Lang lebe die Freundin, die auf Festivals immer komplett durchdreht
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Festival Guide

Lang lebe die Freundin, die auf Festivals immer komplett durchdreht

Meine Muse Ellie ist die Person, die auf Festivals am meisten Spaß hat. Sie macht sich vorher aber auch am meisten Sorgen. Denn: Alles muss akribisch vorbereitet sein, um dann einfach nur noch feiern zu können.
Lisa Lotens
Amsterdam, NL

Dieser Artikel ist Teil des VICE Guides für Festivals, alle Texte findet ihr hier.

Jedes Festival braucht sie, jede Party wird mit ihr besser: Die Person, die am Sonntagmorgen, wenn alle anderen schon zu ihren Zelten zurückgekrochen sind, irgendwie noch ein letztes Fünkchen Energie aufwenden kann, um aus dem Last-Minute-Gig auf der Sleepless-Bühne das Beste rauszuholen. Die Person, die sich für zwei viertägige Wochenendfestivals direkt hintereinander entscheidet, und dabei aufgrund ihres übertriebenen Club-Mate-Verbrauchs fast an einer Überdosis Koffein stirbt, den sie überhaupt nur zu sich genommen hat, weil sie mal etwas langsamer machen wollte. Die nicht schläft, und stattdessen lieber Witze erzählend auf einem Stuhl vor ihrem Zelt sitzt und den Sonnenaufgang betrachtet, dabei immer eine Zigarette in der Hand – obwohl sie diese Angewohnheit im wahren Leben längst aufgegeben hat. Die jene Konzerte lieber auslässt, bei denen keine Gefahr besteht, dass das Trommelfell platzen könnte.

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Lass mich dir von meiner inspirierenden Freundin Ellie erzählen. Ich habe ihren Namen geändert, da ich sie davor bewahren wollte, dass sich Horden von Fans auf sie stürzen, die sie fragen, ob sie sie nicht auf ihr nächstes Festival begleiten wolle, um deren Erfahrung auf das höchstmögliche Level zu heben.

Zu meinem ersten Fusion Festival fuhr ich zusammen mit etwa zehn Leuten, mit dem Nachtbus von Amsterdam nach Lärz. Ellie ist die Person, die auf Festivals am meisten Spaß hat. Aber sie ist auch die Person, die sich vor Festivals am meisten Sorgen macht. Denn: Wenn sich ihre Mitreisenden nicht genug vorbereiten – besonders, was Alkohol und, nun ja, Drogen angeht – muss sie sich vielleicht für die anderen vor Ort um alles Nötige kümmern. Und Ellie findet es gar nicht cool, wenn man sich auf einem Festival über irgendetwas Sorgen machen muss. In diesem Fall hätte sie nämlich auch einen weiteren Tag in dem dunklen Loch namens Büro verbringen können.

Ellie bereitet akribisch alles für einen Festival-Besuch vor. Wirklich alles.

Die meisten Festivalbesucher sind während der Vorbereitungen vermutlich nicht sonderlich nervös. Sie investieren höchstens ein bisschen Geld in eine Flasche Wodka, Sonnencreme und vielleicht in eine kleine Pille, die dies oder jenes enthält. Ihre generelle Einstellung ist die, dass sich normalerweise alles irgendwie regelt. Immerhin kann man immer noch alles Mögliche auf dem Festivalgelände kaufen, und wenn man etwas vergessen hat, hat es im Normalfall jemand anders sowieso dabei. Für Ellie jedoch ist Festival-Vorbereitung ein stressiges und akribisches Unterfangen, damit sie ab dem ersten Schluck Wodka ihre komplette Aufmerksamkeit dem Sinn des Lebens widmen kann: komplett durchdrehen zu können, ohne auf irgendjemanden oder irgendetwas Rücksicht nehmen zu müssen.

Das Motto des unbremsbaren Dynamos ist "Sei vorbereitet!", oder besser noch "Planung ist einfacher als Problemlösung". Im Vorfeld des Festivals erstellt unsere kleine Macherin eine WhatsApp-Gruppe und trifft sich mit einem dubiosen Dealer, bei dem sie viel zu viel Geld in eine gemischte Tüte investiert, die so viele Optionen wie möglich enthält. Sie geht keine Risiken ein, daher wird die Tüte vorsichtig in ein Kondom eingerollt und am Boden einer Nivea-Dose vergraben. Kein Ort, an dem die armen deutschen Securitys ihre Finger vergraben würden.

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Während der Rest von uns ahnungslos im Büro sitzt, tippt, und voller Vorfreude ans Event denkt, kaut Ellie ihre Nägel ab und kontrolliert zum dritten Mal, ob sie auch wirklich alles eingepackt hat, das ihr eine sorgenfreie Festivalerfahrung ermöglicht.

Während ein Durchschnittsbürger vielleicht mit einem kleinen Festival-Nickerchen starten wollen würde; damit, die Gegend zu erkunden, etwas zu essen, oder einen Plan für den Abend zu machen, ist die treibende Kraft hinter der Festivalmotivation der Gruppe bereits komplett besoffen und entschlossen, diesen Tag in eine unvergessliche Party zu verwandeln.

Nachdem wir auf dem Gelände angekommen sind und unsere Zelte aufgebaut haben, leitet sie sofort den Beginn der Festlichkeiten ein, indem sie die roten Becher, die sie mitgebracht hat, mit zwei Dritteln Wodka und einem Drittel Orangensaft füllt. Der Spaßmotor höchstpersönlich hat die schlimmsten Kopfschmerzen von allen, da die Anreise so anstrengend war, aber ein anderes ihrer Mottos besagt: Wodka, lauwarmer O-Saft und drei Ibus sind das beste Betäubungsmittel. Höfliches Ablehnen wird nicht geduldet, und so ext jeder, egal wie fertig er ist, seinen Becher. Während ein Durchschnittsbürger vielleicht mit einem kleinen Festival-Nickerchen starten wollen würde; damit, die Gegend zu erkunden, etwas zu essen, oder einen Plan für den Abend zu machen, ist die treibende Kraft hinter der Festivalmotivation der Gruppe bereits komplett besoffen und entschlossen, diesen Tag in eine unvergessliche Party zu verwandeln.

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Wir stehen vor der Seebühne und nach einer Weile merke ich, dass meine liebste Festivalfreundin seit mindestens einer halben Stunde anstatt der Bühne die Büsche neben einem Klettergerüst antanzt. Da sie fälschlicherweise annimmt, dass dies der Ort sei, an dem der DJ die Musik spielt. Danach verbringt sie mindestens zehn Minuten damit, eine Zigarette zu rauchen, die gar nicht angezündet ist, und trägt dabei ihr löchriges Tanktop und einen Polizeihelm für Kinder vom 1-Euro-Shop. Das ist sehr inspirierend, da diejenigen, die es schaffen, ein Festival noch witziger zu machen, indem sie sich Dinge vorstellen – ohne dabei auch nur ein bisschen Selbstachtung zu verlieren – meinen tiefsten Respekt verdienen.

Und dann tanzt Ellie die "Dance Girls 2008"-HipHop-Choreo auf ein Technoset

Während der Rest von uns versucht, seine Müdigkeit zu verschleiern und in den Morgenstunden der ersten Festivalnacht einen Fuß nach dem anderen zu heben, haut Ellie eine professionelle Tanzchoreographie raus. Der Antrieb hinter jedermanns Spaß hat nämlich mal Hip-Hop-Tanz gelernt und dies ist eine gute Gelegenheit, ihr Können zu demonstrieren. Eigentlich sollten wir alle mittlerweile wieder in unseren Zelten sein, aber es gibt fast nichts Amüsanteres, als am Rande der Tanzfläche zu stehen und einem beeindruckend leidenschaftlichen Individuum dabei zuzusehen, die "Dance Girls 2008"-HipHop-Choreo auf ein Technoset zu tanzen.

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Ein paar Minuten, drei Wodka-Mate und einen rasenden Herzschlag später hat sie ihr Handy und ihre Kreditkarte verlegt. Doch ist sie sich diesen Dingen, die für andere Leute das Festival ruinieren könnten, überhaupt nicht bewusst. Stattdessen knutscht sie mit einem Franzosen, der ihrer Meinung nach Hank Moody von Californication ähnelt, im harten Tageslicht aber doch eher aussieht wie Harvey Weinstein nach einem harten Tag mit seinen Anwälten.

Während manche ihrer Freunde schon die ersten Symptome eines Katers spüren, ist Ellie noch nicht einmal auf dem Höhepunkt angelangt.

Irgendwann merkt sie dann, dass alle ihre Freunde zu einer Bühne gegangen sind, wo tatsächliche Musikinstrumente gespielt werden, und eine Melodie erahnt werden kann. Dies entfacht ihren Zorn und erhöht ihren Blutdruck, ist ihre goldene Regel doch: Boom, boom, boom! Ihre betrunkene schlechte Laune und unvergleichliche Überzeugungskraft manifestieren sich nun als Schwall grummeligen Gebrabbels, während sie die anderen mitzieht in Richtung des uninspirierten Gehämmers, das Marcel Dettman gerade auf dem Sleepless Floor produziert. Während manche ihrer Freunde schon die ersten Symptome eines Katers spüren, ist Ellie noch nicht einmal auf dem Höhepunkt angelangt. Ein letzter Schwung von Energie geht durch ihren Körper und sie tanzt plötzlich noch schneller, denn der Sleepless Floor "ist so fucking geil". Ellie bildet einen starken Kontrast zum Rest der Leute in der Nähe der Bühne, da von denen nicht viel mehr übrig ist als eine einzelne, wippende Dreadlock.

Mittlerweile ist elf Uhr morgens und genug ist genug, also stolpert sie – desorientiert, aber zufrieden – vom Festivalgelände und findet wundersamerweise ihr blaues Zelt. Die ersten ihrer Freunde wachen bereits erfrischt auf und angeln sich Würstchen aus Gläsern, etwas, das sie nie verstehen wird. Nichtsdestotrotz: Grund genug, einen neuen Tag zu beginnen, schlafen könnte sie eh nicht. Nachdem sie ein leichtes Frühstück zu sich genommen, kurz ihr bisheriges Leben Revue passieren lassen hat, eine Runde geschwommen ist, und die ersten Club Mate durch ihre Adern fließt, macht sie sich mit einem kleinen Tütchen und großen Kopfschmerzen auf den Weg zurück zum Gelände. Dort erfreut sie ihre Freunde ein weiteres Mal mit einem atemberaubenden Feldzug über das Festivalgelände, bevor sie ab Montag wieder das echte Leben feiert – im Büro.

Bald gehe ich wieder mit ihr weg. Aber es gibt nur wenige Dinge, die mich glücklicher machen, als die Aussicht, meine Turbo-Partyfreundin auf einem weiteren Festival zu beobachten.

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