Porträts von zwei jungen Männern und einer jungen Frau, Menschen in der Ukraine erzählen, wie sie sich wegen des drohenden Kriegs mit Russland fühlen
Iwan Wassyljew, Wlad Makhovik und Jana Borodina | Fotos mit freundlicher Genehmigung der Interviewten
Politik

Wir haben junge Menschen in der Ukraine gefragt, ob sie Angst vor einem Krieg haben

"Ich habe Ausrüstung und Vorräte bereit." – Jana Borodina, 25.

Die Welt schaut besorgt nach Osteuropa. Russland hat über 100.000 Streitkräfte an den Grenzen der Ukraine zusammengezogen – nicht nur auf russischem Gebiet, sondern auch auf der Krim und in Belarus. Eine Invasion droht.

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Der Konflikt reicht mindestens bis ins Jahr 2014 zurück, als der russlandtreue ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch im Zuge der Euromaidan-Proteste von seinem Amt zurücktreten musste. Daraufhin entsandte Wladimir Putin Truppen auf die Krim und brachte die Halbinsel völkerrechtswidrig unter russische Kontrolle. In der Ostukraine unterstützte Putin außerdem prorussische Separatisten. Die Kämpfe dauern bis heute an und haben bislang über 13.000 Menschenleben gekostet.


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Für viele junge Menschen in der Ukraine, die während oder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf die Welt kamen, sind Russlands Versuche, einen NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern, ein direkter Angriff auf das Land, in dem sie aufgewachsen sind. Auch wenn das Leben für die meisten in der Ukraine bislang normal weitergeht, ist es nicht leicht, in ständiger Angst vor einer Invasion zu leben. Wir haben mit jungen Ukrainerinnen und Ukrainern darüber gesprochen, wie es ist, in einem Land zu leben, das vielleicht kurz vor einem Krieg steht.

Jana Borodina, 25, Yogalehrerin, Kiew

Eine junge aschblonde Frau mit Sonnenbrille und einem traditionellen weißen Gewandt auf einer grünen Wiese im Wald

Jana Borodina in den Karpaten

"Russland ist 2014 in die Ukraine einmarschiert. Seitdem ist unser Land destabilisiert. Es sind jetzt schon Tausende Ukrainer in diesem Krieg gestorben und es werden ständig mehr.

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In letzter Zeit kursieren noch negativere und verstörendere Informationen. Die Nachrichten sind alles andere als positiv und inspirierend. Es ist so gut wie unmöglich, irgendwelche Pläne zu machen.

Ich weiß, dass viele Menschen versuchen, Visa für andere Länder zu kriegen, oder sich Flugtickets ins Ausland kaufen. Die meisten werden allerdings in der Ukraine bleiben. Sie sind bereit, ihr Land und ihre Familien zu verteidigen. Das ist nämlich alles, was sie haben.

"Ich habe hier auch Ausrüstung und Vorräte bereitstehen, um sie im Falle eines Angriffs auf Kiew mitzunehmen."

Ich habe meine Alltagsroutine inzwischen geändert, verfolge die Nachrichten über den Konflikt und kontrolliere die Quellen genauer. Ich habe hier auch Ausrüstung und Vorräte bereitstehen, um sie im Falle eines Angriffs auf Kiew mitzunehmen. Aber ich will auch gar nicht glauben, dass so ein Angriff jemals passiert.

Wenn Russland die Ukrainer als Brüder sieht, warum ist es dann so schwer für mich, auf die Krim zu kommen und meine Mutter zu besuchen? Meine größte Angst ist, dass die Krim irgendwann komplett zu Russland gehört. Die Krim ist Teil der Ukraine, meine Kindheit ist eng mit der Krim verbunden. Nur die Menschen in Russland können von ihrer Regierung fordern, dass sie aufhört, in andere Länder einzumarschieren und pseudohistorische Propaganda zu verbreiten – wie zum Beispiel, dass die Ukraine kein eigenständiger Staat sei. Russland muss aufhören, sich als Helfer und Beschützer aufzuspielen.

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Die Zukunft wird nicht leicht für die Ukraine. Es ist unsere Aufgabe, unsere Stellung als unabhängiger Staat nicht zu verlieren. In der Ukraine haben wir das Recht, unsere Regierung und Probleme zu kritisieren. Wir sollten davon auch Gebrauch machen, in Russland oder Belarus haben sie dieses Recht nicht. Wenn man bei einem Verbrechen stumm bleibt, wird man zum Komplizen."

Julia Romanets, 28, Stylistin und Mitarbeiterin im IT Support, Luzk

Eine junge dunkelhaarige Frau in Sommerkleidung auf einer Brücke vor einem Sonnenuntergang

Julia Romanets

"Für mich ist der Druck durch Russland nichts Neues. Der Krieg in der Ostukraine dauert seit acht Jahren an, aber in letzter Zeit lese ich über neue Bedrohungen und die Truppenverlegungen an unsere Grenzen. Die Spannungen verstärken sich, aber trotzdem gerate ich nicht in Panik. Ich will weiterhin daran glauben, dass kein echter Krieg ausbricht. Ich habe noch keinerlei Vorbereitungen getroffen, aber vielleicht sollte ich das. Ich weiß es nicht.

"Freiheit ist für mich einer der wichtigsten Werte."

Ich bin eine positive Person und glaube an Happy Endings. Ukrainer sind Menschen mit großem Herzen und starkem Willen. Diese Energie habe ich während der Revolution 2014 gespürt. Ich will, dass die Krim wieder zur Ukraine gehört und dass alle militärischen Handlungen in unserem Gebiet aufhören. Aber die Situation ist so instabil, dass man unmöglich irgendwelche Vorhersagen treffen kann.

Die russische Regierung kann nicht akzeptieren, dass wir ein unabhängiges Land sind. Sie mischt sich ständig in unsere internationale und nationale Politik ein. Sie will die Sowjetunion wieder etablieren, was meiner Meinung nach furchtbar wäre.

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Freiheit ist für mich einer der wichtigsten Werte. Ich will sie nicht verlieren. Ich will nicht den Einfluss eines Landes zu spüren bekommen, in dem Menschenrechte und Freiheit nicht respektiert werden."

Iwan Wassyljew, 30, arbeitet im Bereich Marketing, Kiew

Ein junger Mann mit blauer Cap und Adidas-Fußballtrikot

Iwan Wassyljew

"Als ich zum ersten Mal von den rund 100.000 russischen Soldaten an unseren Grenzen gehört habe, habe ich mir große Sorgen gemacht – wie alle hier. Aber man sollte nicht vergessen, dass sich die Ukraine seit der Besetzung der Krim in einem Krieg befindet. Die ukrainische Armee ist jetzt stärker als zu jedem anderen Zeitpunkt, an den ich mich erinnern kann. Es ist trotzdem schwer, entspannt weiterzuleben, wenn du weißt, dass das Risiko einer Invasion besteht.

Die Sache steht auf Messers Schneide. Niemand weiß, wie die Situation am Ende gelöst wird. Vielleicht ist es nur ein politisches Schachspiel oder etwas in der Art. Falls nicht, ist das natürlich beängstigend. Wer hat keine Angst vor dem Krieg? Aber ich habe noch die Hoffnung, dass es keinen geben wird.

"Putins Russland will die Sowjetunion 2.0 erschaffen."

Ich hatte darüber nachgedacht, für ein paar Monate nach Europa zu ziehen, um abzuwarten, was passiert. Einige Quellen haben gesagt, dass die Invasion am 20. Februar passieren wird. Aber wer sagt einem das Datum des Einmarsches, wenn man vorhat, das Nachbarland zu besetzen? Ich versuche, nicht in Panik zu geraten. Auf Social Media und in den Nachrichten kursieren viele Falschinformationen. Wie gesagt, ich versuche, ruhig zu bleiben.

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Ich verstehe nicht, wie sich Russland im 21. Jahrhundert noch so verhalten kann. Wenn du ein großes mächtiges Land sein willst, wäre es besser, eine starke Wirtschaft aufzubauen, die Menschenrechte zu schützen, auf den Klimawandel zu achten, für LGTBTQ+-Rechte einzustehen und andere zivilisierte Dinge zu tun. Aber nein: Putins Russland will die Sowjetunion 2.0 erschaffen.

Ich hoffe, dass ich als alter, grummeliger Mann über Tauben meckern werde und nicht über Korruption, Gerichte, die Polizei oder irgendwas anderes."

Wlad Makhovik, 26, Barkeeper und Tänzer aus Kiew

Ein junger Mann steht in Winterkleidung und Dr. martens Stiefeln bei Dunkelheit im Schnee auf einer erleuchteten Straße

Wlad Makhovik

Die politische Situation macht mir richtig zu schaffen. Für mich ist dieser ganze Konflikt sinnlos, und ich kann kaum glauben, dass wir im 21. Jahrhundert über einen richtigen Krieg reden. Es ist so verrückt, dass Menschen wegen eines politischen Machtkampfs sterben.

Seit 2014 leidet die Ukraine unter militärischen Angriffen und der angespannten politischen Beziehung zu Russland. Ich habe Kiew in diesem Zeitraum gesehen, und es war nicht schön. Es gibt immer noch jeden Tag mehrere Zeitungsartikel und Nachrichtenbeiträge über alles, was passiert ist. Es hört nicht auf. Zwar herrscht in den Straßen keine Panik, aber alle denken trotzdem darüber nach, was sie tun sollten.

Die Leute haben keine Lust mehr, aber wir können nichts tun. Es scheint, als stehe uns die Apokalypse bevor, aber wir müssen trotzdem noch zur Arbeit! Im schlimmsten Fall würde ich mit meiner Familie flüchten, wenn es möglich ist, denn ich will nicht, dass irgendjemand aus meiner Familie einen Krieg miterleben muss.

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"Meine größte Sorge ist, dass der Dritte Weltkrieg beginnt und dass einige Länder ihre Atombomben einsetzen werden."

Ich finde, dass sich Russland aggressiv und dumm verhält. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie Gewalt Probleme lösen soll. OK, natürlich musst du dich verteidigen, wenn jemand hinterhältig in dein Zuhause einfällt. Und ich verstehe auch, wie es sein wird, wenn Russland seinen Angriff startet. Ich hoffe trotzdem inständig, dass das nicht passiert, dass es sich nur um einen Informationskrieg handelt, und dass wir die Situation klären können, ohne Blut zu vergießen. Meine größte Sorge ist, dass der Dritte Weltkrieg beginnt und dass einige Länder ihre Atombomben einsetzen werden.

Ich mag die Ukraine, das Land ist meine Heimat. Dennoch wird es immer schwieriger, hier zu leben, und derzeit kann ich mir nicht vorstellen, in Zukunft weiter hier zu sein.

Dmitriy Koloah, 34, Musikproduzent aus Kiew

Schwarz-Weiß-Foto von einem Mann mit Bart vor einer sowjetisch anmutenden Wandmalerei

Dmitriy Koloah | Foto: Angel Angelov

Ich fühle mich ziemlich schlecht. Aber die Leute in Kiew und der Ukraine haben sich schon an die Angst gewöhnt – diese Angst vor etwas Großem, das man nicht kontrollieren kann. Wir hatten schon mal einen Krieg in Kiew und jetzt die Pandemie, wir kennen dieses Gefühl also schon. Jetzt ist die Situation allerdings schon etwas ernster, auch wenn Russland nicht zum ersten Mal mit einer Invasion droht.

In Kiew finden immer noch große Partys statt, in den Bars treffen sich weiterhin viele Leute. Die angespannte COVID-Situation ist dabei völlig egal. Wir leben unser Leben, aber derzeit geht man nicht fort, um mit Freunden abzuhängen, sondern um über den ganzen Scheiß zu diskutieren, der gerade abgeht. An jedem Tisch in jeder Bar reden die Leute über die derzeitige Lage und darüber, was sie tun werden. Es gibt fast kein anderes Thema mehr.

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