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Mittagspause

Essen am Schreibtisch ist nicht nur traurig, es ist auch ungesund

Aber der Boss sagt: „Go for it!”
Alle Fotos von Grey Hutton

Was ist trauriger, als ein Carazza zu essen? Ein Carazza am Arbeitsplatz zu essen. Nichts fällt einem im Job schwerer, als sich bei der Arbeit zwanzig oder dreißig Minuten Auszeit zu nehmen, um für eine Mahlzeit den Ort zu wechseln. Laut einer Studie der Technischen Krankenkasse gibt jeder zweite Arbeitnehmer an, dass er nicht ausreichend Zeit hat, in Ruhe während der Arbeit zu essen.

Ob es eine Mini-Pizza für die Westentasche oder eine Bento-Box mit Sushi ist, wir nehmen unser Essen gerne Al Desko zu uns. In der einen Hand unsere Mittagspause, in der anderen die Arbeit. Und Studenten schreiben Hausarbeiten mit einem Lappen Flammkuchen im Mund, umringt von angebissenen Avocado-Toasts und überbrühtem Bialetti-Kaffee.

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Bloß keine Teller schmutzig machen.

Gesund ist das allerdings nicht, denn Essen sollte bewusst zu sich genommen werden. Wer Multitasking beim Essen betreibt, isst so lange weiter, bis der Teller oder die Packung leer ist, und verdaut schlechter. Wer sich Zeit nimmt, kann sein Mittagessen genießen und das Sättigungsgefühl hält länger an. Und wenn man schon 8,99 Euro für ein veganes Pilzrisotto mit Pinienkernen ausgegeben hat, sollte man es auch beim Essen anschauen, anstatt mit den Augen den vorletzten Facebook-Post und die nächste Mail zu fixieren. So zumindest die wünschenswerte Theorie.

Eine Studie der Humboldt-Universität Berlin hat herausgefunden, dass ein gemeinsames Essen mit den Arbeitskollegen zwar vor einer Besprechung das soziale Geschick steigert, die Konzentration allerdings merklich senkt.

Wer hingegen alleine isst, bleibt eher am Ball—und kommt zum Alleineessen auch noch das Essen während der Arbeit hinzu, bleibt die Produktivität fast erhalten.

*ARTIKEL: Die traurigen Mahlzeiten der Berliner Büroarbeiter*

Die industrielle Revolution machte das Mittagessen während der Arbeit salonfähig. Innovative Konzepte wie Cafeterias und Kantinen fütterten den hungrigen Arbeiter, der zu weit fahren musste, um zwischendurch daheim zu essen. Große Restaurants siedelten sich in den vergangenen Jahrzehnten besonders gern um Bürogebäude an, erfanden den Mittagstisch und machten die Mittagspause zu ihrem Hauptgeschäft: Angestellte konnten hier in ihrer Pause heuschreckenartig einen schnellen Businesslunch zu einem besonderen Preis bekommen. Zwischen 11:30 und 13:00 Uhr ist Hochbetrieb und davor und danach gähnende Leere.

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Die digitale Revolution brachte das Essen dann endgültig an den eigenen Arbeitsplatz und krümelte in die Tastaturen der Working Class Heros, dezentralisierte gemeinsames Essen und macht das wenig fotogene Schnipo-Gericht aus der Kantine langsam obsolet. Start-ups bedienen diesen Desktop Dinner-Trend, wo das Internet direkte Kommunikation überflüssig gemacht hat: Bewusst gesunde und bis ins Office gelieferte Gerichte für eine neue Generation an Arbeitern in kleiner gewordenen Unternehmen, die auf Fitnessapps ihren Herzrhythmus checken und auf Instagram ihr Essen posten wollen.

Wir leben in einer Zeit, in der Essen am Arbeitsplatz einen ganz neuen Stellenwert bekommen hat. Miet-Köche, die jeden Tag in einem anderen Start-up kochen, in die Hinterhöfe rollende, gojibeerenfarbene Foodtrucks, Mitarbeiter-Firmenbudget für junge Lieferdienste wie Deliveroo, Foodora oder EatFirst und von Start-ups aufgestellte Snackautomaten „für den täglichen Bürowahnsinn", in denen Nüsschenmischungen in „Zündstoff", „Holzfäller" oder schlicht „Bammm" umgebrandet wurden, sind Standard in vielen kleineren Unternehmen. Wer ganz nah rangeht an die Automaten, kann leise einen ganzen Konferenzraum voller Marketingexperten lachen hören. Und der eigene Chef schaut für einen Moment von seinem MacBook hoch, winkt einem freudestrahlend zu und ruft: „Go for it!"

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Prosperierende Technologiekonzerne nutzen kostenloses, reichhaltiges Essen als Marketingsstrategie—wenn du für uns arbeitest, lassen wir für dich kochen. Und wenn du nur zum Schlafen nach Hause gehst, bekommst du auch noch einen glutenfreien Nachtisch. Das Mittagessen wurde in den vergangenen Jahren vor allem für den jungen Mittelstand ausgewogener und gesünder, wir bewegen uns in einer Gesellschaft, in der gesunde Ernährung einen immer größeren Stellenwert bekommt. Viel passender als „ausgewogen" und „gesund" ist aber der Begriff „energiebringend". Denn die nötige Energie braucht man, wenn man auch über die Arbeitszeit hinaus Mails rausfeuern und an Projekten rumklicken möchte. Oder soll.

Ein Lunch war früher verlorene Arbeitszeit für den Arbeitgeber, heute ist es Teil des Businesskonzepts. Unsere Esskultur wird ähnlich wie der nächste Pitch durchstrukturiert und optimiert, der Einzug von Matcha, Smoothies und Mate in die Workspace-Kühlschränke der Republik haben da ihr Übriges getan. Und wer sich die Kombination aus geliefertem Essen und energiebringendem Drink auch noch vor der eigenen Tastatur gibt, funktioniert einfach am Besten. Zumindest für die Arbeitszeit.