Kapitän des Rettungsschiffes "Lifeline" wird gerade auf Malta der Prozess gemacht.

3. Fördern Seenotretter denn tatsächlich die illegale Migration, weil Schlepper nur wegen ihnen überhaupt losfahren?

Wenn die NGOs nicht da wären, würden weniger Menschen die Überfahrt riskieren, so ein häufiges Argument. Unsinn, sagt der Jurist Alexander Proelß: "Das sind die üblichen Behauptungen, gefühlte Wahrheiten, die aber bisher empirisch nicht belegbar sind. Die Zahlen derer, die den Weg über das Mittelmeer wagen, haben sich nicht signifikant geändert durch den Einsatz der privaten Seenotretter. Das ist empirisch untersucht worden."

Tatsächlich haben Elias Steinhilper und Rob Gruijters von der Universität Oxford im März 2017 eine Studie veröffentlicht, in der sie über einen längeren Zeitraum die Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer den Zahlen der Bootsflüchtlinge gegenüberstellten. Das Ergebnis: Mehr Rettungseinsätze führen nicht zu mehr Flucht. Einen Effekt haben die Seenotretter trotzdem: Es gibt weniger Tote.

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4. Betreiben die privaten Retter nicht sogar selbst Schlepperei?

Ein Freiwilliger der Organisation LIFEBOAT rettet Menschen vor der libyschen Küste || Foto: Imago | JOKER

Der Vorwurf ist noch direkter: Die NGOs machten sich sogar selbst der Schlepperei schuldig, wenn sie Migranten an Bord nehmen und dann nach Europa bringen. Der damalige österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka warf den "selbst ernannten Seenotrettern" 2017 sogar vor, sie würden "mit den Banden kooperieren". Bis heute gibt es dafür keine Beweise, die NGOs weisen die Vorwürfe zurück.

"Ich finde diesen Vorwurf absurd", sagt Alexander Proelß. "Die NGOs wollen nicht die Ziele der Menschenhändler fördern, sondern schlicht Leben retten."

5. Welche Ideen gibt es, um die Situation zu verbessern?

Einen klaren Standpunkt vertreten NGOs wie etwa "Sea Watch", eine rein durch Spenden finanzierte Initiative. Diese fordert eine "Safe Passage", also einen legalen Korridor für Flüchtlinge nach Europa. Aktuell sieht es aber nicht so aus, als hätte irgendein Politiker in der EU Lust darauf, sich für so etwas einzusetzen – eher im Gegenteil. "Wenn 2015 der Sommer der Migration war, dann ist 2018 der Sommer der Abschottung", schreibt beispielsweise die taz.

Der zuletzt stattgefundene EU-Gipfel hat in der politischen Debatte vor allem Begriffe wie "Ausschiffungsplattformen" und "Schutz der Außengrenzen" nach oben gespült. Die Botschaft ist jedenfalls klar: Europa macht dicht. Die meisten Experten sind sich allerdings einig, dass die Pläne der Politiker nicht nur die Rechte von Migranten verletzen, sondern auch unrealistisch und ineffektiv sind.

Dabei gäbe es auch durchaus realistische Ansätze – nur mehrheitsfähig sind sie momentan nicht. Beispielsweise könnte eine bestimmte Anzahl an Menschen aus Afrika legal in die EU kommen. Dafür verpflichten sich deren Heimatländer, die Flüchtlinge zurückzunehmen, die kein Bleiberecht haben. Um solche Abkommen umzusetzen, braucht man aber nicht nur Partner in Afrika. Die europäischen Länder müssen selbst erstmal klare Ansagen machen, wie sie sich das mit der Migration in Zukunft vorstellen. Deutschland zum Beispiel hat nicht mal ein Einwanderungsgesetz.

Im Moment schlagen sich unsere Politiker aber lieber die Köpfe über Wörter wie "Transitzentren" oder "Zurückweisung an der Grenze" ein, als sich mit echten Lösungen für diese Probleme zu befassen. Solange das so bleibt, werden die Menschen weiter versuchen, das Mittelmeer zu überqueren – und dabei auch immer wieder ertrinken.

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