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Die Wiederauferstehung des Jeremy Lin

Erinnert ihr euch noch an die Linsanity? Als der Ex-Harvard-Student Jeremy Lin die amerikanische Öffentlichkeit verzückte? Seitdem musste er sich heftiger Kritik aussetzen, weil er kein Superstar ist. Seit er in Charlotte spielt, werden sein Hater...
Photo by Soobum Im-USA TODAY Sports

Jeremy Lin—früherer Kurzzeit-Superstar und jetziger Point Guard bei den Charlotte Hornets—hat vor Kurzem ein interessantes Interview geben:

„Wir hatten einige Teams auf der Liste", so Lin in Bezug auf seinen Status als Free Agent im vergangenen Sommer. Er spricht vor einer Handvoll Reportern, die gerade mal einen Bruchteil von denen ausmachen, die zu Linsanity-Zeiten dem damaligen Shootingstar auf Schritt und Tritt folgten. „Und Charlotte stand auf dieser Liste anfangs nicht besonders weit oben, trotzdem bin ich hier gelandet. Das überrascht mich aber nicht wirklich, da es in meinem Leben noch nie so gekommen ist, wie ich es erwartet oder geplant hatte. Ich wäre vielmehr überrascht, wenn mal alles nach Plan verlaufen würde."

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Es gibt unterschiedliche Lesarten zu den vergangenen drei Jahren von dem Mann, der in der Saison 2011/12 urplötzlich und völlig unerwartet aus den Niederungen der D-League in den 25 Spiele währenden Basketballolymp aufgestiegen ist. Für die einen ist er das typische Beispiel einer gehypten Eintagsfliege, die zu Knicks-Zeiten auf der Welle der positiven Berichterstattung über sich hinausgewachsen ist, im Anschluss aber auf den (mittelmäßigen) Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde. Andere hingegen sehen in seinen Leistungen in Houston und Los Angeles keinen Widerspruch zu seinen Linsanity-Glanzzeiten. Denn aus ihrer Sicht hat er—angesichts der Umstände—noch das Bestmögliche rausgeholt und bisweilen sehr gute Leistungen gezeigt, nicht zuletzt dann, wenn man ihm wirklich die Chance gab, sein Spiel aufzuziehen.

„Lin kann auf zwei Positionen spielen", so Charlotte-Coach Steve Clifford. „Er kann einmal neben [dem Starting Point Guard der Hornets] Kemba Walker spielen, und er kann als Point Guard spielen … Mir hat seine Art zu spielen von Anfang an gefallen, so wie auch schon Mike d'Antoni."

Mike d'Antoni war der Trainer bei den Knicks, der Lin—auch aus der Not heraus—die Chance seines Lebens gegeben hat. Was danach passiert ist, das moderne Märchen eines Spielers, der vor seinem Durchbruch auf der Couch von Teamkollege Landry Fields schlafen musste, ist schon oft genug erzählt worden. Die Geschichte des jungen Mannes, der nach Harvard geht, nicht gedraftet wird und dessen Hautfarbe ihn von so ziemlich jedem Spieler in der Liga unterscheidet, der einfach komplett anders aussieht als ein typischer Point Guard in Amerika. Traurigerweise macht es fast Sinn, dass Lin in der Liga nie die gleiche Chance wie andere Spieler bekommen hat.

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Beim sogenannten Player Efficiency Rating (PER) kam Lin im Alter von 23 Jahren auf einen Wert von 19,9. Walker, durchaus ein guter Spieler, schaffte im selben Alter ein PER von 16,8. Das war letztes Jahr. Im Anschluss, also zur Saison 14/15, verlängerte er bei Charlotte seinen Vertrag um vier Jahre und wird dafür insgesamt 48 Mio. Dollar einstreichen. Im Gegensatz dazu begann für Linn im Alter von 23 Jahren eine dreijährige Odyssee. Angefangen hat alles in New York: Die Knicks wiesen Free Agent Lin an, einfach irgendwo in der NBA einen Vertrag zu unterschreiben, die Knickerbockers würden dann mit ihrem Gehaltsangebot dementsprechend nachziehen. Lin machte, wie ihm gesagt wurde, nur dass die Houston Rockets, die auch nicht direkt auf den Kopf gefallen sind, infolgedessen einen Vertrag aushandelten, der dem Franchise aus New York finanziell wehtun sollte. So funktioniert nun mal die NBA, auch wenn sich Knicks-Boss Jim Dolan sehr darüber echauffiert hat und am Ende auch noch gegen Lin nachgetreten hat.

Endlich rollt der Lin-Express wieder. Foto: Sam Sharpe/USA TODAY Sports

Auch NBA-Spieler äußerten sich kritisch über den Deal und Jeremy Lin. Carmelo Anthony, der derselben Spielergewerkschaft angehört wie Lin, nannte den Vertrag „lächerlich." (Der Dreijahresvertrag über 25 Mio. Dollar war übrigens gerade mal die Hälfte wert von Walkers Vertragsverlängerung.) Und J.R. Smith meinte sogar, dass der Vertrag in der Spielerkabine für Stress sorgen könnte. Zahlreiche Spieler werden auch in den Augen von NBA-Kollegen überbezahlt. Doch die Chuzpe, diese Meinung an die Öffentlichkeit zu tragen, hatten NBA-Spieler nur bei Lin.

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Trotz aller Kritik wurden die Rockets um Lin herum aufgebaut—bis nur wenige Tage vor Saisonbeginn James Harden verpflichtet wurde. Der Trade war aus Rockets-Sicht durchaus nachzuvollziehen: Schließlich ist James Harden einfach James Harden.

Lin ist ein Spieler mit offensichtlichen Stärken: eine Assist-Quote, die während der Linsanity bei 41 Prozent lag (was damals der sechsbesten Quote der NBA entsprach); sowie ein Zug zum Korb, den so auf seiner Position fast keiner hatte. Diese Meriten sind jedoch davon abhängig, dass Lin auch den Ball in seinen Händen hält. Doch der Harden-Deal nahm ihm den buchstäblich wieder aus der Hand, indem er dazu degradiert wurde, Hardens Defensivschwäche auszugleichen. Erwartungsgemäß ging das Experiment in die Hose, sodass die Rockets nach zwei Jahren ihre Lin-Pläne wieder ad acta legten. Als man sich um Free Agent Carmelo Anthony bemühte, entwarfen die Texaner ein Plakat, das Melo im Rockets-Trikot mit Lins Nummer zeigte. Es war für Lin endgültig an der Zeit zu gehen. Doch es sollte noch schlimmer werden.

Denn nach Houston kam Los Angeles, genauer gesagt das Team um Basketball-Opa Kobe Bryant. Bei den Lakers sollte es Lin mit einem Trainer zu tun bekommen, dessen Lebensaufgabe scheinbar darin besteht, jungen Point Guards gleich mehrere Steine in den Weg zu legen: Byron Scott. Auch wenn sein Jahr bei den Lakers aufgrund der miserablen Teamergebnisse einen persönlichen Karrieretiefpunkt dargestellt haben wird, war es gleichzeitig auch seine beste Saison seit Linsanity, mit einem PER-Wert von 15,6. Mit einem PER-Wert von 14,9 bezogen auf die letzten drei Jahre war Lin zu jeder Zeit ein absolut durchschnittlich guter NBA-Spieler. Und wenn er in der Zeit mal eine echte Chance bekam, sein Spiel zu spielen, glänzte er regelmäßig: So auch an dem einen Abend im Dress der Rockets, als Harden verletzungsbedingt ausfiel und Lin in seiner Abwesenheit 38 Punkte im Spiel gegen die Spurs versenkte. Und auch in Los Angeles zeigte er stets, was in ihm steckt, wenn man ihm zur Abwechslung mal etwas mehr Einsatzzeit gab. In solchen Partien sammelte er regelmäßig mehr als 20 Punkte und/oder mehr als 10 Assists. Und welche Lehren zog Coach Scott aus solchen Galaauftritten seines Schützlings. Er verdonnerte ihn im nächsten Spiel einfach wieder auf die Bank.

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Es gibt wohl keinen Guard in der NBA, der in einer Tour dermaßen auf Twitter und anderswo in den Dreck gezogen wird, dessen Fehlwürfe in den sozialen Medien so gefeiert werden, dessen Erfolge kategorisch kleingeredet werden. Das trifft leider auch auf die 30 Scouting-Abteilungen der Liga zu, die damals sein Talent nicht erkannten und voller Schadenfreude reagierten, als seine Leistungen wieder nachließen. Ganz nach dem Motto: Wir hatten also doch recht, der Junge taugt nix. Passend dazu verriet mir ein Ligaverantwortlicher: „Ich glaube, dass dahinter schon auch ein rassistisches Element steckt".

All das führte dazu, dass sein Marktwert diesen Sommer, als er mal wieder Free Agent war, endgültig—und völlig übertrieben—im Keller gelandet war. Lin hatte also nur eine Chance: Er brauchte ein Team mit einem System, das es ihm erlauben würde, seine Stärken endlich wieder auszuspielen.

„Am Ende haben wir uns vor allem darüber Gedanken gemacht, wo Jeremy am besten hinpassen würde", erzählt mir Lins Spieleragent Jim Tanner. „Er und Hornets-Trainer Clifford haben lange Gespräche darüber geführt, wie Lin in Charlotte eingesetzt werden würde. Das hat schließlich den Ausschlag gegeben."

Endlich hat er ihn wieder in der Hand. Foto: Mike DiNovo/USA TODAY Sports

Aktuell kommt Lin auch in Charlotte von der Bank, doch dort bekommt er deutlich mehr Einsatzzeit.

Und auch wenn man es kaum glauben kann, die drei Jahre NBA-Fegefeuer haben dem Spiel von Lin nichts geschadet, ganz im Gegenteil sogar. Denn er konnte sowohl seinen Sprungwurf als auch seine Dreierstatistik erheblich verbessern. Was Würfe „from downtown" betrifft, hat er zu Linsanity-Zeiten 32 Prozent seiner Versuche verwandelt, in den darauffolgenden Jahren ging seine Quote stetig aufwärts (33,9, 35,8 und 36,9 Prozent). Gerade aus dem Halbfeld zeigt sich Lin so effizient wie noch nie.

„Ich habe sehr an meinem Sprungwurf gearbeitet und bin jetzt endlich selbstbewusster", verriet Lin kürzlich in einem Interview. „Auch von hinter der Dreierlinie werfe ich jetzt, ohne mit der Wimper zu zucken."

Lin scheint in Charlotte endlich angekommen zu sein, doch in Wahrheit ist es wahrscheinlicher, dass es nur ein kurzes Gastspiel wird. Lin hat einen Zweijahresvertrag über lächerliche vier Millionen Dollar unterschrieben. Die finanziellen Abstriche hat er zähneknirschend in Kauf genommen in der Hoffnung, endlich wieder sein Spiel, also mit dem Ball in der Hand, aufziehen zu können. Für die kommende Saison hat er eine Ausstiegsklausel. Gut möglich, dass er 2016 pünktlich zum neu angestiegenen Salary Cap seinen Marktwert testen will. Zumal er nächsten Sommer immer noch erst 27 ist.

In der Zwischenzeit ist Lin einfach darüber glücklich, wieder seine Form des Basketballs spielen zu können—so, wie er es während der kurzen Linsanity-Phase tat und wie es ihm in den letzten drei Jahren verwehrt war.

„Es geht mir weniger darum, Leuten irgendetwas beweisen zu wollen, ich fühle mich einfach nur wieder frei und glücklich. Ich kann endlich wieder meine Stärken ausspielen"