FYI.

This story is over 5 years old.

Fußball

Ultras hassen die Nationalmannschaft, deswegen waren wir mit einem beim Public Viewing

Muetze ist Schalker Rapper und bewegt sich im Ultra-Umfeld. Wie so viele aktive Fans lehnt er das Produkt Nationalmannschaft ab. Unser Autor war mit ihm beim Public Viewing und hat erfahren, was er gegen Party-Patrioten und die „Mannschaft" hat.
Alles Fotos: Roman Pilgrim

Max Giesinger, du bist also diesmal der Macker. Der Bourani 2016. Mit deinem umgetexteten Hochzeitsschlager „80 Millionen" hast du Platz eins in den deutschen Single-Charts gestürmt. Von wegen David Guetta oder Herbert Grönemeyer. Schön für dich. Aber eins muss ich dir mal sagen: dein Text ist so nicht richtig. Hinter denen stehen nicht 80 Millionen. Ich übrigens auch nicht.

Sicher, die Euphorie um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist eines unserer Massenphänomene der letzten zehn Jahre. Doch es gibt auch einen nicht gerade unbeachtlichen Anteil der Bevölkerung, der darauf genauso gut verzichten kann wie auf Herpes. Und das trifft nicht nur auf irgendwelche verschrobenen Feuilletonisten zu, für die Fußball per se Opium für den Pöbel ist. Es sind auch viele eingefleischte Fußballfans, allem voran Ultras, Kurvensteher oder Aktive der jeweiligen Vereins-Fanszenen, die den Support der Nationalmannschaft ablehnen.

Anzeige

Warum eigentlich genau? Um das herauszufinden, habe ich mir einen von diesen Nationalmannschaftsnihilisten gepackt und ihn zum Gespräch mit soziologischer Feldforschung in die Höhle des Löwen geschleppt. Gemeinsam mit dem Schalker Rapper Mütze bin ich zum großen Public Viewing von Deutschland gegen Polen nach Bochum gefahren. Mütze, eigentlich Markus, ist in der Schalker Fanszene aktiv, hat Tracks über seinen Verein veröffentlicht und steht der Ultra-Ideologie nahe. Der Sozialarbeiter engagiert sich gegen rechts und macht Musikprojekte mit Geflüchteten. Alles in allem eine Kombination, durch die das Konstrukt Nationalmannschaft bei ihm eher weniger Endorphine ausschüttet.

Als wir beim Public Viewing ankommen, bietet sich uns schnell das übliche Bild: Schüler, Studenten, Pärchen. Lustige Hüte auf den Köpfen, Blumenketten um die Hälse, Schminke im Gesicht. Das Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Fans ist recht ausgeglichen, vielleicht 60 zu 40. Man merkt, man ist im Ruhrgebiet. Auf der Bühne stellt die Sparkasse, die hinter diesem Fest steckt, ihr EM-Maskottchen „Sparleo" vor—ein Löwe mit Sparkassen-Trikot, der so aussieht, als ob er das Hirngespinst der Raucherpause eines 64-jährigen Bankkaufmanns aus der Filiale in Wattenscheid ist. Mütze und ich wollen direkt wieder umdrehen. Wären da nicht unser am Spiel interessierter Fotograf und Mützes Wette.

VICE Sports: So, da sind wir. Schau's dir an. Ich frage mal direkt wie Kerner: Was macht das mit dir?
Mütze: Angst. Es ist echt gruselig. Die Fankultur der Nationalmannschaft ist Ballermann. Davon ist Deutschland geprägt. Diese ganzen peinlichen Fanartikel. Kein Fan von Schalke, Werder oder meinetwegen auch Bayern rennt mit Cowboy-Hüten oder Hasenohren in den Vereinsfarben herum.

Anzeige

Betrifft aber nicht nur die Deutschen, wie du siehst. Kann ich jetzt mit meiner Abstammung eigentlich noch für Polen sein?
Mach, wie du meinst. Ich bin auf jeden Fall für Polen. Nicht, weil ich total gegen Deutschland stänkern will. Ich habe bei Tipico auf ein 1:0 für Polen getippt. 10er-Quote, ey!

Achso, auf Länderspiele tippen ist also ok, der Support aber nicht. Was sind denn jetzt die Gründe deiner Ablehnung der Nationalmannschaft?
Vorweg erst mal: Ich habe nicht unbedingt etwas dagegen, wenn jemand meint, zur EM oder WM Fußball zu gucken und Deutschland zu unterstützen. Ich mache es aber nicht, weil ich nicht einsehe, die ganze Saison über Spieler aus Dortmund oder Bayern zu verfluchen, ihnen dann aber alle zwei Jahre zuzujubeln. (Während er das sagt, hat Götze in den ersten Spielminuten eine größere Chance auf dem Fuß.) Da! Ihm zum Beispiel. Hättest du ihm das gegönnt?

Weniger. Oder stell' dir mal vor, Großkreutz hätte 2014 das WM-Siegtor geschossen.
Übelst. Hinzu kommt die ganze Kommerzialisierung, die ich ablehne. Es geht doch hier wirklich nur noch um das Event. Auch für die Massen, die sonst nichts mit Fußball zu tun haben. Viele Ultras, die ich kenne, lehnen ja diese Friede-Freude-Eierkuchen-Kultur des DFB ab. Oder die Machenschaften der FIFA, die es zu lassen, dass Menschen ausgebeutet werden und sterben, nur damit irgendwo in der Wüste eine WM stattfinden kann. Dann ist da natürlich noch dieser Nationalstolz, der bei Länderspielen mitschwingt und mir persönlich, egal bei welchem Land, auf den Sack geht. Das hat für mich, vor dem Hintergrund der ganzen nationalen Bewegungen in Europa oder den AfD-Erfolgen in Deutschland momentan, einen ganz bitteren Beigeschmack.

Anzeige

Naja. Kommerz? Die Arena heißt Veltins, auf dem Trikot steht Gazprom. Und stolz sind die Fans auf ihre Vereine ja auch.
Klar. Die Kommerzialisierung ist für viele ja auch in der Bundesliga und bei den eigenen Vereinen ein Riesenthema. Sonst gebe es keine Boykott-Aktionen, wenn die Ticketpreise für Auswärtsspiele mal wieder unverschämt hoch sind. Es ist immer ein Spagat. Ich finde aber, DFB und FIFA sind in dieser Hinsicht einfach noch mal eine andere Dimension. Zumal man als aktive Fanszene oder Mitglied eines Vereins eventuell Wege der Mitbestimmung finden könnte. Und was den Vereinsstolz angeht: Persönlich habe ich halt eine engere Bindung zum Verein aus meiner Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wo meine Freunde und Familie leben, als zu meinem Land.

Wobei Vereinsfans nicht zwingend aus der jeweiligen Stadt kommen. Andererseits gibt es kaum Fans, die eine andere Nationalmannschaft unterstützen. Ich habe aber den Eindruck, der Partypatriotismus ist weniger geworden. Was mir bei dieser EM auffällt, sind die vielen Rechten aller Länder, die sich beim Turnier blicken lassen.
Das ist auch immer so eine unangenehme Begleiterscheinung bei den Nationalmannschaften. Die Rechten nutzen dieses Umfeld, um sich zu präsentieren, auch wenn die Spieler Boateng heißen. Davon will ich mich größtmöglich distanzieren.

Nach einer unspektakulären ersten Halbzeit fällt ein Besucher, anscheinend vor Langeweile, um und muss von den Sanis versorgt werden. Mütze und ich holen uns zwei überteuerte und überfettete Krakauer mit Senf, weil wir das für ein gutes Omen halten, damit die Polen 1:0 gewinnen und Mütze seinen Gewinn einsacken kann. Nach Wiederanpfiff haben die Polen dann tatsächlich eine gute Chance durch Milik, wenig später einen aussichtsreichen Freistoß.

Anzeige

Achtung jetzt.
Komm, ich will das Neuer einen reinkriegt. Ach, verdammt.

Das Thema Manuel Neuer lassen wir jetzt mal besser sein. Würdest du aber sagen, dass diese Anti-Haltung gegenüber der Nationalmannschaft in Schalker Kreisen besonders ausgeprägt ist?
Weiß ich nicht. Ich kann nicht für alle sprechen und habe auch keine Vergleiche zu anderen Vereinen. Natürlich hat Schalke traditionell ein schwieriges Verhältnis zum DFB und eine sehr aktive und ideologisch aufgeladene Fanszene. Ich habe zum Beispiel mal gehört, dass dieses „Club, not Country"-Logo, das seit ein paar Jahren im Netz kursiert, von einem Schalker kommt.

Ich glaube, das stammt ursprünglich aus England. Die haben ja teilweise eine sehr ironische Beziehung zur Nationalmannschaft, bei der Fans der unterklassigen Vereine alte Rechnungen untereinander begleichen. Apropos: einige Länder schaue ich mir aus Entertainment-Gründen gerne an. Die Engländer mit ihrer Magaluf-Stimmung zum Beispiel.
Die Iren sind auch immer ganz witzig. Deutschland ist einfach irgendwie zu steif. Diese ganzen WM- und EM-Songs hier sind schon die Endstufe der Peinlichkeit. Oliver Pocher oder so. Haben wir eigentlich eine echte Fankultur bei der Nationalmannschaft?

Ich meine, nicht. Oder kennst du irgendeinen Gesang, der spezifisch für die deutsche Nationalmannschaft ist?
Nein.

Komm, egal. Wir versuchen jetzt mal die letzten 25 Minuten des Spiels interessiert als Fußballfans zu verfolgen.
Boh, das ist für mich wie BVB gegen Bayern gucken. Es juckt mich nicht. Wie muss das eigentlich für die Spieler sein, die aus dem gleichen Verein kommen und jetzt gegeneinander spielen?

Das Spiel plätschert vor sich hin. Mütze kann dem Ganzen nur noch wenig Aufmerksamkeit abringen. Er beginnt über seinen geplanten Videodreh zu reden. Oder darüber, was gut und was schlecht an „Ahnma" von den Beginnern ist. Es fängt an zu regnen. Nur unser Fotograf will das Spiel unbedingt noch zu Ende gucken. Dann ist es vorbei. Null zu Null. Die Leute gehen kommentarlos nach Hause, der Autokorso fällt heute leider flach. In den Bundesliga-Stadien würden jetzt noch ein paar originäre Vereinshymnen gespielt. Auf dem Bochumer Public Viewing läuft Max Giesinger.