An der Biografie von Christian Lindner, Gewinnertyp und designierter Retter der FDP, klebt das erste Auto hartnäckig wie ein Stoßstangenaufkleber. Während andere morgens um die begehrten Sitzplätze im Schulbus stritten, brauste er mit 19 im Porsche 911 zum Zivildienst und mit 20 zur Uni: stets perfekt rasiert, ein Sakko über der Schulter, die Ledertasche unterm Arm. Ich bin im reichen Luxemburg aufgewachsen, aber ein Typ wie Lindner wäre selbst an meinem Gymnasium aufgefallen.
Fragt man Lindner heute nach dem Auto (er teilt die Anekdote auch gern selbst mit), beschreibt er seinen Lifestyle, als wäre der nichts Besonderes: “Das war eben eine rasante Zeit. Tagsüber war ich Zivi, nachts Unternehmer.” Dabei ist sein Werdegang alles andere als normal: Mit 18 gründete er eine Werbeagentur, vom ersten selbst verdienten Geld kaufte er sich den Luxuswagen.
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Mein erstes Gehalt dagegen finanzierte beim Kinobesuch Chips UND Schokolade und eine “Luxus”-Tasche im Wert von 50 Euro – aber im Gegensatz zu Lindner half ich auch nur in der Kanzlei meines Onkels aus. Lindners Einnahmen, so heißt es, haben schon zu Schulzeiten eine Million Mark überstiegen. Nein, Christian Lindner war definitiv kein Teenager wie jeder andere. Ich war erst sieben Jahre alt, als er 1999 mit seinem Sportwagen durchs Bergische Land raste. Was aber, hätten sich unsere Leben gekreuzt? Wäre ich mit diesem Typen befreundet gewesen, wäre er so alt wie ich?
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Er beneidete die Kinder, die im VW Passat zur Schule gefahren wurden
Lindners Kindheit unterscheidet sich eigentlich nicht von der anderer Kinder: 1979 in Wuppertal geboren – der Vater Lehrer, die Mutter Hausfrau – wächst er nach der Scheidung seiner Eltern bei seiner Mutter in Wermelskirchen auf. Er war damals fünf, mit seinem Vater verband ihn auch später die Liebe zu Büchern: “Wir waren damals das literarische Duett”, sagte Lindner im Interview mit der Bunten. Trotzdem beneidete der junge Christian seine Mitschüler, weil sie im VW Passat zur Schule gebracht wurden und zweimal im Jahr mit ihren Eltern in den Urlaub fuhren. Den schmerzlichen Vergleich mit Kindern aus heilen Familien kann ich gut nachvollziehen. Im Gegensatz zu Lindner, der die Trennung heute als gute Erfahrung beschreibt, war die Scheidung meiner Eltern für mich allerdings traumatisch: Mein Vater und meine Mutter reden auch fast 20 Jahre später kaum miteinander. Den Wunsch, so schnell wie möglich von zu Hause auszuziehen, haben young Christian und ich aus den unterschiedlichen Erfahrungen aber scheinbar gleichermaßen davongetragen. Er, weil er Geld verdienen, eine eigene Wohnung und ein eigenes Auto haben wollte. Ich, weil ich keinen Bock mehr hatte, zweimal wöchentlich mit all meinen Habseligkeiten zwischen den Häusern meiner Eltern hin- und herzupendeln.
“Manche Lehrer laufen noch so rum wie damals. In den gleichen, vielleicht sogar denselben, Pullovern”, erzählte Lindner 2011 in einer Talkrunde über seine Heimatstadt Wermelskirchen (knapp 36.000 Einwohner). “13 Jahre ist es her, dass ich Abitur gemacht habe, aber seitdem hat sich nichts verändert.” Auch ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich mit der Arroganz eines Expats an die Menschen denke, die noch immer in den 120-, beziehungsweise 2.000-Einwohner-Dörfern meiner Eltern leben: Wie könnt ihr euch mit diesem langweiligen Leben zufrieden geben, warum reißt ihr nicht aus?
Wären Christian und ich damals zur selben Schule gegangen, hätten wir als Scheidungskinder vielleicht kurz gebondet – dann wären uns vermutlich die Gesprächsthemen ausgegangen. Lindner las mit 14 die Freiburger Thesen, das Grundsatzprogramm der FDP, mit 16 trat er in die Partei ein, weil sie seinem “Lebensgefühl” entsprach. Mit 19 war er im Vorstand der NRW-FDP und mit 21 jüngster Abgeordneter in der Geschichte des nordrhein-westfälischen Landtags. Ich ging Flamenco tanzen, zog vor dem Musikunterricht an meinem ersten Joint und las Krimis, in denen Frauen ihre untreuen Männer umlegten.
In seinem ersten Zeugnis beschreibt die Lehrerin Lindner als “altklug”
Ich stelle mir vor, dass der junge Christian in der Schule angeeckt ist. Auf die Frage einer Journalistin, wie er denn damals angekommen sei, antwortete er vor ein paar Jahren nur mit: “Kontrovers.”
Freitags ging er nach der Schule zum Debattieren in die Philosophie-AG, vor dem Unterricht besprach er am Handy Termine für seine Firma, und dann lief er auch noch ständig in diesem für den Schulalltag viel zu affektierten Sakko herum. Wären wir damals in eine Klasse gegangen, hätte ich Christian sicher als Streber bezeichnet, wäre ihm bei seinen Vorträgen ins Wort gefallen – aus der letzten Reihe natürlich – und hätte ihn insgeheim ein bisschen um seinen Ehrgeiz und seine Disziplin beneidet. Er hätte mich im Gegenzug vielleicht als oberflächliche Tussi bezeichnet, immer ein bisschen zu vorlaut und ohne Sinn für das politische Geschehen – dafür habe ich mich als Schülerin noch nicht besonders interessiert. Immerhin hat er bei seinen Lehrern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der motivierte Blondschopf mit dem wachen Blick: Im Stern erzählten sie 2011 bewundernd, wie selbstbewusst Christian debattierte und wie intelligent er Essays schrieb (sein literarisches Vorbild war der Philosoph Peter Sloterdijk), in seinem allerersten Zeugnis stand aber auch: “Christian wirkt manchmal ein bisschen altklug.”
Anders als die meisten Jugendlichen verbrachte er seine Zeit nicht damit, Alkohol-, Drogen- und Sexerfahrungen zu sammeln, sondern arbeitete diszipliniert, es wirkt fast verbissen, an seinem Lebenslauf – auch wenn selbst ein Überflieger wie Lindner mal in die Scheiße greift: Mit 21 gründete er “Moomax”, ein Internetunternehmen, das später insolvent ging, weil sich – plump gesagt – niemand dafür interessierte. Im gleichen Alter habe ich das Auto meiner Mutter gegen eine Wand gefahren.
Trotzdem ging Lindners Plan auf, in seiner Biografie reiht sich ein Erfolg an den nächsten. 2004 wurde er zum Generalsekretär der NRW-FDP ernannt, er war zu dem Zeitpunkt 25, mitten im Studium und so alt wie ich jetzt. “Damals ist er erwachsen geworden”, sagte die ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Ina Albowitz dem Stern. Sie erzählte aber auch, wie Lindner in einem Gespräch mit ihr nicht einsehen wollte, dass 77.000 Euro kein gängiges Jahresgehalt seien – und ihr dann, eine Hand in der Hosentasche, die große Politik erklärt hat.
“Sei Architekt deiner eigenen Biografie. Lebe dein Leben, wie du es anlegen möchtest.”
Szenen wie diese lassen mich glauben, dass Lindner in seinem eigenen Mikrokosmos lebt – dem, in dem 18-jährige Mittelstandskinder mit Leichtigkeit Unternehmen gründen, Millionen verdienen und im Sportwagen cruisen. “Sei Architekt deiner eigenen Biografie”, sagte Lindner im Bunte-Interview, “lebe dein Leben, wie du es anlegen möchtest.” – “Aber Christian”, würde ich gerne zu ihm sagen, “was ist mit den Menschen, die in prekären Lebenssituationen aufwachsen? Deren Vater kein Lehrer ist?” Ich stelle mir vor, wie der junge Christian Lindner auf dem Schulhof abgewunken hätte: “Sorry Rebecca, aber ich muss gleich zum Termin mit meinem Investor.” Dann würde er die Tür von seinem Porsche zuschlagen und mich mit meinen sozialen Idealen stehen lassen.
Nein, ich wäre wahrscheinlich nicht mit Christian befreundet, wenn er in meinem Alter wäre. Aber das wäre ihm wahrscheinlich egal: “Wenn du von allen gemocht werden willst, dann gehst du in die CDU”, sagte er einmal, “aber ich bin Individualist.” Selbst Individualisten, das schrieb schon der Soziologe Ferdinand Tönnies, erreichen nur wenig, wenn sie hoch hinaus wollen, ohne dabei an andere zu denken. Aber vielleicht war Christian gerade im Meeting, als Ferdinand Tönnies in der Philosophie-AG dran war.
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