Das Titelbild zeigt die Autorin vor einem Berg von Wollknäuelen
Fotos: Moritz Hilker
Menschen

Hobbys, die ich nicht verstehe: Filzen

Bericht einer Nahtoderfahrung.
Filzen, Gin Tasting, Modelleisenbahnen: Wir testen seltsame Hobbys

Ernst gemeinte Frage: Was ist Filz? Ich habe wirklich keine Ahnung. Kann man Filz vorgefertigt kaufen? Aber wo? Und viel wichtiger: Warum? Er sieht beulig und uncool aus und er macht mich sauer


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Dafür, dass Filz in meinen Augen keine Daseinsberechtigung hat, ist er mir nämlich viel zu präsent. Ich weiß nur so viel: Filz ist irgendein Gewebe, das auf Weihnachtsmärkten feilgeboten wird. Ganze Stände bieten unförmige Beutel an, die von Kathrins und Heikes gekauft werden. Supermärkte machen mit Flyern manchmal auf Filz-Aktionen aufmerksam. Geworben wird dann mit einer glücklichen Familie beim Frühstück. Auf dem Frühstückstisch der Flyerfamilie liegen Filzuntersetzer, Filzbrotkörbe und winzig kleine Filzhüte für Frühstückseier. Das regt mich natürlich doppelt auf, weil Eier ja gar keine Hüte brauchen. Mütter setzen in der Weihnachtszeit Elfen aus Filz mit absurd langen Gliedmaßen auf Fensterbänke. Warum?? Ich weiß es wirklich nicht. 

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In schwachen Momenten frage ich mich heimlich, ob mein blinder Hass angemessen ist. Vielleicht ist Filz ja schön und ich einfach zu beschränkt, um das zu erkennen. Es verschlägt mich deshalb an den Ort, an dem tagtäglich Schönes geschaffen wird: an die Volkshochschule. Dort habe ich mich zu einem Filzkurs angemeldet.

Meine Filzlehrerin Ilona hat feuerrote Haare, ein Piercing in der rechten Augenbraue und einen Tunnel im rechten Ohr. Sie trägt ein Kleid aus Filz, ihre Unterarme wärmt sie mit Stulpen aus Filz. Ilona filzt seit 19 Jahren. Wenn sie mir Filz nicht nahebringen kann, kann es niemand. 

Was ist Filz?

Ilona lässt direkt zu Beginn des Kurses eine Bombe fallen: "Ihr alle habt schon gefilzt." Nach einer wichtigen rhetorischen Pause fährt sie fort: "Ihr habt nämlich alle schon einmal aus Versehen einen Wollpullover einlaufen lassen, habe ich recht?" Zustimmendes Gemurmel, manche schmunzeln. Besonders meine Filzmitschülerin Rosel scheint sich ertappt zu fühlen und nickt kräftig mit dem Kopf. Sie hat die lieben Augen eines Lämmchens und ich bin mir sicher, dass sie für spontanen Besuch immer Keksmischungen in Blechdosen zu Hause hat. Neben uns sitzen noch zwei weitere Frauen mittleren Alters, die auch schon Pullover verfilzt haben. "Beim Filzen schrumpft man Wolle mithilfe von Seife und warmem Wasser zusammen. Genau das machen wir heute. Wir sind quasi die Waschmaschine." "Nenn mich nicht so", denke ich, lächele aber höflich. 

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Da war es noch schön: Die Filzblume

In unserer ersten Filzübung erschaffen wir eine Blume. Wir beginnen mit dem Stiel. Ich zupfe ein wenig Wolle aus einem grünen Wollknäuel, tunke den Fetzen in warmes Seifenwasser und beginne, das suppige Schafshaar zwischen meinen Handflächen zu einer dünnen Wurst zu formen. Auf den fertigen Stiel pappe ich weiße Wollbüschel und drapiere sie blütenförmig zusammen. 

Ich spüre, wie ich mich immer wieder dazu zwingen muss, meine Zunge im Mund zu behalten. Mein Gehirn scheint sich unter der kreativen Anstrengung zu dem eines albernen Schulkinds zurückzuentwickeln. Auch rechts und links von mir schlängeln sich Zungen aus Mündern. Hier beim Filzen sind wir anscheinend alle gleich. Das hatte ich nicht erwartet. So bezog sich meine Filzablehnung ja vor allem auf die Menschen, die Filz mögen. Weltfremd, weird, wollüstig. Tatsächlich sind aber alle wunderbar.

Bei der zweiten Blüte kommen wir Filzschülerinnen zum ersten Mal an unsere Grenzen. Wie viel Wolle für ein Blütenblatt? Ilona spürt unsere Unsicherheit sofort und findet die richtigen Worte: "Ihr habt euch in so einer kurzen Zeit schon extrem verbessert. Und vergesst nicht: Wenn Kinder mit dem Lesen anfangen, brauchen sie auch erstmal ein bisschen Zeit, um die Buchstaben zu erkennen. So ist das beim Filzen auch. Aber ihr macht das super."  Ilonas Worte helfen. Nach etwa einer Stunde hat jede Filzerin eine Blumen vor sich liegen. Und ich bin ehrlich: Ich bin ein bisschen stolz. Meine Blume sieht aus wie ein Frühlingstraum.

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Auf einem dunklen Holztisch liegt eine Blume aus Filz. Die Blume hat einen grünen Stiel, weiße Blütenblätter und gelben Nektar.

Ein Frühlingstraum

Endgegner Wendehut

Die Blume war einfach und hat mir falsches Selbstvertrauen eingehaucht. "Wie schwer kann es schon sein, einen Hut herzustellen", denke ich, als ich mich der handwerklich stressigsten Aufgabe meines bisherigen Lebens stelle. Am Ende des Tages werde ich diesen Hut über fünf Stunden lang durchgeknetet haben. 

Ein Wendehut soll es werden. Ein Accessoire für die Berlinerin, die cool sein könnte, sich aber aktiv dagegen entscheidet. Eine Seite des Wendehuts wird pink, die andere Seite wird auch pink, nur weniger grell. Sexy. 

Ilona hat natürlich schon ungefähr tausend Hüte gefilzt und kann mir eine Schablone für meinen Hut leihen. Auf diese Schablone lege ich die Wollfetzen, die ich vorher aus den pinken Knäueln gerupft habe. Die vollgewollte Schablone sieht absurd riesig aus. Klar, die Wolle muss ja auch noch einschrumpfen. Allein das Rupfen und Legen dauert über eine Stunde. 

Auf einem weißen Tisch liegt eine blaue Schablone in Form eines Huts. Auf diese Schablone legt die Autorin Wolle.

Knäuel versus Mensch

Zwischenstand: Die blaue Schablone ist auf dem Foto vollständig mit Wolle bedeckt.

Sehen Sie hier drei Schichten fein säuberlich diagonal gelegte Wollfetzen

Wie bei der Frühlingstraumblume beseife und bewässere ich die Wolle nach dem Legen. "Jetzt musst du die Wolle nur noch hin- und herrollen, damit alles schön verfilzt", sagt Ilona. Es folgt ein Todeskampf, den ich am Ende nur knapp gewinnen werde. Ich rolle und knete und rolle und knete. Der Hut wird einfach nicht kleiner. Vor mir liegt ein riesiger Fladen aus Wollfetzen und Seifenwasser. Ein riesiger Klopps, den ich doch sowieso niemals auf meinen Kopf setzen werde. Es sei denn, ich möchte mich irgendwann einmal selbst ersticken, in dem Fall wäre der sogenannte Hut wohl doch ganz praktisch. 

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Mein Samstag plätschert dahin, wie das Seifenwasser auf meinen Wendehut. Ich könnte jetzt gerade auf dem Sofa liegen, netflixen und dabei TikToks gucken. Stattdessen erschaffe ich etwas mit meinen Händen und höre dabei nicht einmal einen Podcast. Ist das Natur?

Nach Stunde vier platzt mir die Hutschnur und ich sage Ilona, dass ich keinen Bock mehr habe. Sie hat Verständnis, lässt mich aber nicht ganz aufgeben. Ich darf am nächsten Tag weiterkneten und für heute Schluss machen. 

Auch einige andere Filzschülerinnen haben Probleme. Rosel verzweifelt an Stulpen und Pantoffeln, Macarena filzt den ungefähr größten Beutel der Welt. Anja versucht sich auch an einem Hut, gibt aber vorzeitig auf. Nach sieben Stunden filzen tut uns allen alles weh. Hände, Schultern und Rücken sind vollkommen im Eimer und der einen oder anderen fallen die Augen zu (mir). Aber es ist Wochenende und ich muss auf eine Party. 

Ich bin an diesem Abend kein guter Partygast. Ich sitze bis 0:30 Uhr mit Mia auf dem Sofa und rede mit ihr über Dinge, über die wir schon 100 Mal geredet haben. Und übers Filzen. Mia scheint sich gar nicht so sehr für meinen Hut zu interessieren, weird. Als ein anderer Partygast fragt, ob ich später noch mit den anderen weiterziehe, antworte ich pflichtbewusst: "Ich kann heute nicht lange bleiben, morgen muss ich wieder filzen." Seine Antwort trieft vor Unwissenheit. Ein bisschen wie mein Hut, der auch vor Unwissenheit, aber auch vor Seifenwasser trieft. "Und du arbeitest für VICE, ja? Die haben ja auch mal krasseren Content gemacht." Der Typ hat anscheinend noch nie gefilzt. Hätte er wie ich fünf Stunden lang einen abnormal riesigen Hut geknetet, wüsste er, dass Filzen ziemlich krass ist. Krass anstrengend vor allem. 

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Es reicht dann jetzt auch

Jetzt geht es dem Hut an den Kragen, denke ich, als ich am nächsten Morgen die VHS betrete. Ich mache keine halben Sachen mehr. Ich kippe blind kochend heißes Wasser auf den Hut und saue alles um mich herum ein. Es ist mir egal. Ich kann nicht mehr. Ilona scheint meine Unlust zu spüren und übernimmt die Kneterei für mich. Das hilft. So langsam zieht sich der Riesenhut zusammen und wird fest. Nach noch einmal einer Stunde Kneterei ist der Hut so sehr zusammengeschrumpft, dass er einem Menschen mit einem sehr großen Kopf passen würde. "Vielleicht habe ich ja irgendwann mal eine schlimme Beule und freue mich über diesen riesigen Hut", denke ich und lasse den Hut Hut sein. Nach diesem Wendehut-Gate von 2023 bin ich Filzprofi. Braucht jemand ein Haus aus Filz? Schreibt mir einfach. Knete ich euch. 

Die Autorin präsentiert ihren Wendehut. Hinter ihr stehen Staffeleien, vor ihr liegen Seifenkrümel auf einem Tisch.

Das ist kein Koks, das ist Seife

Porträt der Autorin mit dem Wendehut und der Filzblume

Nur eine Frau und ihr Wendehut

Letztes Kapitel: Der Buchbeutel

Meine Finger sehnen sich aber erst einmal nach etwas Einfachem und so mache ich mich an meine letzte Filzerei: Ein Buchbeutel, der meine Buchseiten vor Zerfledderei schützen soll – eine Tasche für Taschenbücher, die man in Taschen legt. Ich lese unterwegs praktisch nie, aber ich trage auch nie Hüte und habe trotzdem einen gefilzt. Sinn ergibt das hier alles schon lange nicht mehr. 

Rupfen, legen, einseifen, bewässern, rollen, kneten. Meine muscle memory führt mich durch den Filzprozess und ich gleite in einen zenartigen Zustand. Wie eine Maschine wiederhole ich die Vorgänge einige Male und behalte meine Nerven. 

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Die Autorin kippt kochendes Wasser aus dem Wasserkocher auf den Buchbeutel

Shit is getting steamy

Auf dem Foto ist der Buchbeutel vom Nahen zu sehen. Der linke Arm der Autorin steckt in dem Buchbeutel.

Meinen Arm musste ich nach all der seifigen Filzerei gar nicht mehr duschen – toll

Vielleicht ist es das schon: Nicht ausrasten, etwas mit den eigenen Händen erschaffen und irgendwie … zur Ruhe kommen? Ist das Natur?

Nach insgesamt 14 Stunden Filzerei habe ich drei Gegenstände erschaffen: Eine Blume, einen Hut und einen Buchbeutel. Ob es das jetzt wert war, weiß ich auch nicht. Stolz bin ich trotzdem irgendwie. Eine gute Seite hatten die zwei Filztage aber auf jeden Fall: Ich hasse Filz nicht mehr. Ich habe Frieden mit dem Gewebe geschlossen. 

Auf dem Foto sind die Filzblume, der Wendehut und der Buchbeutel zu sehen

The end

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