Wir haben Experten gefragt, wie schlimm 2016 wirklich war

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Jahresrückblick

Wir haben Experten gefragt, wie schlimm 2016 wirklich war

Von A wie Aleppo bis Z wie Zika: Wir haben die Schreckensmeldungen deiner Filterblase von Experten auf ihre historische Bedeutsamkeit hin einschätzen lassen.

Illustration von Eva Rust

Syrien, Hitzetote, Prince, Brexit, Terroranschläge und Trump: 2016 scheint alle Voraussetzungen zu erfüllen, um als bisher schlimmstes Jahr des 21. Jahrhunderts in die Annalen der Geschichte einzugehen—zumindest wenn du der Filterblase auf deiner Timeline Glauben schenken willst. Denn in diesem selbstreferenziellen Datenkonstrukt haben sich die Schreckensmeldungen dieses Jahr regelrecht überschlagen. Die jüngsten Meldungen des Attentats auf den russischen Botschafter in Ankara und des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin sowie die Tode von George Michael und Carrie Fisher markieren das Ende einer ganzen Reihe an besorgniserregenden Ereignissen aus Politik, Umwelt und Kultur:

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  • Im Januar ist in Brasilien der Zika-Virus ausgebrochen.
  • Im Februar mussten in Delhi zehn Millionen Menschen ohne Wasser auskommen.
  • Im März haben Selbstmordanschläge in Ankara, Brüssel, Iskandariya und Lahore 171 Todesopfer gefordert.
  • Im April ist Prince verstorben.
  • Im Mai sind innerhalb von nur drei Tagen über 700 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken.
  • Im Juni hat das britische Stimmvolk für den Brexit gestimmt, während das Schweizer Stimmvolk den Mindestlohn abgelehnt hat.
  • Im Juli sind im Zuge des vereitelten Putschversuchs in der Türkei über 6.000 Menschen verhaftet worden.
  • Im August hat Cannes den Burkini verboten.
  • Im September forderte der Wirbelsturm Matthew in der Karibik rund 1.600 Tote.
  • Im Oktober forderte eine Serie von Erdbeben in Italien rund 300 Tote.
  • Im November wurde Trump zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt.
  • Im Dezember wurde Aleppo von syrischen und russischen Streitkräften dem Erdboden gleichgemacht.

Es stellt sich die Frage: War 2016 tatsächlich eine beispiellose Aneinanderreihung von Schreckensmeldungen, die sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit einprägen wird? Und welchen Einfluss spielte dabei der immer grösser werdende Vernetzungsgrad der globalen digitalen Gemeinschaft auf die Wahrnehmung, Gewichtung und Einordnung historischer Ereignisse? Um diesen Fragen nachzugehen, haben wir einige ausgewählte Beispiele von unabhängigen Experten einordnen lassen:

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Putschversuch in der Türkei

Wir sprachen mit Dr. Anita Gohdes, Assistenzprofessorin für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft (IPZ) der Universität Zürich.

VICE: 2016 fand in der Türkei neben zahlreichen Anschlägen auch ein Putschversuch statt. Erdogan nutzte die Situation, um seine eigene Macht zu festigen und die Opposition zu schwächen. Wie bedeutend sind diese Umwälzungen aus einer historischen Perspektive? 
Dr. Anita Gohdes: Die brutalen Massregelungen, die wir in der Türkei seit dem Putschversuch sehen, sind als extrem besorgniserregend einzustufen. Im Hinblick auf die derzeitige politische Situation in der Region gibt es keinen Grund anzunehmen, dass sich die Lage in der Türkei demnächst verbessern wird. Die Forschung zu staatlicher Repression zeigt, dass Regierungen (ganz gleich ob demokratisch oder autokratisch) vor dem Hintergrund einer imminenten inländischen Gefahr—wie im Falle eines Putschversuches, oder bei Terroranschlägen—deutlich repressiver werden können, ohne dabei die Unterstützung der Bevölkerung zu verlieren.

Im Gegenteil sehen wir in historischer Perspektive, dass solche Gefahren eher zu einer breiteren Unterstützung in der Bevölkerung führen können. Das heisst, dass Putschversuche oder Terroranschläge Regierungen die Legitimation geben, großflächig unter dem Vorwand der inneren Sicherheit gegen ungewollte Oppositionsbewegungen und aber auch Journalisten, Wissenschaftler und andere "Störenfriede" vorzugehen.

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Welche Auswirkungen werden diese Entwicklungen auf Europa haben?
Eine direkte Auswirkung ist, dass die Türkei—anstatt ein Land zu sein, das Geflüchteten aus Kriegsgebieten ein sicheres Zuhause bieten kann—nun selbst Geflüchtete produziert; Menschen, die vor Verhaftung und Verurteilung durch den türkischen Staat aus dem Land flüchten. Gerade im Zuge der grossen politischen Herausforderungen, vor denen die europäischen Länder angesichts der grossen Anzahl von Schutzsuchenden aus Konfliktländern stehen, ist die zunehmende Erosion der demokratischen Institutionen in der Türkei mit grosser Sorge zu betrachten.

Die EU hat im Frühjahr dieses Jahres ein höchst problematisches Abkommen mit der Türkei unterzeichnet, welches im Grunde genommen der EU erlaubt, sämtliche Asylsuchende in die Türkei zurückzuführen. Dieses Abkommen ist vor dem Hintergrund der starken Zunahme von politischer Repression in der Türkei als noch prekärer zu verstehen.

Wie beurteilen sie die Wahrnehmung, 2016 sei das schlimmste Jahr seit Ende des Kalten Krieges gewesen?
Wie schlimm etwas ist, ist ja immer abhängig von den Dimensionen, die man betrachtet, sowie auch von der Sichtbarkeit der schlimmen Dinge, die passieren. 2016 sind sehr viele schlimme Dinge sichtbar geworden. Das heisst aber nicht, dass diese schlimmen Dinge ihren Ursprung im Jahr 2016 hatten. Der Syrienkonflikt, die gesellschaftliche Polarisierung und der zunehmende Populismus in der Politik in den USA und in Europa waren auch schon letztes Jahr da, bei vielen von diesen Dingen kann man jetzt eben nicht mehr einfach wegschauen.

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Trump und Brexit

Wir sprachen mit Dr. Florian Foos, Oberassistent für Policy-Analyse am Institut für Politikwissenschaften (IPZ) der Universität Zürich.

VICE: 2016 war für Rechtspopulisten ein äusserst erfolgreiches Jahr. In England wurde der Brexit beschlossen und in den USA wurde Trump zum Präsidenten gewählt. Wie bedeutend sind diese Ereignisse aus einer historischen Perspektive?
Dr. Florian Foos: Diese Ereignisse sind sicher historisch bedeutend, weil sie zeigen, dass gesellschaftlicher und politischer Fortschritt nicht unumkehrbar ist. Wenn man sich die Geschichte Europas oder auch der USA anschaut, dann dürfte es eigentlich niemanden überraschen, dass die Geschichte nicht linear verläuft. Aber für meine Generation, die nach dem Kalten Krieg im Westen Europas politisch sozialisiert wurde, ist das eine ganz neue Erfahrung. Man hat den Eindruck, dass es 35 Jahre lang in eine gesellschaftsliberale und gleichzeitig in eine wirtschaftsliberale Richtung ging. Daran hat auch die Finanzkrise und die anschliessende Wirtschaftskrise relativ wenig geändert.

Auch wenn die Entscheidung zum Brexit und die Wahl Trumps überraschend sind, basieren sie auf Entwicklungen, die sich schon länger abzeichnen und die ja auch als Gegenbewegung zu gerade diesen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen verstanden werden können. Ich habe von 2006 bis 2014 in Grossbritannien gelebt. Der Brexit kam zwar unerwartet, aber uns war schon allen klar, dass die Abstimmung sehr knapp ausgehen wird und dass sich die Gesellschaft polarisiert hat.

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Welche Auswirkungen wird der Brexit auf die westliche Politlandschaft haben? 
Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen diese zwei Ereignisse auf Europa, also auf die EU-27 ohne Grossbritannien, haben. Die Auswirkungen wird man zu allererst natürlich in Grossbritannien und in den USA sehen. Und dort ist die Situation vor allem von einer grossen Unsicherheit geprägt, weil man nicht weiss, wie die Entscheidungen, die 2016 getroffen wurden, 2017 realpolitisch ausgeführt werden. Die Europäische Union befindet sich eigentlich schon seit dem 2005 in Frankreich und den Niederlanden abgelehnten Verfassungsvertrag, aber sicher seit der Entscheidung der deutschen Regierung, 2009 nicht für die griechischen Schulden aufzukommen, in einer Krise.

Ich denke nicht unbedingt, dass der Brexit diese Krise weiter verschärfen muss. Kurzfristig könnten die Brexit-Verhandlungen sogar dazu führen, dass die EU-Mitgliedstaaten enger zusammenrücken. In Grossbritannien wird es entweder darauf hinauslaufen, dass die konservative Regierung unter Theresa May ihre Versprechungen hinsichtlich einer Begrenzung der Personenfreizügigkeit nicht einhalten wird, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, dass Grossbritannien das eigene Blatt überspielt, und 2018 ohne ein klares Abkommen mit der EU dasteht. In beiden Fällen verlieren die Briten mehr als die EU-27.

Wie wird sich Trumps Wahl auf Europa auswirken?
Die Wahl Trumps sehe ich eigentlich mittelfristig als eine grössere Gefahr für Europa, aber auch als eine Chance zur Emanzipation. Die Wahrscheinlichkeit, dass die USA und Russland enger zusammenrücken ist relativ hoch. Es gibt jetzt eine klare Alternative zur liberalen Demokratie: die autoritäre, illiberale Demokratie und ihre Unterstützer wie die FN, die FPÖ und die AfD in Europa. Man wird sehen, ob diese Alternative wirklich populärer ist als ein System, das natürlich bei weitem nicht perfekt ist, das im direkten Vergleich aber vielen Menschen in Westeuropa trotzdem als das bessere erscheinen wird.

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Wie beurteilen sie die Wahrnehmung, 2016 sei das schlimmste Jahr seit Ende des Kalten Krieges gewesen?
Natürlich war aus linksliberales Sicht 2016 ein schwarzes Jahr. Ich denke, die Situation ist aber bei Weitem nicht so schlimm wie in den 30er-Jahren, die ja oft als Vergleich angeführt werden. Die Mehrheit der Bevölkerung ist viel höher gebildet als damals und in Westeuropa und Nordamerika ist der Werteliberalismus viel stärker verwurzelt, besonders in der jüngeren Generation. Im Endeffekt kommt es darauf an, wie sich diese Entscheidungen, die Abstimmung über den Brexit und die Wahl Trumps auswirken.

Was mir Mut macht, ist zum einen, dass diese reaktionären Bewegungen sehr heterogen und politisch schlecht organisiert sind und eigentlich zu früh erfolgreich waren. Manchmal frage ich mich, ob die Situation wirklich langfristig besser wäre, wenn die Ja-Kampagne zum Brexit und Trump knapp verloren hätten. Die Alternative wäre ja kein klarer Sieg des liberalen, kosmopolitischen Lagers, sondern ein knapper Sieg, der den gesellschaftlichen Konflikt auch nicht langfristig gelöst hätte. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Brexit-Lager in Grossbritannien und Trump Opfer des eigenen, frühen Erfolges werden. Das ist natürlich nicht garantiert, aber diese Möglichkeit würde ich nicht unterschätzen. Beide Bewegungen vertreten Programme, die sich nur schwer umsetzen lassen und beide Seiten stehen jetzt in der politischen und wirtschaftlichen Verantwortung. Es ist schon schwerer gegen die Eliten Politik zu machen, wenn man selbst regiert. Man wird sehen, ob sie dieser Verantwortung auch im Auge ihrer Unterstützer gerecht werden.

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Naturkatastrophen

Wir sprachen mit Dr. Margreth Keiler, Leiterin der Abteilung Geomorphologie am Geographischen Institut der Universität Bern.

VICE: Hat das Ausmass und die Häufigkeit von Naturkatastrophen im Vergleich zum letzten Jahrhundert zugenommen?
Dr. Margreth Keiler: Diese Frage ist schwierig zu beantworten, da wir heute viel mehr und detaillierte Informationen haben als in den letzten hundert Jahren. Vor hundert Jahren waren maximal vereinzelte Berichte über Ereignisse in anderen Regionen vorhanden. Nur sehr grosse Katastrophen wurden in den Medien aufgenommen. Ereigneten sich Katastrophen in einem wenig besiedelten Raum, beziehungsweise in Räumen, die wirtschaftlich nicht mit dem Weltmarkt verbunden waren, so wurden diese nicht dokumentiert. Eine gute Dokumentation besteht erst in den letzten Jahrzehnten, zuvor sind ausserordentliche Ereignisse dokumentiert, mittlere und kleinere Ereignisse sind nicht erfasst.

Zudem ist das Aussmass eines Ereignisses abhängig von der Grösse des Ereignisses (flächige Ausbreitung, Stärke des Erdbebens) sowie von der Anzahl betroffener Personen. Aufgrund des Bevölkerungswachstums und der Konzentration von Siedlungen und Städten in gefährdeten Gebieten kann ein Ereignisse mit der gleichen Grösse heute zu einem völlig anderen Ausmass des Ereignisses führen.

Inwiefern hat sich die Gefahrenlage im Vergleich zum letzten Jahrhundert verändert? 
In vielen Region werden Veränderungen aufgrund der globalen Klimaveränderungen bereits dokumentiert. Es treten zum Beispiel in Asien häufiger und stärkere Taifune auf und Monsunregen fallen intensiver aus als vor einigen Jahrzehnten. In anderen Regionen hingegen bleibt der Regen komplett aus und es kommt zu Dürren oder zu einer höheren Anzahl von Hitzewellen. Betrachtet man nur die letzten 30 Jahre, dann ist ein Anstieg der hydro-meteorologischen Ereignisse (Hitze, Dürren, Überschwemmungen) zu erkennen, während Ereignisse wie Erdbeben oder Vulkanismus keinen grundsätzlichen Anstieg zeigen. Dabei ist zu beachten, dass es bei allen Ereignissen zu Schwankungen kommt und es so zufällig in manchen Jahren zu einer Häufung kommt, obwohl der langjährige Trend aber gleich bleibt.

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Wie gut ist die Menschheit auf die Umweltkatastrophen der Zukunft vorbereitet?
Dies kann nicht allgemein beantwortet werden, da es abhängig ist von der Kapazität und der Möglichkeiten der jeweiligen Gesellschaft, die betroffen ist. Die westlichen Staaten haben Ressourcen, um sich besser zu schützen oder die Auswirkungen besser zu verkraften. Andere Nationen haben weniger Ressourcen und somit sind die Auswirkungen viel höher und wirken zudem auch länger nach (z.B. Haiti und Philippinen).

Meist wird der Reduktion von möglichen Risiken wenig Beachtung geschenkt und man wird erst nach dem Ereignis tätig, jedoch bestehen Absichten und politische Programme (Sendai 2015) hier eine bessere Vorsorge aufzubauen.

Die Tode von Prince und David Bowie

Wir sprachen mit Dr. Dieter Ringli, Dozent für Musikästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

VICE: Welche Lücken hinterlassen Prince und Bowie in der internationalen Musikszene?
Dr. Dieter Ringli: Mit David Bowie und Prince haben sich zwei weitere der ganz Grossen im letzten Jahr verabschiedet. Damit lässt sich ein Gezeitenwechsel in der Popmusik nicht länger leugnen: Stars wie Bowie und Prince, die über Jahrzehnte die Musikszene in einem Mass geprägt haben, sind typisch für die Anfangszeit der Popmusik im letzten Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert sind solche "Überväter" rein aufgrund der Menge an Popmusik und Stile nicht mehr möglich. Die Stars kommen und gehen schneller, die verschiedenen Sub-Genres sind unüberschaubar breit geworden. Eine breite Öffentlichkeit erreicht nur noch, wer sich im Mainstream bewegt. Die anderen, die schrägen, aussergewöhnlichen, wie es Prince und Bowie waren, werden heute nur noch in den einzelnen Sub-Szenen wahrgenommen. Das Dinosauriersterben ist ein Zeichen dafür, dass die Popmusik nun in eine neue Phase tritt. Sie ist längst nicht mehr ein jugendlicher Gegenentwurf zur Erwachsenenwelt, keine Subkultur mehr.

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Wodurch haben sich die beiden Künstler unterschieden?
Beide waren stilprägende Figuren von unglaublicher musikalischer Qualität. Beide multimedial. Optik und Musik waren gleichermassen wichtig, beide traten in der Öffentlichkeit schräg und schrill in perfekter Inszenierung auf. David Bowie hat das Songwriting weiterentwickelt und auf ein neues Niveau gehoben. Er hat einen neuen Gesangsstil entwickelt: extreme Intensität ohne Rockröhre. Bowies prägendster Einfluss auf die Popkultur war aber, dass er sich in der Öffentlichkeit wie auf der Bühne in seinem eigenen Universum inszenierte, als Ausserirdischer, als Trans- und Bisexueller, als Kunstfigur in abgedrehten Verkleidungen auf der Bühne erschien. Bowie übersteigerte so die Zelebrierung der Authentizität, die in der grosswerdenden Rockszene der Endsechziger unglaubwürdig geworden war. Er transportierte die Popmusik, die in schummrigen Clubs gross geworden war, auf die grosse Bühne der schillernd-bunten Multimedia- und auch Medien-Inszenierung—und hatte trotzdem immer Stil.

Prince konzentrierte sich auf die Musik, perfektionierte Form, Sound und Performance. Eine „Message" hatte er nicht, abgesehen von seiner übersteigerten Erotik. Damit befreite er aber die ernstzunehmende Popmusik vom Zwang der Welterklärung und -verbesserung, was letztlich den gesamtgesellschaftlichen Siegeszug der Popmusik erst möglich machte. Zudem machte Prince das Tanzen und die Choreografien salonfähig. Vor Prince galten durchchoreografierte Shows als musikalisch billig. Tanz und Choreografie seien nur dazu da, um von der dürftigen Musik abzulenken, so die gängige Musiker- und Journalistenmeinung bis zu Prince.

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Die Filterblase

Wir sprachen mit Dr. Fabial Ryffel, Postdoc am Lehrstuhl für Medienpsychologie und Medienwirkung am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ) der Universität Zürich.

VICE: Inwiefern verzerrt die technologische Entwicklung der sozialen Medien die Wahrnehmung, Gewichtung und Einordnung historischer Ereignisse?
Dr. Fabian Ryffel: Aktuelle Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass News-Inhalte auf sozialen Medien geteilt oder kommentiert werden, steigt, je mehr der eigenen Kontakte die Inhalte bereits geteilt oder kommentiert haben. Dies mag zunächst trivial klingen, bedeutet jedoch letztlich, dass es nicht mehr nur Journalisten sind—also Personen mit entsprechender Kompetenz und entsprechendem Kontextwissen—die für uns Relevantes von Irrelevantem trennen, sondern auch unsere Peers auf sozialen Netzwerken. Dies kann durchaus zu einer verzerrten Relevanzwahrnehmung führen.

Beispielsweise ist es denkbar, dass historisch gesehen wenig relevante Inhalte zu einzelnen Kriminalfällen in gewissen Kreisen grosse Resonanz erfahren und diese Resonanz Nutzerinnen und Nutzern hohe Relevanz suggeriert. Ebenso ist es denkbar, dass andere News-Inhalte, die tatsächlich ein grösseres historisches Gewicht haben, in diesen Kreisen wenig Beachtung finden und demnach auch als weniger relevant eingeschätzt werden.

Welchen Einfluss haben Gruppendynamiken in sozialen Medien auf die individuelle Betroffenheit?
Menschen tendieren dazu, Einzelbeobachtungen auf die Gesellschaft zu extrapolieren. Das heisst, dass wir als Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien fälschlicherweise annehmen, dass die Ansichten, die in unserer Timeline erscheinen, gewissermassen repräsentativ für die Gesellschaft sind. Dabei bedenken wir aber zu wenig, dass wir etwa viel eher mit Personen aus einem vergleichbaren sozioökonomischen Hintergrund interagieren als mit Personen, die eine komplett andere soziale Herkunft haben. Im Zuge derartiger Prozesse können natürlich Gruppendynamiken entstehen, welche die individuelle Betroffenheit beeinflussen. So ist es beispielsweise denkbar, dass uns zwei oder drei Betroffenheitsbekundungen zu einem Schicksal fälschlicherweise suggerieren, dass alle anderen Menschen von dem Schicksal mitgenommen sind. Dies kann sich auch auf die eigene Betroffenheit auswirken. Mit anderen Worten ist davon auszugehen, dass unsere Betroffenheit mitunter von Wahrnehmungen der Mehrheitsmeinung beeinflusst ist und Wahrnehmungen über die Mehrheitsmeinung wiederum stark davon abhängen, mit wem wir auf sozialen Medien interagieren.

Wird die Welt Ihrer Meinung nach tatsächlich immer schlimmer, oder wirkt das nur so? 
Auf diese Frage gibt es keine objektive Antwort; das ist also in der Tat eine Frage nach einer persönlichen Meinung. Ich persönlich denke nicht, dass die Welt immer schlimmer wird. Viel eher liegt es meiner Meinung nach nahe, dass derartige Wahrnehmungen zustande kommen, weil wir durch neue Informationskanäle viel unmittelbarer an schrecklichen Ereignissen teilhaben können.

Fazit

Wie jedes Jahr, sind auch 2016 einige weltbewegende Dinge passiert. Doch die Welt bleibt in Bewegung. Veränderungen finden kontinuierlich statt. Somit ist es unwahrscheinlich, dass sich 2016 zum bedeutendsten Jahr des noch jungen Jahrhunderts mausern und sich in die Reihe von 1648 (Westfälischer Frieden), 1789 (Französische Revolution), 1871 (Deutsche Reichsgründung) und 1914 (Ausbruch des Ersten Weltkrieges) einordnen wird. Der Menschheit bleiben immerhin noch 83 Jahre, um 2016 in punkto Negativität im 21. Jahrhundert zu übertrumpfen. Was ihr in ihrem aktuellen Zustand nicht besonders schwer fallen dürfte. Sofern also die evolutionäre Revolution, die der Menschheit zu einem kollektiven Bewusstsein verhelfen wird, nicht schon vor der Tür steht, darf man ruhig davon ausgehen, dass 2017 mindestens so scheisse werden wird wie 2016.

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