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Die YouTube Trends boten Verschwörungstheorien über Münster tagelang eine Plattform

YouTube will, dass die Trends frei von "reißerischen und irreführenden Inhalten" sind. Eine Datenanalyse von Motherboard zeigt, dass nach der Amokfahrt von Münster das Gegenteil der Fall war.
Screenshot eines Videos, das nach der Münsteraner Amokfahrt über mehrere Stunden in den YouTube Trends landete und über mutmaßliche Verschwörungen rund um den Vorfall spekuliert | Screenshot: Motherboard

Am Nachmittag des 7. April steuert ein Mann einen Kleintransporter in den Außenbereich eines gut besuchten Münsteraner Cafés und tötet zwei Menschen. Dutzende werden verletzt. Knapp vier Stunden vergehen, bis die Polizei bekannt gibt, dass es sich beim Fahrer um Jens R. handelt, Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gebe es außerdem nicht. Die Polizei Münster bittet nach der Tat über ihren Twitter-Account insgesamt 15 Mal darum, keine Gerüchte und Spekulationen zu verbreiten. Betrachtet man die Informationslage zum Vorfall auf Youtube, scheinen die Appelle ins Leere gelaufen zu sein.

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Motherboard hat mit Hilfe eines Tools alle Videos gesammelt, die am Tag der Tat sowie in den drei folgenden Tagen in den YouTube Trends landeten. Die Trends sind eine von einem YouTube-Algorithmus zusammengestellte Liste, die die 50 viralsten YouTube-Videos in einem Land aufführen soll. Jede Stunde werden die Platzierungen von Platz 1 bis 50 wieder aktualisiert, um auf dem neuesten Stand zu sein. Wie genau der Algorithmus funktioniert, der entscheidet, auf welchem Platz ein Video aufgeführt wird, verrät YouTube nicht. Zu den wichtigen Kriterien sollen die Aufrufzahl, die Geschwindigkeit, mit der die Aufrufzahl steigt, Links auf das Video und das "Alter" des Videos gehören. Klar ist allerdings, dass viele Nutzer das Tool verwenden, um zu sehen, welche Videos gerade wichtig sind und aktuell viele Zuschauer finden.

YouTube selbst sagt, dass in den Trends keine Videos landen sollen, die "irreführend noch reißerisch sind oder Clickbaiting verwenden.". Unsere Analyse zeigt: Diesen Anspruch erfüllt keines der Videos über die Amokfahrt, die in den Trends landeten. Wer sich über die YouTube Trends zur Amokfahrt von Münster informieren wollte, der fand in den drei Tagen nach dem Vorfall kein Video, das faktisch korrekt und mit umfassendem Kontext informierte. Stattdessen zwei Clips mit Verschwörungstheorien, eine Falschmeldung, drei veraltete Medienberichte und ein Video, das suggeriert, dass es sich bei dem Vorfall um einen Terroranschlag handelt.

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Wir haben außerdem verglichen, wie häufig Videos nach dem Münsteraner Vorfall und zuvor im gesamten März mit einem nachrichtlichen oder politischen Anspruch in den Trends landeten. Dabei fällt auf: Nach der Amokfahrt fanden sich zahlreiche politische und angeblich nachrichtliche Videos in den Trends, während sonst Musikvideos, Clips bekannter YouTuber und und Scripted-Reality-Formate überwiegen. Im Falle von Unterhaltungsthemen mag es weniger schlimm sein, dass auch Clickbaiting und reißerische Videos in den Trends landen – nach einem nachrichtlichen Großereignis wie am 7. April allerdings werden die Trending-Listen so zu einem Sprungbrett für Verschwörungstheoriker.

Veraltete Medienberichte landeten am häufigsten in den Youtube Trends

Am Abend des 7. April um 20 Uhr – fünf Stunden nach der Tat – landet das erste Video zur Amokfahrt in den Youtube Trends. Ein User hat um 17:08 Uhr einen ersten Bericht der Tagesschau hochgeladen. Die Informationen von Korrespondentin Caroline Imlau, die sie zu dem Zeitpunkt aus Köln meldet, sind da noch spärlich. Moderator Constantin Schreiber stellt die Frage, was auf einen Anschlag hindeuten könnte. Imlau weist auf den Tathergang hin, wiegelt dann aber ab, dass man nur spekulieren könne.

Während die Informationen zum Zeitpunkt des Uploads noch aktuell waren, sind sie längst veraltet, als das Video mit dem Titel "Anschlag in Münster 7.04.2018" abends auf Platz 9 der YouTube Trends einsteigt. Zu diesem Zeitpunkt war das Video 20.743 Mal angesehen worden. Am Folgetag ist das Video zeitweise auf Platz 1 der Trends. Bis zum 12. April wurde das Video über 380.000 Mal angesehen, vier Tage lang war es in den Top 50 der YouTube Trends. In der ARD-Mediathek wurde das Video, anders als andere Tagesschau-Clips, inzwischen gelöscht. Auf YouTube ist es weiterhin zu finden.

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Ein weiteres Video zeigt einen Bericht des Nachrichtensenders Welt, der offenbar von einem Bildschirm abgefilmt und anschließend von einem User hochgeladen wurde. Auch hier sind die Informationen veraltet, als das Video am 7. und 8. April über Stunden in den Top 25 der YouTube Trends platziert ist.

Ein Video des offiziellen Youtube-Kanals der Bild ist ebenfalls am Tag der Tat und am Tag darauf in den Trends vertreten, zeitweise auf Platz 22. Auffällig: Das Video mit dem Titel “Tote und Verletzte: Anschlag in Innenstadt von Münster – Three dead after van ploughs into crowd” wurde mit dem Tag “terror” verschlagwortet. Obwohl die Polizei zum Zeitpunkt des Uploads um 17:18 Uhr noch keine Erkenntnisse zum Motiv des Täters hatte. In der Videobeschreibung heißt es, “Die Behörden gehen von einem Anschlag aus” und der Wagen werde auf Sprengstoff untersucht. Tatsächlich listete YouTube das Video auch noch am Sonntag in den Trends, also bekannt wurde, dass es sich um eine Amokfahrt handelt.

Ein Bild-Sprecher wies auf Anfrage darauf hin, dass die Motivlage am Samstagabend noch unklar gewesen sei. "Eine politische Motivation des deutschen Täters war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeschlossen", sagte der Sprecher. "Die Verwendung dieser Tags halten wir daher für legitim, da wir die Worte 'Terror' und 'Anschlag' bei BILD nicht einer bestimmten Herkunft oder Religion zuordnen." Ob man noch plane, die Tags oder Beschreibung zu aktualisieren, ließ der Sprecher offen.

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Verschwörungstheorien und Falschmeldungen statt sachlicher, einordnender Berichterstattung

Auch Verschwörungstheorien waren in den Tagen nach der Münsteraner Amokfahrt in den YouTube Trends vertreten. Ein Video des Users Ali Iscitürk mit dem Titel "Münster - Anschlag - Auffälliges Autokennzeichen!!! Das kann nicht sein!!!" spekuliert wegen eines Autokennzeichens, das mutmaßlich am Tatort fotografiert wurde, ob es sich bei dem Vorfall um eine sogenannte False-Flag-Operation, also einen vorgetäuschten Angriff, handeln könnte. Einziger Hinweis: Ein Kennzeichen mit den Buchstaben NY und den Ziffern 9011.

Zudem greift er die Theorie auf, Jens R. sei in Wahrheit ein Mitglied der PKK, fordert ein Foto der Leiche und behauptet, die Mehrzahl der Deutschen sei von Dämonen besessen. Das Video des Nutzers, der außerdem Videos über Chemtrails, Freimaurer und vermeintliche anti-russische Propaganda in einem der neuen Star-Wars-Filme hochlädt, wurde inzwischen über 38.000 Mal angesehen. Das Video war am 9. April zwischen 2 Uhr in der Nacht und 8 Uhr mehrere Stunden in den Trends und erreichte dabei Platz 42.

Screenshot des Videos eines Verschwörungstheoretikers zur Amokfahrt | Screenshot: Motherboard

Nutzer DetlefF lud am 8. April ein Video hoch, in dem er über Motiv und Identität des Täters spekuliert: Jens R. habe eine Kalaschnikow zu Hause gehabt. Sowas kenne man sonst nur von Islamisten. Außerdem zieht er Vergleiche zu den islamistischen Anschlägen in Stockholm und am Berliner Breitscheidplatz und nennt Jens R. schließlich einen "rechtsradikalen Islamisten". DetlefFs Kanal ist inzwischen gesperrt. Das Video allerdings ist noch verfügbar, es ist aber inzwischen ein Hinweis von YouTube vorgeschaltet worden, dass der Inhalt von manchen Zuschauern als "unangebracht gesehen werden könnte."

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Ein weiteres Video zeigt eine Festnahme eines Mannes in Münster. Die Videobeschreibung "Polizeieinsatz gegen arabisch aussehende Männer nach dem Attentat" suggeriert zumindest einen Zusammenhang zwischen der Amokfahrt und den gezeigten Geschehnissen. Hinter dem Upload steckt der Kanal "Bürgerprotest Hannover". Unter dessen Uploads sind vor allem Redebeiträge von Pegida-Demos und dem namensgebenden "Bürgerprotest Hannover".


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Unter dem Titel "Anschlag in Münster : Transporter rast in Menschengruppe - 3 Tote und viele Verletzte" zeigt ein weiterer Nutzer einen Zusammenschnitt der Bilder aus Münster sowie ein Bild mit der Aufschrift "Heute ist Münster dran". Auch dieses Video war kurzzeitig in den YouTube Trends.

Im Vergleich zu den hochgeladenen Medienberichten erzielten Videos mit Verschwörungstheorien oder Falschmeldungen deutlich niedrigere Platzierungen in den YouTube-Trends. Nichtsdestotrotz konnten einige dieser Videos vergleichbare Aufrufzahlen generieren.

Die Videos entsprechen nicht dem erklärten Anspruch von YouTube an die Trends

Während der gesamten 80 Stunden unserer Analyse war kein einziges Video in den Top 50 der YouTube Trends platziert, das über die Geschehnisse in Münster umfassend und ausgeglichen informiert und genug Kontext angesichts der unklaren Nachrichtenlage mitliefert.

Auch wer die YouTube-Suche nutzen möchte, um sich über die Tat zu informieren, stößt nicht unbedingt auf sachliche, kontextualisierende Berichterstattung. Sucht man, ohne mit einem bestehenden Konto eingeloggt zu sein, nach "Münster", ist das erste Ergebnis ein Video der Welt über Beatrix von Storch, die sich für eine Twitter-Entgleisung entschuldigt. Das zweite Ergebnis ist ein Beitrag von spiegeltv mit dem Titel "Amokfahrt in Münster: Versagen der Behörden?"

Auf Platz drei folgt eine Verschwörungstheorie: "Amokfahrt in Münster: die größten Ungereimtheiten". Obwohl das Video nicht in den YouTube Trends war, wurde es mehr als 109.000 Mal angesehen. Auch das Video von Ali Iscitürk ist unter den ersten Suchergebnissen, ebenso wie weitere mit Spekulationen und Gerüchten angereicherte Videos, darunter eines, das einen Vergleich zur Verschwörungstheorie Pizzagate zieht.

YouTube war zuletzt im Februar wegen Verschwörungsvideos zu einem Amoklauf in einer High School scharf kritisiert worden, unter anderem weil eines der Videos auf Platz 1 der YouTube Trends landete.

Auf unsere Anfrage, wie Youtube die in den Trends platzierten Videos zum Vorfall in Münster bewertet und ob diese nicht dem eigenen Anspruch widersprechen, verwies ein YouTube-Sprecher darauf, dass die Trending-Listen auf Algorithmen und nicht auf menschlicher Auswahl basierten. "Wir liegen vielleicht nicht in jedem Fall richtig", sagte der Sprecher per Mail. "Sobald wir von den Videos erfahren haben, haben wir einige von ihnen aus der Trending-Liste entfernt. Wir arbeiten daran, unsere Systeme für die Zukunft weiter zu verbessern."

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