Politiker im Test: Wären wir Freunde, wären wir im gleichen Alter?

Wenn eine Frau eine Gesellschaft fordert, in der alle Menschen Hummer essen können, fasziniert sie mich. Sahra Wagenknecht ist eine Marxistin, die den Euro ablehnt. Eine Linke, die mit rechtem Populismus flirtet. Gewählt habe ich sie oder ihre Partei noch nie, und habe es auch nicht vor. Politisch trennt uns viel, privat haben wir einiges gemeinsam. Wagenknecht kommt wie ich aus einem gemischten Ossi-Wessi-Elternhaus. Wir haben beide in Jena Literaturwissenschaft studiert, mögen die Idee des Sozialismus. Sie sagt, sie könne nicht kochen, weil sie es nie gelernt habe. Ihr Lieblingsessen ist Spaghetti mit Pesto. Meins auch, und auch ich kann nicht kochen. Ich bin bloß zwanzig Jahre jünger.

Ich will wissen, wer Sahra Wagenknecht war, bevor Journalisten über sie schrieben: “das rote Teufelchen”, “die schönste Linke aller Zeiten”, “die schwarzhaarige Sirene”. Wenn wir spontan so viel gemeinsam haben – wären wir Freunde, wenn wir im selben Alter wären?

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Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, sitzt die 20-jährige Sahra Wagenknecht in ihrer Ostberliner Wohnung – drei Zimmer, 45 Ostmark Miete – und liest Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. An der Wand hängen Bilder von Marx, Hegel und Walter Ulbricht. Die Männer, die ihr Leben prägen. Sie ist gerade 20 und ein halbes Jahr zuvor in die SED eingetreten.

Meine Eltern haben mich irgendwann in diesen historischen Wochen 1989 gezeugt. Aber wäre ich damals in Sahra Wagenknechts Alter gewesen, hätte ich sie vielleicht gefragt, ob wir uns die 100 Mark Begrüßungsgeld holen und die “drüben” in einer Kneipe vertrinken. Kreuzberger Nächte, wie wär’s? Sie hätte abgewunken.

“Das Begrüßungsgeld fand ich demütigend”, sagte sie Jahre später in einem Interview. Und an anderer Stelle: “Ende 1989 wusste ich überhaupt nicht, wie es weitergehen sollte. Ich hatte Angst. Was hatte ich denn? Abitur und sehr viele Bücher gelesen.”

Wagenknecht galt nach DDR-Recht als “Asoziale” – und verteidigt den Sozialismus.

Weil sie in der Schule den Zivilverteidigungsunterricht geschwänzt hat, die vormilitärische Ausbildung, darf sie nach dem Abi 1988 nicht studieren. Die Behörden teilen ihr einen Job als Sekretärin zu – ausgerechnet in der Verwaltung der Berliner Humboldt-Universität. Statt zu studieren, tippt sie Briefe ab. Nach drei Monaten kündigt sie. Doch in der DDR ist es nicht vorgesehen, dass das Individuum ausschert. Wagenknecht ist seitdem nach DDR-Recht eine “Asoziale“, die nicht für das Kollektiv arbeitet. Und trotzdem verteidigt sie anschließend die DDR. Besonders vehement in den Wochen nach der Wende: “Die DDR”, sagt sie damals, “war in jeder Phase das friedlichere, sozialere, menschlichere Deutschland.” Sie tritt noch während der Wende in die SED ein: “Weil ich hoffte, die DDR noch verändern zu können. Das war natürlich auch eine Selbstüberschätzung”, sagt sie heute.

Wer verstehen will, warum Wagenknecht sich an einen Staat klammerte, der sie zur “Asozialen” degradierte, muss weiter zurück blicken, in ihre Jugend.

Das ist nicht The Cure-Sänger Robert Smith, sondern Sahra Wagenknecht auf dem PDS-Parteitag 1995 | Foto: imago | Jürgen Eis

Wagenknechts Mutter betreibt zwei Kunstgalerien in Jena und Ost-Berlin. Ihren Vater, ein Iraner, der in West-Berlin studiert hat, lernt sie nie kennen. Er reist kurz nach ihrer Geburt zurück in sein Heimatland und bricht den Kontakt ab. Wagenknecht glaubt, dass er in einem Foltergefängnis des iranischen Regimes gestorben ist. Sie sagt, ihr Vater habe ihr immer gefehlt – als Beschützer: “Wenn niemand da ist, der einen beschützt, muss man sich selbst beschützen.”

Weil sie nicht in den Kindergarten will, nimmt die Großmutter sie zu sich. In einem Alter, in dem ich gerade lerne, mir allein eine Schleife zu binden, geht Sahra allein in die Jenaer Stadtbücherei und liest Märchen. “Kinderbibliotheken waren für mich wie Süßwarenläden”, sagt sie. Aber Wagenknecht liest nicht, um in eine Märchenwelt zu fliehen. Sie will die Wirklichkeit verstehen.

Wagenknecht liest bis zu 15 Stunden am Tag. Sie lernt Goethes Faust auswendig. Komplett.

Schon mit zehn Jahren arbeitet sie sich durch das Bücherregal ihrer Mutter, mit 16 legt sie sich einen Lektüreplan zurecht: “Nachmittags drei Stunden Hegel oder andere klassische Philosophen, dann Marx. Abends, zur Entspannung, habe ich Thomas Mann gelesen.”

Sahra Wagenknecht ist ein Nerd. Sie liest sich durch die marxistische Geistesgeschichte. Bis zu 15 Stunden am Tag. Einmal lernt sie Goethes Faust komplett auswendig, nur weil sie jede einzelne Zeile verstehen will. Sie will sich mit anderen darüber austauschen, aber: “Da war niemand, mit dem ich sprechen konnte.”

Wären wir, Sahra und ich, doch zu dieser Zeit schon Freunde gewesen! Ich hätte mit ihr zwar nicht über Philosophie sprechen können, denn sowas interessierte mich nicht, als ich 16 war. Aber ich hätte ihr vorgeschlagen: Komm, Sahra, wir gehen im Park spazieren, kippen unterwegs ein paar Bier und du erklärst mir, wie du dir das vorstellst mit der klassenlosen Gesellschaft. Also in Grundzügen. Sie hätte gesagt: “Niclas, glaubst du, Marx ging tagsüber einfach so Bier trinken? Nein. Und er würde dein kleingeistiges Weltbild verachten.”

“Ich war damals nicht gerade kommunikativ”, sagt sie. Auf viele habe das arrogant gewirkt, sogar überheblich, sagt sie heute. Aber es hilft ihr zu überspielen, wie unbeholfen sie sich damals fühlt. Ich kenne das und finde es deshalb sympathisch. Ich wusch mich beispielsweise während der Pubertät äußerst selten. Aus Trotz. Das steigerte zwar nicht gerade meine Beliebtheit, aber sendete eine Botschaft: Ihr seid mir egal, ich mache mein Ding. Lasst mich in Ruhe.

In der Wendezeit denkt sie manchmal daran, sich umzubringen.

Das Nicht-Duschen isolierte mich damals. Das Lesen, das Sahra Wagenknecht so liebte, isolierte sie. Für die Zeit hat Wagenknecht einmal ihr Leben als Kurvendiagramm aufgezeichnet. Eine Kurve beschreibt, wie glücklich sie wann in ihrem Leben war. Die Wendezeit ist der Tiefpunkt. Es gab Momente, in denen sie daran dachte, sich umzubringen. Doch die Literatur – was sonst? – rettet sie. Im Frühjahr 1990 liest sie Doktor Faustus von Thomas Mann. Die Figur des Adrian Leverkühn ängstigt sie. Leverkühn geht im Roman einen Deal mit dem Teufel ein: Er verzichtet auf Liebe, der Teufel schenkt ihm die Weisheit. Er ist wahnsinnig intelligent – und wahnsinnig einsam. Wagenknecht erkennt sich wieder und weiß: So will sie niemals werden.

Ich hätte ihr das Angebot gemacht, den Namen “Adrian Leverkühn” auf ein Blatt Papier zu schreiben und es anschließend rituell zu verbrennen. Das hätte sie bestimmt schrecklich gefunden. Kitschig. Stimmt ja. Aber sowas schlägt man nun einmal vor, wenn man jung ist und dramatisch.

Wagenknecht schafft es allein, ihre Angst zu verjagen. Weil im Sommer 1990 in Ostdeutschland die Zulassungsbeschränkungen zum Studium wegfallen, darf sie endlich studieren: Philosophie und Literatur in Jena und Berlin.

Wagenknechts Professoren an der Ostberliner Humbold-Universität merken, dass sie ihr nichts mehr beibringen können. Sie hatte ja schon alles durchgearbeitet, was im Grundstudium behandelt wird. “Da bekam ich das erste Mal wirkliche Anerkennung”, sagt sie. “Ich konnte mich endlich austauschen, das war fantastisch.” Doch sie findet keinen Professor, der ihre Abschlussarbeit betreuen will: Der Sozialismus ist tot, Marx ist out. Sie geht nach Groningen, in die Niederlande, wo noch Marxisten lehren. Menschen, die Anfang der 90er Jahre gewirkt haben müssen, als wären sie aus der Zeit herausgefallen. Menschen, die an einem System festhalten, das gerade untergegangen war.

Sahra wurde gemobbt, weil sie las. Ich, weil ich Augenpflaster tragen musste.

Sahra Wagenknecht wurde in dieses System hineingeboren, acht Jahre nach dem Mauerbau. Die Kinder in der Schule hänseln sie. Ihre Haare sind dunkel, ihre Haut und ihre Augen. “Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, als Fremde wahrgenommen zu werden”, sagt sie. Die Kinder mobben sie, weil sie anders aussieht. “Ich hatte deshalb eine gewisse Scheu im Umgang mit anderen Kindern.”

Wir, Sahra und ich, wären eine schräge Kombination gewesen. Ich wurde in der Schule geärgert, weil ich dürr war und ein Augenpflaster tragen musste, damit ich nicht mehr schielte. Sie wurde gemobbt, weil sie anders aussah und las. Das hätte uns bestimmt zusammengeschweißt.

In der Pubertät entdecken wir beide Punk, Alkohol und schätzen die Gesellschaft älterer Freunde. Wagenknecht lässt sich eine Punkfrisur stehen, ich nicht. Ich kenne mein Limit beim Trinken, sie übertreibt. Bei einer Faschingsfeier trinkt sie so viel, dass sie ohnmächtig wird. “Dieser Kontrollverlust hat mich schockiert“, sagt sie. Daraufhin flechtet sie die Haare zu einem strengen Dutt, den sie bis heute trägt. Aus der Punkerin wird die überzeugte Marxistin. Seitdem drückt sie den Rücken durch, wenn sie redet. Spricht langsam und betont, als lese sie aus den Büchern vor, die sie liebt. Die Leute beginnen, ihr zuzuhören. Sie macht Karriere. 1991, gerade einmal eineinhalb Jahre nach dem Parteieintritt (die SED heißt mittlerweile PDS), übernimmt sie die Leitung der Kommunistischen Plattform, einem parteiinternen Zusammenschluss orthodoxer Kommunisten.

Im selben Jahr, da ist sie gerade 22, steigt sie in den Parteivorstand auf. Wagenknecht ist eine, die poltert. Sie gibt den Parteien aus dem Westen die Schuld am Zusammenbruch der DDR. Sie verabscheut Menschen, die sich nach der Wende nach dem Westen sehnen, den Kapitalismus, dieser von Wagenknecht so verhassten Wirtschaftsordnung. “Ich habe die DDR in einer Weise gelobt”, sagt sie Jahre später, “wie mir das vor 1989 nie in den Sinn gekommen wäre.” Wieder so eine Trotzreaktion, die ich an ihrer Bockigkeit so sympathisch finde.

Vielleicht hätten wir mal geknutscht. Sie, die kühle Frühintellektuelle und ich, der – nun ja – halbpolitisch-interessierte Normalo. Wahrscheinlich nicht. Weil sie sich nicht in Männer verlieben kann, die ihr intellektuell unterlegen erscheinen. Aber das macht nichts. Wir hätten trotzdem so viel gemeinsam gehabt, dass wir uns bestimmt gemocht hätten.

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