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Was läuft falsch in unserer Esskultur?

Die Politik ist unter dem Einfluss der Industrie und orientiert sich an deren Interessen. Dass es immer um Geld geht, ist nichts Neues. Dass wir Konsumenten die in Wahrheit Mächtigen sind, scheinen wir immer wieder zu vergessen.

Bei Tieren haben wir immer das Bild von Massenhaltung im Kopf. Schweine, die sich gegenseitig die Ohren abbeißen, zusammengepferchte Kühe und zerrupfte Hühner. Aber wie ist das bei Gemüse? Und wie kommt ein mittelloser Student dazu, mehr Geld als nötig für Essen auszugeben?

MUNCHIES ALPS hat mit dem Agrarbiologen Clemens G. Arvay über die Situation in Österreich gesprochen. Er hat uns erklärt, wie verbreitet genmanipuliertes Essen in Österreich ist, was das Freihandelsabkommen mit den USA daran ändern würde und ob man Bio überhaupt ruhigen Gewissens essen kann.

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MUNCHIES: Was läuft falsch in unserer Esskultur?
Clemens G. Arvay: Es gibt gar keine Ess-„Kultur" mehr, unsere Lebensmittel sind reine Kommerzprodukte, mit denen Unternehmen auf dieselbe Weise Geld verdienen wie mit Billig-T-Shirts, Plastik-Kinderspielzeugschrott und Smartphones. Es sind Manager und Wirtschaftler aus der selben neoliberalen Schmiede, die jetzt auch unsere Lebensmittel bestimmen. „Mein erstes Smartphone", das es jetzt schon für Kleinkinder gibt, hat nichts mit Kultur zu tun. Warum sollten also unsere Kommerzlebensmittel so etwas wie „Esskultur" verkörpern? Nein, wer hinter die Kulissen blickt, kann das nicht mehr glauben.

Ist Bio besser?
Bio im Supermarkt ist besser als Konventionell im Supermarkt. Am besten ist aber: gar kein Supermarkt! Und zwar aus guten Gründen. Die Realität der Bio-Landwirtschaft für Supermärkte und Discounter ist weit—wirklich meilenweit—von den Vorstellungen und Erwartungen der Verbraucher entfernt und die Werbung tut ihr Bestes, diese Kluft noch zu vergrößern. „Bio" bedeutet noch lange nicht, dass es dort keine Ausbeutung von Menschen, Tieren oder Umwelt gibt. „Bio" bedeutet auch nicht automatisch artgemäße Tierhaltung. Bio-Küken kommen genauso am Fließband in Tierfabriken auf die Welt, wie die konventionellen. Die männlichen werden ebenso maschinell und in Akkordarbeit getötet und Bio-Hühner sterben gemeinsam mit konventionellen in den rasenden Fließbändern der Industrieschlachthöfe. Wer weiß schon, dass auch bei Bio zehn Tiere pro Quadratmeter Stallfläche gehalten werden, in Herden mit 4800 Hühnern, wo dann das mit dem Auslauf auch nicht mehr klappt. Die Werbung zeigt natürlich das krasse Gegenteil. Das waren ein paar Beispiele, aber ich möchte dieses bodenlose Fass jetzt nicht öffnen. Ich habe zwei ganze Bücher damit gefüllt.

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Wie kann man sich bewusster ernähren? Wenn man in einer Großstadt wohnt, nicht viel Geld oder Zeit hat, sich ganz bewusst anzusehen, was kaufe ich wo ein?!
Auch in Großstädten gibt es Möglichkeiten, sich bewusst zu ernähren, man muss sich nur ein wenig mit der Thematik befassen. Kleine, oft kaum bekannte Bio- und Bauernläden gibt es auch in Städten, wenngleich sie arg in Bedrängnis sind. Das ist ein Grund mehr, sie zu unterstützen. Das Stadtleben bietet aber auch neuartige Möglichkeiten wie Verbraucher-Kooperativen und Zusammenschlüsse von Bauern und Konsumenten, für die Lebensmittel mehr als bloß Kommerzprodukte sind. Einfach mal im Internet mit den Suchbegriffen „Food-Coop", „Lebensmittelkooperative", „solidarische Landwirtschaft" und „CSA" recherchieren und staunen, was auch Großstädte wie Wien, Zürich oder Berlin an Alternativen zu bieten haben.

Weshalb muss sich der Konsument überhaupt mit so etwas auseinandersetzen?
Weil er für die Konzerne nur eine Melkkuh ist und hinten und vorne belogen oder in die Irre geführt wird. Top-Manager von Discountern und Supermärkten haben kein Interesse, ökologische oder wirklich nachhaltig produzierte Lebensmittel bereitzustellen, sondern sie wollen den Profit ihres Unternehmens maximieren, wollen immer größer werden, andere Unternehmen verdrängen und uns so viel Geld wie möglich aus der Tasche ziehen. Deswegen sind Supermärkte voll mit Junk-Produkten, die keiner braucht, die aber alle kaufen. Es führt gar kein Weg daran vorbei, dass mündige Konsumenten anfangen, sich zu informieren und die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Irgendwann wird sich die Situation dann vielleicht ändern und alternative Strukturen können sich wieder erholen und wachsen. Aber das müssen wir aktiv fördern, es passiert nicht einfach so von selbst.

Würde das TTIP die Umstände noch verschlimmern?
Die Lebensmittelindustrie und ihre Lobbyisten verfolgen ihre Ziele stets schrittweise. Das TTIP würde der Lobby der Agrogentechnik und Agroindustrie jedenfalls die Möglichkeit bieten, sowohl in den USA als auch in der EU Aufweichungen der Standards zu bewirken. Hat man erst die Konkurrenz aus den USA uneingeschränkt in Europa—und umgekehrt die europäische Konkurrenz in den USA—, lässt sich gegenüber der Politik leichter argumentieren, weshalb diese oder jene Bestimmung zugunsten der Industrie geändert werden müssen. Man kann sich dann auf die „goldene Kuh" der Konkurrenzfähigkeit und des Wettbewerbs ausreden.

Was kann die Politik machen? Was kann der Verbraucher machen?
Die Politik kann erst dann etwas machen, wenn sie nicht mehr unter dem Einfluss industrieller Lobbies stehst. Auch die EFSA, die europäische Lebensmittelbehöre, steht unter Einfluss der Industrie und orientiert sich an deren Interessen. Die ESA, die European Seed Association, ist überhaupt nichts anderes als ein Zusammenschluss der Lobbyisten aus der Saatgutindustrie in Brüssel. Auch mit dieser Organisation habe ich mich in "Hilfe, unser Essen wird normiert" ausführlich beschäftigt. Was es wirklich braucht ist Widerstand von der Basis, seitens der Verbraucher. Dieser Widerstand kann von Boykott bis hin zu politischem Engagement und Öffentlichkeitsarbeit reichen.

Man denkt ja, dass man in Österreich von genmanipuliertem Essen verschont ist. Man hat von Österreich dieses Bild, Kühe auf der Weide, Kartoffeln vom Feld.
400.000 Tonnen gentechnisch veränderte Futtermittel pro Jahr werden in Österreich alleine in der Schweinemast eingesetzt—ob nun mit oder ohne AMA-Gütesiegel. Im Ackerbau sieht es etwas besser aus: EU-weit sind zwar mehrere gentechnisch veränderte Mais-Linien und andere Pflanzen zum Anbau zugelassen. Österreich ist aber eines der Länder, in denen der Anbau außer zu Versuchszwecken noch unterbunden wird. Und schon versucht die Lobby der Saatgutkonzerne, diese Länder durch Klagen in die Knie zu zwingen. Dabei beruft man sich auf die angebliche Einschränkung des Wettbewerbes. In der gesamten EU sind unzählige gentechnisch veränderte Erzeugnisse als Nahrungsmittel zugelassen und werden verarbeitet, auch wenn sie in Europa nicht angebaut werden dürfen. Das TTIP würde jedenfalls einen Türöffner darstellen, um die Bemühungen der Gentech-Lobby zu erleichtern. Sie hätten am liebsten auf dem gesamten Globus identische Absatzbedingungen und freie Bahn.

Hanna auf Twitter: @hhumorlos