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Alkohol

Das ultimative Getränk für Silvester: Cocktails aus euren Tränen

Workshops, die einem zeigen, wie man aus seinen Tränen Cocktailbitter macht, bringen zusammen, was zusammen gehört: unsere Trauer und das, worin wir sie ertränken wollen.
All photos by Katherine Lewis

Es ist spät am Abend und nasskalt draußen. Meine Augen sind geschwollen und brennen, mein Zug hat Verspätung. Ich bin müde und ehrlich gesagt fühle ich mich ein bisschen weinerlich. Betrunkene ziehen an mir vorüber. Ich halte eine eine wunderschön eingepackte Box umklammert, in der sich zwei antike braune Phiolen befinden. Darin enthalten: meine Tränen.

Die letzten zwei Stunden habe ich—komplett in Schwarz gekleidet—in einem dunklen Raum verbracht und aus meinen eigenen Tränen Cocktailbitter hergestellt. Der „Bitter Tears"-Workshop von Sam Bompas und Harry Parr ist Teil ihrer außergewöhnlichen Cocktailbar Alcoholic Architecture. Im British Museum of Food kann man bei dieser Veranstaltung alles über die Geschichte von Pflanzenextrakten als Tinkturen und die Bedeutung des bitteren Geschmacks erfahren und dieses Gefühl der Verbitterung am eigenen Leib erleben.

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Im Laufe des Abends werden wir zwei Fläschchen mit eigenen Cocktailbitter herstellen.

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Cocktailbitter sind würzige Tinkturen, die in Cocktails gegeben werden, um ihnen einen gewissen Kick zu verleihen—klassischerweise im Manhattan oder im Old Fashioned. Ursprünglich wurden sie als Medizin verwendet, um bei Verdauungsproblemen Abhilfe zu schaffen und allgemein das Wohlbefinden anzukurbeln. Mit Alkohol ließ sich der Pflanzensaft auch gleich besser schlucken. Irgendwann wurde dann aber der ursprünglich rein medizinische Nutzen zur Nebensache und man gönnte sich gern noch einen kräftigen Extraschluck—ist ja gesund. Heute kehren wir aber zu den Wurzeln der Bitter aus Pflanzen zurück: Sie sollen unsere Seele reinigen und erfrischen.

Da stehe ich also nun inmitten eines Raumes, der nur von weißen Kerzen erhellt wird. Vor mir stehen Becher und Tassen gefüllt mit allen möglichen Pflanzenrinden und -wurzeln. Unser Host heute Abend ist Iska Lupton. Auch sie ist ganz in Schwarz gekleidet und gestikuliert wie wild mit ihren Armen, während sie spricht und uns die Geschichte der Bitterkeit und der Tränen in all ihren Facetten erzählt.

Iska Lupton, die Gastgeberin des „Bitter Tears"-Workshop

Die kulturelle Geschichte der Bitterkeit ist lang und düster. Meist verbindet man damit automatisch etwas Negatives. Selbst in der Natur ist das so: Unsere Geschmacksknospen nehmen Bitteres viel stärker wahr als zum Beispiel Salziges oder Saures, weil es meist giftig ist.

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Das zeigt sich auch in der Psychologie. Bitterkeit ist nicht eine der „typischen" sieben Basismotionen, wie sie der Vorreiter der Psychologie, der Amerikaner Paul Ekman, beschrieben hat: Überraschung, Verachtung, Freude, Traurigkeit, Wut, Ekel und Angst. Eher eine Mischung aus allen Emotionen mit Ausnahme der Freude. Für Ekman ist Bitterkeit die Grundlage für Hass.

In der deutschen Sprache hat Bitterkeit vor allem etwas mit Groll und Verdruss zu tun. Für viele Psychologen ist dieses Gefühl extrem gefährlich und kann Beziehungen zerstören. Um diese Wunden zu heilen, muss die Bitterkeit von innen nach außen gekehrt werden. Eine Möglichkeit, genau das zu tun, ist zu weinen.

Es gibt drei Arten von Tränen: Basale Tränen befinden sich fast immer auf unserer Netzhaut, damit diese auch gut befeuchtet ist. Reflextränen werden produziert, wenn wir äußeren Reizen wie zum Beispiel Staub ausgesetzt sind. Bei den emotionalen Tränen schließlich sind die Ursachen nicht hundertprozentig geklärt. Sie sind, so erklärt man mir, der Heilige Gral der Tränen.

Tränengefäße werden schon in der Bibel erwähnt. In Psalm 56:8 betet David zu Gott: „Zähle die Wege meiner Flucht; fasse meine Tränen in deinen Krug." Der Legende nach haben die Frauen während des amerikanischen Bürgerkrieges ihre Tränen in Fläschchen abgefüllt und ihren Liebsten geschickt. Aber Tränen für den Cocktail? Das ist was Neues.

Die Autorin riecht an Würztinkturen

Nach dem kurzen Vortrag bekomme ich eine Pipette, ein Reagenzglas und zwei braune Glasfläschchen in die Hand gedrückt. Um mich herum stehen zehn Frauen und zwei Männer. Die beiden Herren der Schöpfung scheinen einerseits voller Tatendrang zu sein, wirken gleichzeitig aber auch etwas gehemmt—ein bisschen so, als hätten sie die Cocktailparty eines Hexenzirkels gesprengt. Normalerweise bringt mich so schnell nichts zum Weinen, heute bin ich aber fest entschlossen, so viele emotionale Tränen wie nur irgendmöglich zu produzieren.Ab jetzt habe ich 50 Minuten Zeit, um ordentlich zu heulen.

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Um den Tränenfluss zu erleichtern, helfen uns die Veranstalter mit einer Reihe von sogenannten „Erfahrungen". Zuerst sitze ich unter einem schwarzen Stück Stoff und höre Musik. Ich bekomme Nirvana, Radiohead und irgendein Streicherquartett auf die Ohren. Depressiv, düster, sanft. Ich nicke zustimmend mit dem Kopf, Tränen fließen allerdings noch nicht.

Der Schmetterlingsraum

Weiter zu Erfahrung Nummer zwei: der Raum der Sinne. Zuerst bin ich einem quadratischen Raum, wo kleine Schokotröpfchen ausliegen. Ich soll mir eines nehmen und mich voll auf den Geschmack konzentrieren. Ich esse fünf auf einmal und schiebe direkt noch einmal fünf hinterher. Meine Gedanken driften ab. Weiter zum Schmetterlingsraum, an dessen Decke zahlreiche Schmetterlinge umherflattern. Ich versuche, an die Vergänglichkeit des Lebens zu denken, statt Tränen fließt aber nur Schweiß. Es ist verdammt warm hier drin. Schnell raus hier, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Langsam mache ich mir auch Sorgen, dass irgendwas mit meiner Gefühlswelt nicht stimmt. Bin ich zu kalt?

Mit einem starken Cocktail in der Hand schaue ich mir an, wie weit die anderen schon gekommen sind. Um mich herum überall Frauen mit Pipetten—bestimmt sind sie nicht nur wunderschön, sondern können auch ganz wunderbar weinen.

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Warum wir überhaupt Tränen vergießen, wird schon lange diskutiert. Weinen könnte ein soziales Signal sein, oder der Beruhigung dienen—man weiß es einfach nicht. Laut Literaturkritiker Tom Lutz wurde Weinen erstmalig auf Steintafeln der Kanaaniter erwähnt, also im 14. Jahrhundert vor unserer Zeit. Darin wird die Göttin Anat erwähnt, die den Tod ihres Bruders, des Erdgottes Ba'al, beweint. Anscheinend hat sie „sich an ihrer Trauer gelabt und Tränen wie Wein getrunken." Mir scheint, als hätte dieser Workshop hier auch sehr gut auf ihrem Mist wachsen können.

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Obwohl ich es immer noch nicht geschafft habe zu weinen, meint Iska Lupton, dass ich trotzdem schon mal die Basis für meinen Cocktail-Bitter zusammenstellen sollte. Ich entscheide mich für eine starke Grundnote Grapefruit, dazu ein wenig Enzian, Kardamom, Kümmel und viel, viel Nelke.

Das Notfall-Zwiebel-Tablett

Die Zeit ist fast vorbei und eine Zutat fehlt noch. Ich gehe zum „Notfalltisch", nehme mir das Messer und schneide eine perfekt geformte Zwiebel damit auf. Ich atme tief ein und gehe sogar so weit, mir ein bisschen vom Zwiebeldunst in die Augen zu wehen. Von einem Stück ziehe ich die feine Membran ab und reibe mir damit die Augen. Der Schmerz ist unerträglich und ich breche in Tränen aus. Ein breites, triumphierendes Grinsen erfüllt mein Gesicht. Schnell versuche ich, an etwas Trauriges zu denken: ein kleines Kätzchen allein auf der Autobahn, die weltpolitische Lage, die globale Erwärmung und die Tatsache, dass ich nie einen Preis in der Schule gewonnen habe.

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Ich fange die Tränen mit meiner Pipette auf und gebe sie auf den letzten Drücker in die kleinen Fläschchen. Mit denen im Gepäck werden wir dann wieder auf die kalten, dunklen, nassen Straßen Londons geschickt.

Fünf Tage später, nachdem mein Liebster langsam den Ekel überwunden hatte, darf ich uns endlich ein paar Old Fashioned mit meinen Tränen machen. Weil ich in der Regel ziemlich okaye Cocktails mache, kann es so schrecklich nicht gewesen sein. Er meinte aber, dass es so einen kratzenden, strengen Nachgeschmack gab. Pah. Wenn man mit vollem Körpereinsatz für seine Cocktailbitter gearbeitet hat, trifft ein solcher Kommentar umso härter. Er wird mich schon noch vermissen, wenn ich nicht mehr da bin.