Als Merkel das erste Mal betrunken war, hatte sie zu viel Kirsch-Whiskey getrunken und war von einem Boot gekippt. “Für einen Moment hatte ich vergessen, dass ich ins Wasser falle, wenn der neben mir aufsteht”, erzählt sie. Als ich das erste Mal betrunken war, habe ich zu viel Jägermeister getrunken und bin zum Glück nur kopfüber in mein Bett gekippt. Mein Gefühl sagt mir, dass wir beide, Merkel und ich, uns nie zusammen betrunken hätten.
Auf Partys haben wir uns nämlich unwohl gefühlt. Merkel sagte in dem wohl legendärsten Merkel-Interview aller Zeiten mit dem Toten-Hosen-Sänger Campino, sie sei auf Feten immer unheimlich traurig gewesen, weil sie sich nicht in die Musik reinsteigern konnte. Mein schlimmster Teenie-Nachmittag kam, als meine Freundinnen einen Tanzwettbewerb zu Shakiras “Whenever, wherever” veranstalteten und an die Teilnehmer Schulnoten vergaben. Da war ich auch unheimlich traurig.
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“Ich war das Mädchen, das Erdnüsse isst und nicht tanzt”, sagte Merkel. Wären wir in der gleichen Zeit geboren worden, wir hätten zusammen in irgendeinem Partykeller gesessen und hätten, die Gesichter von einer Diskokugel beleuchtet, ab und an unsere Hände in eine kleine Schale Erdnüsse getaucht. Vielleicht hätten wir zaghaft mit dem Kopf zum Takt der Puhdys gewippt, die sie gerne mochte.
Wenn ich mir Merkel in ihrer Jugend vorstelle, sehe ich komischerweise trotzdem nur die heute 63-jährige Bundeskanzlerin vor mir, mit dem gleichen Topfschnitt, dem gleichen Kostüm, der Raute. Ich kann mir Merkel nicht komplett gelöst vorstellen, dass sie mit geschlossenen Augen tanzt, mit irgendeinem Typen knutscht oder wenigstens über irgendetwas Irrelevantes nachdenkt. Am besten beschreibt diese Ernsthaftigkeit der Journalist Alexander Osang in einem Porträt über sie: “Manchmal scheint es, als liebten die Leute sie bloß dafür, dass sie sich in den Talkshows nicht verspricht. Als sähen die Menschen ihr bei der Schulaufführung zu und hofften, dass sie den Text nicht vergisst.” So wie sie heute ist, sehe ich Merkel auch in ihrer Jugend vor mir: vernünftig, ohne große Eskapaden.
Vielleicht ist es auch logisch, dass ich mir Merkel nicht jung vorstellen kann. Immerhin bin ich Teil der “Generation Merkel”. Ich schreibe über die Jugend der Frau, die meine Jugend mitgeprägt hat. Wie Merkel in ihrer Jugend getickt hat, werde ich nie endgültig verstehen. Erstens, weil ich nie mit ihr geredet habe. Zweitens, weil sie eine sehr private Person ist. Es gibt zwei mehr oder weniger intime Dinge, die ich über die Kanzlerin wusste, bevor ich diesen Text geschrieben habe: wie sie ihren Streuselkuchen zubereitet und warum ihr Kartoffelsuppe gut gelingt.
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In meiner Vorstellung riecht es im Hause Merkel immer nach Kartoffeln. Das ist schon ihr ganzes Leben so: Als Geruch ihrer Kindheit beschreibt Merkel Kiefern und Heu und im Herbst den Duft von Kartoffeln im Kartoffeldämpfer. Sie ist nicht in Ostdeutschland geboren, sondern in Hamburg. Ihre Mutter hat sie im Alter von zwei Monaten in einem kleinen Körbchen in die DDR gebracht, weil ihr Vater, ein evangelischer Pfarrer, dort arbeiten wollte. Aufgewachsen ist Merkel in Templin in der Uckermark und ist somit in einer Einparteien-Diktatur groß geworden. Wenn Merkel über die DDR spricht, sagt sie: “Ich bin in einem schlechten Staat, aber in einer wunderschönen Landschaft aufgewachsen.” Wenn ich über meine Jugend spreche, ist es umgekehrt. Die einzige Natur, die ich in meiner frühen Kindheit regelmäßig um mich hatte, war der Neuköllner Streichelzoo, wo Hunderte Berliner Stadtkinder und ein paar arme Ziegen sich gegenseitig ungläubig anstarrten. Dafür kenne ich als Staatsform nur die Demokratie – ein guter Tausch, wie ich finde. Trotzdem wäre ich gerne in meiner Kindheit mit Angela durchs Heu getollt und hätte anschließend den Kartoffelsalat ihrer Mutter gegessen. Wenn sie zu mir nach Berlin gekommen wäre, hätten wir uns Döner geholt. Immerhin hat Merkel ihre erste 4,50 Westmark für einen Döner ausgegeben. “Weil ich ein großer Dönerfan bin”, sagt sie.
Mein Eindruck ist, dass Merkel und ich uns in der Schulzeit ähnlich waren. Ich glaube, wir beide können unseren Eltern heute erzählen, was wir ihnen in unserer Jugend verheimlicht haben, ohne rot zu werden. Drogen hat Merkel nie genommen, ich auch nicht. Zigaretten hat sie einmal mit Freunden probiert. “Ich hatte keine Freude daran”, sagt sie trocken. Als ihre größte Jugendsünde beschreibt Merkel: “Mit einem neuen Trainingsanzug aus einem Westpaket in eine harzige Baumhöhle zu kriechen.” Bedenkenlos kann ich sagen, dass ich dabei zu hundert Prozent am Start gewesen wäre. Sicher haben wir beide oft zu hören bekommen, “brav” zu sein.
Brav sein wird oft gleichgesetzt mit langweilig sein. Für mich heißt es, dass sich jemand auf die Dinge fokussiert, die ihn oder sie wirklich interessieren. Merkel tat das schon mit fünf Jahren: Sie ließ sich von ihren Eltern erklären, wie sie einen Berg hinuntersteigen soll – rein technisch –, bevor sie das Abenteuer in Angriff nahm. “Was ein normaler Mensch ganz von selbst kann, musste ich erst geistig verarbeiten und mühsam üben”, sagt sie. Ihre Eltern seien heute noch fassungslos, dass sie im Gebirge wandern gehe.
Für Merkel und mich hat brav zu sein vorrangig bedeutet, dass wir gut in der Schule waren. Sie hat ihr Abitur mit 1,0 bestanden, ich meins mit 1,4. Ich glaube nicht, dass Merkel uncool war. Ich glaube nur, dass sie, ohne zu zögern, sagen konnte: “Ich habe keine Freude am Tanzen oder an Zigaretten, ich geh lieber zur Russisch-Olympiade oder in die Mathe-Förderklasse.” Das kenne ich. Ich war auch nie uncool und ja, ich hatte auch Freunde. Nur waren das eben die, die es nicht gestört hat, dass ich fünfmal die Woche zum Basketball und am Wochenende zum Debattierclub gegangen bin.
In unserer Jugend teilten Merkel und ich ähnliche Vorbilder: Merkel sagt, sie bewundere Leute, die auf friedlichem Wege, nur durch die Macht ihrer Persönlichkeit, etwas bewegt haben, Menschen wie John F. Kennedy, Albert Schweitzer und Martin Luther King. Ich habe während der Schulzeit ein Buch über die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung mindestens zehn Mal gelesen, so sehr hat mich das Thema fasziniert. Ein bisschen cooler wären wir wohl beide gewesen, hätten wir einfach Musiker oder Schauspieler bewundert. Martin Luther King als Vorbild ist aber auch nicht komplett nerdy, so wie die Linken-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht, die bis zu 15 Stunden am Tag Hegel und Marx gelesen hat. Vernünftig trifft es am besten – so waren Merkel und ich als Jugendliche.
Rebellisch war Merkel trotz dieser Vorbilder nicht. Zwar sagt sie, dass sie nie so etwas wie eine DDR-Identität hatte. Trotzdem war sie in der Schulzeit Mitglied bei den Jungpionieren, später an der Uni bei der Freien Deutschen Jugend. Ein Teil dieser Verpflichtungen hing wohl auch damit zusammen, dass sie es als Pfarrerstochter schwerer hatte als andere. Sie kam aus einer bürgerlichen, religiösen Familie und wurde deshalb vom System misstrauischer beobachtet als andere Kinder. “Wir mussten immer besser als die anderen sein, damit wir studieren konnten”, sagt sie in einem Interview mit der Fotografin Herlinde Koelbl. “Jeder Schwachpunkt wäre vom Staat ausgenutzt worden, um uns die Chance eines Studiums zu verbauen.” Die wissenschaftliche Karriere war Merkel zu wichtig. Es scheint für sie nie in Frage gekommen zu sein, sich gegen das Ein-Parteien-System aufzulehnen.
Gleichzeitig hat sie sich von dem System immer distanziert: Merkel hatte als DDR-Bürgerin trotzdem die deutsche Staatsangehörigkeit und hätte die DDR notfalls mit einem Ausreiseantrag verlassen können. Sie sagt, dass dieser Gedanke für sie immer wichtig war. “Wenn ich hier nicht mehr leben kann, lasse ich mir wegen dieses Systems mein Leben nicht verderben, egoistisch, wie ich bin”, habe sie sich gedacht. “Dann geh ich in den Westen.” Um zu promovieren, musste man nach der damaligen Prüfungsordnung seine Kenntnisse des Marxismus-Leninismus vertiefen. Merkel, die bis dahin Einserschülerin und Studentin war, bekam für ihre Abschlussarbeit in diesem Fach nur ein “Genügend”. Sie habe sich stets so verhalten, dass sie mit dem Staat nicht dauernd im Konflikt leben muss, sagt Merkel. Nicht mehr und nicht weniger. Merkel beschreibt sich als sonniges Gemüt, eine, die viel lacht und – wie sie sagt – gerne schwatzt. Hätte sie sich in der DDR aufgelehnt, hätte sie zu viel aufgeben müssen: die Karriere und die Unbeschwertheit.
Ob mir das sympathisch gewesen wäre, will ich nicht beurteilen. Wer weiß schon, ob er sich in einem autokratischen System aufgelehnt hätte? Was mir jedoch sympathisch ist, ist, dass Merkel direkt in der Wendezeit angefangen hat, sich in einer demokratischen Partei zu engagieren, um “zu testen, wie weit sie es bringt”. “In der DDR war man ja nicht gefordert”, sagt sie. “Da durften Sie sich nie ausleben.” Dass Merkel die Chancen der Demokratie direkt nutzen wollte, das hätte ich bewundert.
Vielleicht hätten Merkel und ich eine typische Schulfreundschaft gehabt, die sich in der Studienzeit auseinanderlebt. Erstens hätten wir uns nie gesehen: Während Merkel in der Physikfakultät ihrer Uni fleißig an ihrer Diplom-Arbeit zum Thema “Der Einfluß der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien” geforscht hat, habe ich mich an Debatten über ihre Flüchtlingspolitik beteiligt, als Studentin beschlossen, niemals wissenschaftlich arbeiten zu wollen, und am Ende einfach viel Kaffee auf der Uniwiese getrunken. So lange, wie sie an ihrer Arbeit geforscht hat, hätte ich gebraucht, um den Titel zu verstehen.
Merkel hat ihren ersten Mann mit 23 Jahren geheiratet, Ulrich Merkel, einen Physikstudenten. Kirchlich, darauf hat sie bestanden. Ich bin 24 und das ist mein schlimmster Albtraum. Ulrich und Angela haben sich drei Jahre später getrennt. “Wir haben geheiratet, weil alle geheiratet haben. Das hört sich heute blödsinnig an, aber ich bin an die Ehe nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit herangegangen”, sagte sie später. Ich finde es hartherzig, dass Merkel offenbar schon früh den Wunsch hatte zu heiraten, homosexuellen Paaren dieses Recht aber bis heute nicht geben will.
Campino fragt Merkel in dem Interview: “CDU und Jugend, ist das nicht ein Widerspruch?” Sie antwortet: “Nein, das glaube ich nicht.” Ich glaube das schon. Die Junge Union ist noch viel konservativer als ihre Mutterpartei. Die Beschlüsse der Jugendorganisation der CDU lesen sich in etwa so rückwärtsgewandt wie das Parteiprogramm der AfD. Und es geht fast ausschließlich um Ausländer: unverzügliche Abschiebung nach der Ablehnung eines Asylantrages, Verbot der Vollverschleierung, kein Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft. Was die jungen Menschen in der CDU sonst so bewegt, ist die “optische Aufwertung sämtlicher Grenzübergänge durch Fahnen der Bundesrepublik Deutschland” und die Ergänzung des Grundgesetzes um den Satz “Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch”. No other problems?
Fairerweise muss man dazu sagen: Merkel wird heute von der Jungen Union für ihre für die CDU verhältnismäßig liberale Haltung oft kritisiert. Dennoch: Sie war gegen die Ehe für Alle, hat Frauenquoten lange abgelehnt, das Betreuungsgeld (“Herdprämie”) eingeführt und an der Atomkraft lange festgehalten. Liberale Politik wird in Deutschland meiner Meinung nach trotz und nicht wegen der CDU gemacht. Ihre Neigung zum Konservativen hätte Merkel und mich nie in denselben Freundeskreis gebracht.
Merkels Konfirmandenspruch war: “Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Am größten aber ist die Liebe.” Sie sagt, er leite sie im Umgang mit den Menschen, denen sie begegne. So pathetisch das klingt, so wenig religiös ich bin, aber dieses Bild ist mir sympathischer als das der “Alternativlos”-Frau, deren größte Reform es war, den Wahlkampf in Deutschland abzuschaffen. Merkel, die mit verklebtem Trainingsanzug in einer Baumhöhle sitzt, ihre Westmark für Döner ausgibt, auf Partys unheimlich traurig ist und der nichts wichtiger ist als die Liebe, ja mit dieser Merkel wäre ich gerne befreundet gewesen.
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