Es ist der 21. Dezember 2016, kurz vor Weihnachten, als ein Umschlag der Anwaltskanzlei Addisons in Adam Vierras Briefkasten liegt. Addisons ist die australische Anwaltskanzlei von Nintendo, einem der größten Spielehersteller der Welt. Im Umschlag steckt eine Unterlassungserklärung für sein Fanprojekt, an dem er mehr als acht Jahre gearbeitet hat: Pokémon Prism. Vierra wollte sein Spiel zu Weihnachten 2016 kostenlos veröffentlichen. Ein Geschenk für Pokémon-Fans der ersten Stunde, die einst in den 90ern ihre ersten Pokémon-Spiele zu Weihnachten bekamen. Aber Nintendo wollte nicht, dass Vierras Spiel erscheint.
Pokémon Prism sieht aus wie eines der ersten Pokémon-Spiele für den Game Boy, die seit den 90er Jahren einen weltweiten Hype ausgelöst haben. Es fühlt sich an wie ein Pokémon-Spiel aus der Kindheit, als Pikachu noch neu war und es nur 251 Pokémon gab.
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Technisch basiert Prism auf dem in Europa 2001 erschienenen Spiel Pokémon Kristall für den Game Boy Color. Vierra hat die Spieldatei des Originals mit speziellen Werkzeugen aufgebohrt und am PC komplett verändert. Gamer bezeichnen das als ROM-Hacking. Für manche ist ROM-Hacking nur eine Methode, ein geliebtes Spiel leicht zu verändern. Aber Adam Vierra hat daraus eine Kunst gemacht, die das Original bei Weitem übertrifft. Das Ergebnis ist eine völlig unbekannte Pokémon-Welt mit neuen Landschaften, Abenteuern und vielen neuen Features.
Die meisten Pokémon-Fans dürften Adam Vierra eher unter seinem Künstlernamen kennen: Koolboyman. Schon 2004 brachte er mit Pokémon Brown seinen ersten ROM-Hack heraus und inspirierte Dutzende Jugendliche, eigene Pokémon-Spiele zu bauen. VICE konnte mit ihm ein schriftliches Interview führen. Wir hätten gerne ein Foto von Vierra gezeigt. Aber Anonymität im Netz ist dem ROM-Hacker wichtig. Nirgendwo findet sich ein Bild von ihm, auch uns wollte er letztlich kein Selfie schicken.
Zumindest seinen Arbeitsplatz hätte er uns gerne fotografiert. Aber “leider kann ich gerade kein Foto davon machen, weil ich wegen des Corona-Virus woanders festsitze”, schreibt er. Normalerweise arbeitet Vierra in San Francisco als App-Entwickler. Mit Videospielen beschäftigt er sich in seiner Freizeit. Mit Pokémon Prism hat er heute eigentlich schon abgeschlossen. In seinen Antworten an uns fasst er sich kurz, ausführlicher war er in der Vergangenheit auf seinem Twitter-Account und auf Reddit.
Vierra baute einfach sein eigenes Pokémon-Spiel
Vierras Leben ist eng mit Pokémon verknüpft, jenem Franchise, das 1996 in Japan startete und Nintendo später reich machte. Bis 2019 hat Pokémon Schätzungen zufolge 95 Milliarden US-Dollar Einnahmen erzeugt und ist damit das größte Media-Franchise überhaupt. Selbst Star Wars kommt im Vergleich nur auf 70 Milliarden US-Dollar.
Vierra mag die knuffigen Taschenmonster der zweiten Generation besonders gern, also jene Pokémon, die durch die sogenannte Silberne und Goldene Edition des Game-Boy-Spiels hinzukamen. “Ich habe zum US-Release im Oktober 2000 unglaublich viel Zeit mit meinen Freunden verbracht, alles im Spiel zu erkunden und jedes noch so kleine Geheimnis zu lüften”, schreibt uns Vierra. Als Jugendlicher reizt ihn wie viele andere auch, jedes Pokémon zu fangen und ein schlagkräftiges Team aufzubauen. Aber auch das Erkunden der Spielwelt habe er genossen, vor allem bei den alten Spielen in 8-Bit-Optik.
Nachdem Vierra in den Pokémon-Spielwelten namens Kanto und Johto alle hohen Gräser durchforstet hatte, hieß es warten. Bis die nächsten Spiele erschienen, hätte es Jahre gedauert. Aber Vierra will nicht warten. Was wäre, wenn er in der Zwischenzeit einfach sein eigenes Pokémon-Spiel entwickeln würde? Besonders fasziniert ist Vierra davon, dass er im neuen Pokémon-Spiel, der Goldenen Edition, einfach in die Welt des ersten Spiels zurückkehren kann. “Da habe ich mich gefragt: Was gibt es in diesem riesigen Universum noch so alles, was unerwähnt bleibt?”
Keiner hätte gedacht, dass ein ROM-Hack von Pokémon so viel kann
Als Vierra zur Jahrtausendwende mit der Arbeit an seinem ersten ROM-Hack namens Pokémon Brown beginnt, gibt es für Pokémon nur wenige andere ROM-Hacks. Und die meisten davon leisten nicht viel. Sie beschränken sich auf Details, ändern zum Beispiel die Sprache oder die Fähigkeiten einzelner Pokémon. “Es gab damals eine kleine Community”, sagt Vierra, “aber nur wenige Tools, die mir bei der Arbeit halfen.”
Vierra weiß aber, wie großartig sich ein guter ROM-Hack anfühlen kann. Auf der Spielkonsole NES hatte er schon in den 90ern ROM-Hacks von Super Mario und Zelda gespielt.
Also stürzt sich Vierra in die Arbeit. Er nimmt die Spieldatei von Pokémon wie ein Archäologe auseinander. Dabei nutzt er einen sogenannten Hexeditor. Das bunte Spiel ist darin nichts als eine endlose Reihe von Zahlenwerten.
Game Freak, die Entwicklerinnen und Entwickler von Pokémon, sind Vierras Vorbilder. Volle sechs Jahre arbeiteten sie an der ersten Pokémon-Generation und schrammten dabei ständig am Bankrott entlang. “Ohne Game Freak hätte ich wahrscheinlich keine Spiele entwickelt. Sie motivieren mich, nicht aufzugeben und meine Programmierkenntnisse immer weiter zu verbessern”, twittert Vierra im November 2019. Nach vier Jahren Arbeit veröffentlicht er 2004 seinen ersten eigenen ROM-Hack, Pokémon Brown. Danach wird die ROM-Hacking-Szene eine andere sein.
Denn Pokémon Brown zeigt, was durch ROM-Hacking möglich ist. Vierra inspiriert zahlreiche Jugendliche, eigene Pokémon-Spiele zu bauen. Die Community wächst rasch, viele neue Tools entstehen, die das Weltenbauen deutlich erleichtern. Seitdem sind Dutzende ROM-Hacks für Pokémon entstanden. Von den neuen Tools motiviert startet Vierra einen neuen Anlauf und beginnt 2008 neben dem College mit der Arbeit an seinem Meisterwerk Pokémon Prism. Acht Jahre soll sie dauern.
Prism erweitert Pokémon Brown um neue Spielgebiete und jede Menge neue Features. Eine neue Story, die witziger und erwachsener ist als die der offiziellen Pokémon-Spiele. Eine bessere Grafik, die aus der 8-Bit-Optik wirklich alles herausholt. In der Welt von Prism gibt es Schnee und brodelnde Lavabecken. Die Spielenden können zeitweise nicht nur ihren Spielcharakter, sondern auch ihre Pokémon steuern. All diese Features hätten Fans der 90er und frühen 00er Jahre zum Ausflippen gebracht.
Zwischenzeitlich leitet Vierra ein zehnköpfiges Team, das jedem Pokémon per Hand ein neues Styling verpasst und neue Musik komponiert. “Ich fühlte mich wie ein Spieleentwickler und habe in dieser Zeit unglaublich viel gelernt”, sagt Vierra. Mit Prism entwickelt Vierra in seiner Freizeit ein Pokémon-Spiel, das die Spiele von Nintendo um Längen übertrifft. Die Zielgruppe von Nintendo waren vor allem Kinder, die von dem Spiel nicht überfordert werden sollten. Vierras Zielgruppe dagegen waren Fans, die aufs Neue begeistert werden wollten.
Die Arbeit am ROM-Hack macht Vierra krank
Doch die Arbeit geht immer schleppender voran. Vierra findet seinen ROM-Hack nicht gut genug: “Ich bin mir selbst und meiner Arbeit gegenüber sehr kritisch und konnte Prism niemals in den Zustand bringen, dass ich wirklich zufrieden gewesen wäre”, sagt er. Immer wieder überarbeitet er bereits fertige Passagen. Vierra versinkt in der Arbeit und achtet nicht mehr auf sich und seine Gesundheit.
In dieser Zeit hatte er Angststörungen und Depressionen, schreibt Vierra 2017 auf Reddit. “Ich dachte damals, auf meine geistige Gesundheit zu achten, sei reine Zeitverschwendung.” Mit möglichst viel Arbeit an Pokémon Prism versuchte er, sich von seinen negativen Gedanken abzulenken. Herausforderungen zu meistern, gab ihm ein gutes Gefühl. “Doch das Glücksgefühl hielt immer nur kurz, und die negativen Gedanken kamen wieder.” Vierra erschafft den bislang besten ROM-Hack für Pokémon, geht dabei aber selbst vor die Hunde.
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Kurioserweise ist es Nintendos Unterlassungserklärung vom 21. Dezember 2016, die dem ein Ende bereitet. Die Firma war durch einen YouTube-Trailer auf Pokémon Prism aufmerksam geworden. Die Vorfreude war bei vielen Fans so groß, als würde ein offizielles Spiel erscheinen. Nintendo hatte bereits andere ROM-Hacks verhindert, darunter das Fanprojekt Pokémon Uranium.
Man könnte meinen, die Unterlassungserklärung hätte Vierra endgültig in die Depression gestürzt: acht Jahre Arbeit – umsonst. Aber Vierra beschreibt das Jahre später auf Reddit als Segen. “Ich konnte mich endlich auf meine geistige Gesundheit konzentrieren und neue Projekte anfangen.” Um nicht verklagt zu werden, entfernt Vierra alle Downloadlinks zu Pokémon Prism und Pokémon Brown. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht ahnen, dass sein Herzensprojekt dadurch eigentlich gerettet wurde.
Andere ROM-Hacker hatten die Spiele nämlich längst gesichert und veröffentlichten sie anonym auf der Online-Plattform Pastebin.
Noch nie war die ROM-Hack-Szene so aktiv wie heute
Was Vierra nicht beenden konnte und durfte, übernahmen seine Fans. Auf Reddit erschien eine Flut an begeisterten Reviews. Bis heute quillt der Prism-Subreddit über mit Diskussionen. Und auch die Entwicklung des Spiels geht weite. Fans haben sich unter dem Namen “RainbowDevs” zusammengeschlossen und arbeiten seit drei Jahren an den Details. Inspiriert davon entstehen aktuell zahlreiche andere ROM-Hacks im Stil der alten Spiele. Nintendos Unterlassungserklärung hat offenbar bewirkt, dass die Szene der ROM-Hacker auflebt wie nie zuvor.
Vierra bezeichnet sich inzwischen als “ROM-Hacker im Ruhestand” und möchte vorerst keine eigenen ROM-Hacks mehr entwickeln. “Ich bin mit vielen ROM-Hackern befreundet und freue mich, wenn ihre Projekte gut werden und besser sind als Prism“, sagt er.
Auch wenn Vierra durch seine Arbeit an Prism keinen Cent verdient hat, das Spiel hilft ihm heute beruflich. Zurzeit entwickelt er ein Multiplayerspiel namens The Wu Xing – zusammen mit einem Team aus lauter Prism-Fans.
Über Nintendo spricht Vierra bis heute positiv. Im Jahr 2017 habe sich die Firma bei ihm bedankt, schreibt er auf Reddit. “Sie verstanden, dass ich nicht versucht hatte, ihre Marke zu stehlen. Mein ROM-Hack wurde einfach zu erfolgreich und bedrohte die Verkaufszahlen.”
Wir haben die Pressestelle von Nintendo per E-Mail gefragt, warum die Firma Projekte wie Prism nicht kauft und damit Millionen verdient. Wenn wir eine Antwort erhalten, werden wir den Artikel updaten.
Vierra jedenfalls würde jederzeit als Mitarbeiter bei Nintendo anfangen, um Pokémon-Spiele zu entwickeln, schreibt er uns. “Sie wissen ja, wie sich mich erreichen.”