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In der Antarktis ist plötzlich ein gigantischer See verschwunden

Er war so groß wie der größte See Deutschlands. Innerhalb von drei Tagen war er weg.
Satellitenaufnahmen von einem See in der Antarktis vor und nachdem er innerhalb weniger Tage abgeflossen ist
Der See vor Juni 2019 und danach als Trichter | Bild: Warner et al, Geophysical Research Letters, 2021

Innerhalb weniger Tagen verschwand ein gigantischer See in der Antarktis. Geblieben ist ein elf Quadratkilometer großer Trichter im Eis.

Der Glaziologe Roland Warner von der University of Tasmania war der erste, der auf Satellitenaufnahmen "eine eingefallene Oberflächenstruktur" auf dem Amery-Schelfeis bemerkte. Das Amery-Schelfeis ist eine rund 62.000 Quadratkilometer große Eisplatte in der Antarktis, die auf dem Meer schwimmt und mit der Eisfläche auf dem Festland verbunden ist.

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Die Entdeckung machte der Wissenschaftler eher zufällig im Januar 2020. Gerade wüteten in Australien verheerende Buschfeuer und Warner begutachtete regelmäßig die Schäden auf Satellitenbildern. Er suchte "eine Auszeit von der ganzen Zerstörung", erklärt er. Deshalb richtete er seinen Blick in den Süden, die Antarktis. "Ich bemerkte, dass es ein paar wolkenfreie Tage über dem Amery-Schelfeis gegeben hatte. Das war eine gute Gelegenheit, um einen Blick auf die Oberflächenschmelze des antarktischen Sommers zu werfen", schreibt Warner in einer E-Mail. "Da ist mir die eingefallene Oberfläche aufgefallen."


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Warner vermutete, dass es sich bei der Struktur um eine Doline handelt, eine trichterförmige Senke – ein Hinweis darauf, dass an dieser Stelle ein See unter dem Eis gewesen sein muss, der schnell abgeflossen ist. Mithilfe archivierter Aufnahmen von NASA- und ESA-Satelliten konnte er den genauen Zeitpunkt ausmachen, an dem der gigantische See durch Öffnungen im Eis abfloss. Warner teilte seine Erkenntnisse mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Schmelzwasser-Muster auf dem Amery-Schelfeis erforschen. Zusammen veröffentlichten sie eine Studie, die am 23. Juni in der Fachzeitschrift Geophysical Research Letters erschien.

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"Die gemeinsame Expertise des Teams machte die Sache zu mehr als einem 'Oh! Schaut mal, was ich gefunden habe'-Aufsatz", schreibt Warner. "Ohne die Satellitendaten, die wir zusammengesucht haben, hätten wir das Ausmaße und die Größe des See-Abflusses nicht so bestimmen können."

Die Aufnahmen des ICESat-2-Satelliten der NASA, die während des Winters von der Südhalbkugel gemacht wurden, zeigen, dass sich am 9. Juni 2019 an der Stelle des Trichters noch ein großer Schmelzwassersee mit einer Eisdecke befunden hatte. Er fasste zwischen 600 und 750 Millionen Kubikmeter Wasser. Zum Vergleich: Das ist entspricht vom Volumen etwa 300.000 olympischen Schwimmbecken oder der Müritz – laut Wikipedia der flächenmäßig größte See, der vollständig in Deutschland liegt.

Am 11. Juni war dieser See weg.

Warner und seine Kolleginnen vermuten, dass das Gewicht des sich mit Schmelzwasser füllenden Sees die Tragfähigkeit des Eises überschritten und einen Prozess namens "Hydrofraktur" in Gang gesetzt hatte. Dabei brechen Risse im Eis auf, durch die das Wasser in den Ozean abfließt. Während der Wasserstand rapide abfiel, brach die Eisdecke des Sees bis zu 80 Meter ein und bog sich dann rund 40 Meter zurück nach oben. Fertig war die Trichterstruktur, auf die Warner aufmerksam geworden war.

Solche Hydrofrakturen sind vom Einbruch dünnerer Eisdecken bekannt, ein Abfluss in dieser Größenordnung und Geschwindigkeit ist aber noch nie im Detail beobachtet worden. Das Verschwinden des Sees ist besonders ungewöhnlich, weil er sich auf einem recht stabilen Teil des Amery-Schelfeises befand, der  knapp 1,4 Kilometer dick ist.

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Seit den frühesten Satellitendaten des Sees von 1973 scheint der Einbruch vom Juni 2019 der erste Abfluss in einem knappen halben Jahrhundert zu sein. Er bietet, so die Studie, eine "noch nie dagewesene Möglichkeit, die Doline-Bildung und die Eigenschaften des Oberflächenschmelzwassers zu beobachten".

Der Trichter scheint sich derweil wieder mit kleinen Mengen Schmelzwasser zu füllen und bleibt ein interessantes Ziel für weitere Beobachtungen. Genau das sei besonders wichtig, da die Folgen der Oberflächenschmelze für die zukünftige Stabilität des antarktischen Schelfeises bislang "unzulänglich verstanden sind", schreiben die Forschenden.

Man weiß zum Beispiel wenig über den Einfluss des Schmelzwassers auf den steigenden Meeresspiegel oder ob solche Abflüsse mit der Erderwärmung zusammenhängen. Klimamodelle prognostizieren eine Zunahme von Oberflächenschmelzwasser auf dem antarktischen Schelfeis als Folge der Erderwärmung. Warner ist der Ansicht, dass für verlässliche Berechnungen noch mehr Daten nötig sind.

Das plötzliche Verschwinden des Sees bietet einen Einblick in die komplexen Prozesse der abgelegenen Eislandschaft der Antarktis. Warner und seine Kolleginnen planen, den Trichter auch in den kommenden Jahren zu beobachten. Außerdem wollen sie die Evolution des verlorenen Sees mit alten Satellitenaufnahmen bis in die 1970er zurück rekonstruieren.

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