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Was es mit Finnlands 800 Euro-Grundeinkommen tatsächlich auf sich hat

Wir haben mit dem finnischen Sozialwissenschaftler gesprochen, der die Forschungsgruppe zur Durchführung des Grundeinkommens-Experiments leitet.
Bild: Imago/CTK Photo

Wir erinnern uns: Finnland hatte sich im Juni diesen Jahres unter dem neuen Ministerpräsidenten Juha Sipilä zur Durchführung eines Grundeinkommensexperiments in seinem Koalitionsvertrag verpflichtet; hauptsächlich, um die hohe Arbeitslosigkeit im Land zu bekämpfen, aber auch, um die Sozialsysteme zu entlasten und besser an den demographischen Wandel sowie gesellschaftliche Veränderungen anzupassen.

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Seit ein paar Tagen macht nun folgende Schlagzeile in den Medien die Runde: „Finnland: 800 Euro Grundeinkommen für jeden!" Aber stimmt das überhaupt? Wir haben jemanden gefragt, der es wissen muss: Professor Olli Kangas, Leiter der Forschungsgruppe des Sozialversicherungsinstituts KELA, verantwortlich für die Durchführungs des finnischen Experiments mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Als Wohlfahrtsbehörde, die zuständig für die Zuteilung von Sozialleistungen ist, wird KELA von zwei finnischen Universitäten, Regierungskommissionen und einem Think Tank unterstützt.

„800 Euro? Das ist nur eine Summe, da steht noch gar nichts fest!"

Momentan beginnt die Forschergruppe, die von Herrn Kangas geleitet wird, Vorschläge für die Durchführung des Experiments in Finnland zu gestalten. Dafür hat sie in etwa noch ein Jahr Zeit, doch bereits Ende März 2016 soll ein erster Entwurf vorliegen, wie Kangas gegenüber Motherboard am Telefon erklärt.

MOTHERBOARD: Herr Kangas, was genau wird in Finnland passieren?

Olli Kangas: Finnland hat sich dem Start eines Experiments [mit dem Grundeinkommen] im Koalitionsvertrag verschrieben. Es soll 2017 beginnen und zwei Jahre dauern. Danach wird es evaluiert. Die Regierung hat dazu einen Wettbewerb ausgeschrieben, den wir gewonnen haben, und am 5. Dezember hatte unser Konsortium die erste Anhörung dazu. Wir sind jetzt also beauftragt, die Durchführung dieses Experiments zu planen. Dafür stellt die Regierung für zwei Jahre 20 Milliarden Euro bereit.

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Wo kommt überhaupt dieser Betrag von 800 Euro her, der gerade überall in den Medien auftaucht?

Das ist eine gute Frage! Das ist doch nur eine Summe, mehr nicht. Dabei steht noch überhaupt nichts fest. Es könnte diese Summe oder eine höhere oder niedrigere Summe werden.

Aber wie viel Geld ist denn realistisch zum Überleben?

Das kommt darauf an, welche Leistungen man dafür streicht—und wo und wie man lebt. Die Aufgabe meiner Forschungsgruppe ist, Vorschläge für vier verschiedene Modelle auszuarbeiten, die die Regierung uns in Auftrag gestellt hat.

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Ich glaube, es interessiert gerade viele Menschen, wie genau ein solches bedingungsloses Grundeinkommen von staatlicher Seite umgesetzt werden kann. Könnten Sie uns diese Modelle mal in einfachen Worten erklären?

Ok, das erste und sicher auch interessanteste ist das „volle Grundeinkommen". Dieses sollte alle vom Einkommen abhängigen Leistungen ersetzen. Das bedeutet, dass es eine ziemlich hohe Summe sein sollte. Unsere Grundrente liegt bei ungefähr 750 Euro pro Monat. Aus dieser Perspektive betrachtet, müsste das niedrigste denkbare Grundeinkommen bei ungefähr 800 Euro im Monat liegen. In einer Umfrage sagten die meisten Finnen allerdings, dass es um die 1000 Euro im Monat betragen sollte.

Wie auch immer: Um die existierenden Sozialleistungen abzudecken, sollte diese Summe zwar eigentlich höher sein, aber dann kriegen wir ein echtes politisches Problem mit unseren Gewerkschaften.

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Wie kommt das?

Bei uns sind die Gewerkschaften dafür verantwortlich, die Arbeitslosenversicherung flächendeckend zu verwalten, und das wiederum sorgt für eine unglaubliche Gewerkschaftsdichte in Finnland. Die liegt bei 70 bis 75 Prozent, das ist die höchste Dichte in der ganzen OECD-Hemisphäre.

Und auch die Arbeitnehmer-Rentensysteme sind gegen diese Option, weil sie dann für die meisten Arbeitnehmer überflüssig würden. Zu guter Letzt wäre das System sehr teuer und die marginalen Steuersätze wären zu hoch, um legitim zu sein und von der Mehrheit der Einkommensverdiener akzeptiert zu werden.

Wie sehen die anderen drei Modelle aus?

Das zweite Modell nennen wir „partielles Grundeinkommen", was natürlich ein wenig paradox ist. Bei uns liegt das Nettoniveau für die Grundversorgung in der Arbeitslosenversicherung bei 550 Euro. Das könnte auch der Grundbetrag für das partielle Grundeinkommen sein. Der Vorteil wäre, dass wir verschiedene Beträge für verschiedene Regionen haben könnten, in denen die Lebenshaltungskosten unterschiedlich hoch sind. Man kommt ja mit demselben Geld in Helsinki nicht so weit wie weiter oben im Norden oder in ländlichen Regionen. Das ist eine Herausforderung, der wir uns als riesiges Land mit wenigen Einwohnern stellen müssen.

Als drittes sollen wir noch die Möglichkeit ausarbeiten, ein Modell mit einer negativen Einkommenssteuer durchzurechnen. Und letztlich haben wir noch die Möglichkeit, uns eine ganz andere Option auszudenken, bei der uns die Regierung freie Hand lässt.

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Möglich wäre da zum Beispiel, dass wir einige KELA-Sozialversicherungsleistungen wie das Arbeitslosengeld, das Minimum an Mutterschutz und Krankheitstagen, Sozialassistenzleistungen und weiteres zusammenlegen. Dazu würde dann noch ein sogenanntes „Teilnahme-Einkommen" gezahlt werden: Also ein Bonusgeld, wenn der Kunde Arbeiten im Dienstleistungssektor oder gesellschaftlich relevante Aufgaben übernimmt.

Und was machen Sie jetzt mit diesen Ideen?

Erstmal ein paar ausgewählte Gruppen zum Testen zu finden. Am Liebsten wäre uns ein Sample, das auf nationaler Ebene repräsentativ ist; ein regional repräsentatives Sample, eins aus einer größeren Stadt und letztlich ein sehr großes Sample von ungefähr 30 Prozent der Gesamtbevölkerung aus kleineren Orten.

Im Idealfall können wir randomisieren, was in den Sozialwissenschaften immer wichtig ist, um ein valides Ergebnis zu bekommen. Damit können wir mehr oder weniger verlässlich zwischen denen, die ein Grundeinkommen bekommen und einer Kontrollgruppe vergleichen, die nichts bekommt.

Das Problem ist, dass die Randomisierung noch nichts über die Konsequenzen des Grundeinkommens aussagt, also was es für die Interaktion der Menschen bedeutet, wenn sie das Grundeinkommen beziehen—oder welche externen oder institutionellen Faktoren eine Rolle spielen.

Wenn zum Beispiel Menschen in einem kleinen Ort ein Grundeinkommen beziehen, ändert sich ihr Verhalten gegenüber anderen Menschen. Ihr Arbeitgeber wird sie anders behandeln—und umgekehrt. Begegnungen zwischen unseren Kunden und Bürokraten wie Sozialarbeitern oder Beamten laufen anders ab. Und auch der Umgang zwischen einzelnen Institutionen wird sich ändern. Naja, aber am Ende ist es die finnische Regierung, die entscheidet, wie es weitergeht.

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Wo liegen die Hürden?

Vor allem in der Frage: Wie wählen wir die Leute aus, die das Grundeinkommen erhalten? Unsere Verfassung schreibt die Gleichbehandlung aller Bürger vor. Selbst für das Sample wird es dann schwierig, die Auswahl zu rechtfertigen. Und wenn alle Erwachsenen denselben Betrag erhalten, haben die, die vorher schon gespart haben, trotzdem mehr zur Verfügung; was das Ergebnis verzerren könnte. Familien mit mehreren Kindern wären dann außerdem benachteiligt, weil alle anderen Sozialleistungen wegfallen, auf die sie vielleicht trotzdem angewiesen wären.

Diese Probleme der Gleichbehandlung zu lösen, ist allerdings nicht allein unsere Aufgabe, sondern die einer Regierungskommission. Wir werden auf jeden Fall den verfassungsrechtlichen Rahmen zum Experimentieren voll ausschöpfen.

Klingt super, wann darf ich Sie denn wieder nerven?

Wir hoffen, einen Zwischenbericht schon bis Ende März 2016 zu schaffen. In jedem Fall müssen die ausgearbeiteten Vorschläge für das Experiment in knapp einem Jahr, am 15.11.2016, der Regierung vorliegen. Aber vielleicht beeilen wir uns auch und unterbieten die Deadline ein wenig.

Das muss ziemlich aufregend für Sie sein, oder? Wenn es klappt, werden Sie ein Star der modernen Kapitalismuskritik—auch, wenn Sie das vielleicht gar nicht so freut.

(Lacht) Ich freue mich auf jeden Fall über die Aufgabe. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist das alles sehr, sehr außergewöhnlich und kommt wahnsinnig selten vor. In den Sozialwissenschaften macht man ja nicht so häufig solche großen Experimente. Ich bin sehr gespannt!

Wir auch. Vielen Dank für das Gespräch!