Warum ich der Sterneküche den Rücken gekehrt habe

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London

Warum ich der Sterneküche den Rücken gekehrt habe

„Wenn man Drei-Sterne-Essen kocht, muss alles absolut perfekt sein“, meint Jun Tanaka, der vor Kurzem sein erstes eigenes Restaurant, The Ninth, in London eröffnet hat. „Ich habe dort gearbeitet, um Erfahrungen zu sammeln. Aber generell habe ich es...
Phoebe Hurst
London, GB

Ich stecke meinen Kopf durch die Tür des The Ninth im schicken Londoner Stadtteil Fitzrovia: nackte Backsteinwände, sorgsam eingedeckte Tische, aber keine Menschenseele.

„Hallo? Jemand da?", rufe ich.

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Das The Ninth in London. Alle Fotos von Liz Seabrook

Ein paar Minuten vergehen, ich mache mir langsam Sorgen, dass ich im falschen Restaurant bin. Dann taucht Jun Tanaka mit seinem makellosen Pferdeschwanz plötzlich hinter der Bar auf, dass ich fast einen Herzinfarkt bekomme.

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Jun Tanaka hat nicht nur Ninja-Qualitäten, sondern gehört auch zu den wichtigsten japanischen Köchenin Großbritannien. Geboren ist er in New York, als Kind zog er dann nach Großbritannien. Seine ersten kulinarischen Erfahrungenhat er mit nur 19 Jahren bei den Roux-Brüdern im Michelin-Restaurant Le Gavroche gesammelt und sich schnell in der Londoner Gastroszene einen Namen gemacht: In seiner mittlerweile 25-jährigen Karriere hat er unter anderem bei Marco Pierre White und im The Square gearbeitet und ist in den bekanntestenTV-Koch-Shows Großbritanniens aufgetreten.

Alles begann mit einem hoffnungsvollen Brief als Teenager.

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Jun Tanaka

„Ich habe vier verschiedene Restaurants angeschrieben, nur das Le Gavroche hat geantwortet", erinnert er sich. „Ich hatte unglaubliches Glück, denn ich hatte keine Kocherfahrung und das Restaurant hatte damals drei Michelin-Sterne."

Er hatte damals nicht einmal eigene Kochmesser.

„Ich habe eines der Küchenmesser meiner Mutter genommen und machte an meinem ersten Tag einen ziemlich lächerlichen Eindruck", erzählt er. „Als Erstes sollte ich Sellerie-Julienne machen [in sehr feine Streifen geschnitten], das hat den ganzen Morgen gedauert. Ich hatte ehrlich gesagt überhaupt keine Ahnung, aber das war vielleicht auch ein Segen."

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Tanaka macht eine Tarte Tatin mit Roter Bete

Im Le Gavroche hat Tanaka die Grundlagen der französischen Küche und die strenge Michelin-Küche kennengelernt.

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„Es war so extrem, dass ich oft Angst hatte, zur Arbeit zu gehen. Wenn man Drei-Sterne-Essen kocht, muss alles absolut perfekt sein", meint er. „Ob mir die Arbeit in einigen dieser Restaurants Spaß gemacht hat? Nein. Ich wollte Dinge lernen, Erfahrungen sammeln und den Namen auf meinem Lebenslauf stehen haben. Aber generell habe ich es eher gehasst als genossen.

Und genau da kommt das The Ninth ins Spiel. Es ist nicht nur das neunte Restaurant, in dem er kocht—daher natürlich der Name—, sondern auch sein erstes eigenes und eine bewusste Auszeit von der gehobenen Gastronomie. Zwei Jahre lang hat er nach der richtigen Location gesucht, im November letzten Jahres konnte er sein Restaurant im Bistro-Stil endlich eröffnen.

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Doch doch das war nur der Beginn unglaublich harter Arbeit. Kurz nach der Eröffnung des The Ninth hatte Tanaka mit Wasserschäden fast schon biblischen Ausmaßes zu kämpfen.

„Ein absoluter Albtraum. Ich habe den Handwerkern nicht auf die Finger geschaut und dafür zahlen müssen", erinnert er sich. „Kein Scherz: Unsere Küche warin einem halben Jahr bestimmt 12 Mal überflutet, einmal sogar vor einer ausgebuchtenSamstagsschicht, das Wasser tropfte von der Decke auf die Gäste."

Trotz der wässrigen Umständeist Tanaka glücklich, endlich sein eigener Herr zu sein. Die Karte des The Ninth beschreibt er als französisch-mediterran.

„Das wollte ich schon lange machen und ob es funktioniert oder nicht, liegt allein an mir", meint er.

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Tarte Tatin mit Roter Bete

Nachdem er der Haute Cuisine den Rücken gekehrt hat, gibt es hier keine hochnäsigen Kellner und weißen Tischdecken und alle Gerichte sind zum Teilen da.

„Viele der Sachen habe ich ursprünglich für Freunde und Familien gekocht", erklärt Jun Tanaka. „Es soll den Gästen das Gefühl geben, als kämen sie zu mir nach Hause zum Essen."

Oben in der Küche zeigt er mir eines dieser Gerichte: Tarte Tatin, ein umgestürzter Kuchen, mit Roter Bete. Die vegetarische Vorspeise spiegelt den Stil seines Restaurants perfekt wider.

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„Wir verwenden ausschließlich saisonale und frische Produkte aus der Region. Jede Zutat durchläuft einen intensiven Arbeitsprozess", erzählt er mir. „Ich frage mich immer, wie ich daraus das bestmögliche Essen machen kann. Am besten schmeckt meiner Meinung nach Essen, das ehrlich und frisch ist."

Seine Zeit in französischen Restaurants und seine asiatischen Wurzeln sieht man in der gesamten Karte des The Ninth. Hier trifft nicht nur beim Geschmack der Osten auf den Westen—beispielsweise Dorade kombiniert mit Miso—, sondern auch in den Methoden, zum Beispiel das Einlegen in der japanischen sowie europäischen Küche.

„Ich habe irgendwie eine Liebe zum Einlegen entwickelt, man kombiniert Salz, Zucker und Gewürze", erklärt Tanaka. „Ich habe ein eigenes Rezept für salziges Rindfleisch entwickelt—nach etlichen Fehlversuchen war es dann einfach nur eine Genugtuung, als ich es endlich hatte. Das werde ich immer auf der Karte behalten."

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Als ich zurück runter in den Gastraum gehe, um die Tarte zu probieren, verdrückt sich Tanaka still und heimlich. Nachdem ich die Tarte in erschreckend kurzer Zeit verputzt habe, bleibt nur noch die leere Pfanne übrig. Ich suche im ganzen Restaurant nach Tanaka, treppauf und treppab, damit ich ihm die Pfanne zurückgeben kann. Als ich endlich unten finde, lacht er.

„Seit der Eröffnung habe ich durch das ganze Treppensteigen über 10 Kilo abgenommen", meint er. „Ich wünschte, ich hätte einen Schrittzähler, dann wüsste ich, wie viel ich rumgelaufen bin."

Jun Tanaka hat zwar die Sterneküche hinter sich gelassen, aber er ist immer noch ganz schön auf Trab.

Alle Fotos von Liz Seabrook.