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Polizisten gehen rabiat gegen Tor-Aktivisten vor, als sie chemische Formeln in seinem Büro entdecken

“Wir saßen vier Stunden in einer Zelle, während sie oben alles auf den Kopf gestellt haben”, sagt Moritz Bartl über seine vorläufige Festnahme. Der Hacker und Netzaktivist wurde am 20. Juni um 6 Uhr morgens von der Polizei überrascht: Hausdurchsuchung. Zu dem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass deutsche Polizisten gleichzeitig an fünf weiteren Orten bei Unterstützern des Tor-Netzwerkes klingelten.

“Zunächst war noch alles freundlich”, so Bartl im Gespräch mit Motherboard. Die Beamten hätten ihm erklärt, sie müssten die Wohnung durchsuchen. Nicht aber, weil Bartl beschuldigt sei, sondern nur, weil er ein Zeuge sei. “Ich wusste bis dahin nicht, dass man auch die Wohnungen von Zeugen durchsuchen darf”, sagt der Hacker.

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Die Ermittler hätten Datenträger und Dokumente von Bartls Vereins Zwiebelfreunde sehen wollen. Der Verein betreibt unter anderem Knoten des Tor-Netzwerks, über das Nutzer anonymisiert und geschützt vor Tracking und staatlicher Überwachung surfen können. Eskaliert sei die Situation, als Bartl der Polizei auch seinen Arbeitsplatz in einem Augsburger Hackerspace zeigte.

Foto vom Büro von Netzaktivist Bartl
Das Büro von Moritz Bartl im Jahr 2015, als Motherboard den Hacker für einen Bericht über das Tor-Netzwerk besuchte | Bild: Jasmin Steigler | Motherboard

“Dort standen Chemikalien für den 3D-Drucker und zum Ätzen von Platinen herum. Auf dem Whiteboard war irgendeine chemische Formel geschrieben”, erzählt Bartl. Zunächst nichts Ungewöhnliches für einen Ort, wo Hacker und Bastler ihre Zeit verbringen. Die Polizisten haben das aber offenbar anders interpretiert. “Ab dem Moment waren die nicht mehr lustig drauf”, sagt Bartl. Er wurde, wie er berichtet, vorläufig festgenommen, wenn auch nur für wenige Stunden, während der Hackerspace durchsucht wurde. Die verantwortliche Generalstaatsanwaltschaft München wollte diesen Vorgang auf Anfrage weder bestätigen noch dementieren.

Die Polizisten im Hackerspace befürchteten offenbar, in den Räumen werde ein Sprengstoffattentat vorbereitet. Bei ihrer Durchsuchung haben sie unter anderem ein Nerd-Spielzeug beschlagnahmt. “Mutmaßlich Modell einer Atombombe”, steht auf dem Etikett des sichergestellten Fundstücks, dessen Foto zuerst von Spiegel Online veröffentlicht wurde. “Delikt: Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion”.

3D-gedrucktes Spielzeug-Modell einer Bombe
“Mutmaßliches Modell einer Atombombe” steht auf dem Etikett zur Beschreibung dieses roten Spielzeugs aus dem 3D-Drucker | Bild: Moritz Bartl

Das verdächtige Stück Plastik aus dem 3D-Drucker hat Größe und Form eines Buttplugs. In einem öffentlichen YouTube-Video aus dem Jahr 2014 sieht man die Hacker lachend damit spielen. Sie legen das rote Spielzeug in eine selbstgebaute Mini-Kanone, die aus einer Rampe, einem Mini-Motor und einem Rad aus dem Lego-Baukasten besteht. Frisch abgefeuert fliegt es mit der Schlagkraft eines Tischtennisballs durch die Luft. Selbst bei einer Kissenschlacht wäre das Geschoss wohl nutzlos. Ein Sprengstoffanschlag lässt sich damit gewiss nicht bestreiten.

Warum die Polizei so massiv vorgegangen ist

Die Zwiebelfreunde sind nur zu Gast im OpenLab, dem Augsburger Hackerspace. Bartl und seine Vereinskollegen betreiben unter anderem Datenknoten für das Tor-Netzwerk, mit dem Nutzer anonym im Netz und im Darknet surfen können. “Hunderttausende Menschen aus Ländern wie China, Iran, Russland, Syrien nutzen Tor, um freien Zugang zum Internet und nicht staatlich kontrollierten Medien zu bekommen”, heißt es auf der Website des Vereins. “Whistleblower, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten benötigen vielerorts zusätzlichen Schutz.”

Ins Visier der Ermittler gerieten die Zwiebelfreunde offenbar über einen Umweg: Der Verein sammelt nämlich auch Spenden für das Kollektiv Riseup, das unter anderem anonymen E-Mail-Verkehr anbietet. Eine Adresse dieses E-Mail-Services haben offenbar die anonymen Autoren eines Blogs namens “Augsburg für Krawalltouristen” auf ihrer Website angegeben. Und diese Autoren wiederum werden von der Polizei gesucht, weil sie möglicherweise zu gewalttätigen Protesten gegen den vergangenen AfD-Bundesparteitag aufgerufen haben sollen.

Die Generalstaatsanwaltschaft München hat diese Informationen aus einem Bericht von Spiegel Online gegenüber Motherboard bestätigt. Bartl und die Zwiebelfreunde seien demnach nur Zeugen, keine Verdächtigten. Nachdem die Polizisten den Hackerspace durchsucht hatte, war es Bartl zufolge auch mit der vorläufigen Festnahme wieder vorbei.

“Das OpenLab war voller Fingerabdruckpulver”

Es ist unklar, wie genau die Ermittler durch die Zwiebelfreunde an die gesuchten Blogbetreiber herankommen wollen. Eine nähere Begründung für die breit angelegten Hausdurchsuchungen steht noch aus. Gegenüber Motherboard wollten sich die Generalstaatsanwaltschaft und das Polizeipräsidium Schwaben-Nord, das die Durchsuchungen durchführte, nicht offiziell erklären.

Wie die Generalstaatsanwaltschaft München gegenüber heise online bestätigte, bestehe “über das Sammeln der Geldspenden hinaus” keine Verbindung zwischen Riseup und dem Verein Zwiebelfreunde. Der Chaos Computer Club, mit dem die Zwiebelfreunde eng zusammenarbeiten, hat das Vorgehen der Polizei als “absolut unverhältnismäßig” bezeichnet.

Parallele Hausdurchsuchungen bei den Netzaktivisten

Insgesamt hat die Polizei am Morgen des 20. Juni mehrere Hausdurchsuchungen parallel gestartet. Durchsucht wurden die Privatwohnungen von vier Vereinsmitgliedern der Zwiebelfreunde sowie die Büros des Vereins in Dresden. Neben dem roten Plastikspielzeug haben die Ermittler auch Handys, Tablets und Festplatten mitgenommen, auch aus Bartls Wohnung.

“Ich musste mir ein Prepaid-Handy kaufen. Mein anderes Handy hat die Polizei”, sagt Bartl. Auch digitale Urlaubsfotos mit ihm und seiner Frau befänden sich jetzt in den Händen der Ermittler. “Ich habe den Polizisten gesagt, ein paar Geräte gehören meiner Frau”, sagt Bartl. Die Polizisten hätten sie trotzdem mitgenommen und sich notiert, dass sie ‘mutmaßlich’ Bartls Frau gehörten. “Sie haben auch alle Schubladen und Schränke durchsucht, alle Gegenstände in die Hand genommen. Und das OpenLab war voller Fingerabdruckpulver, da durfte ich erstmal sauber machen.”


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Nach dem Besuch der Polizei fühlten sich die Hacker im OpenLab nicht sicher. “Wir hatten Angst, dass sie uns verwanzt haben”, sagt Bartl. Wenn es um angeblichen Sprengstoff gehe, mache die Polizei eben ernst. Der Handyempfang im direkten Umkreis des OpenLabs sei einige Zeit spürbar schlechter gewesen. “Ich gehe davon aus, dass auch unser Gespräch jetzt abgehört wird”, so Bartl im Telefonat mit Motherboard. Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft sagte hierzu auf Anfrage von Motherboard: “TKÜ-Maßnahmen wurden nicht angeordnet, soweit ich weiß.” Das Kürzel steht für Telekommunikationsüberwachung, kurzum: das Abhören von Smartphones. Grundsätzlich kommentiere man aber keine Ermittlungsmaßnahmen.

“Gefährde ich Aktivisten, wenn ich mit ihnen spreche?”

Längst ist der Hacker im Kontakt mit Anwälten, um eigene, rechtliche Schritte einzuleiten. Er habe etwa die Herausgabe der beschlagnahmten Gegenstände beantragt. Außerdem prüfe Bartl, ob er Schadensersatz verlangen kann: “Ich kann seit zwei Wochen nicht für meine Firma arbeiten, alle Unterlagen sind weg”.

Seine Arbeit als Netzaktivist sieht Bartl massiv beschädigt. Üblicherweise stehe er auch mit Aktivisten aus Ländern in Kontakt, die von ihren Regierungen verfolgt werden. “Ich muss mich immer fragen: Gefährde ich Aktivisten, wenn ich mit ihnen spreche?”, sagt Bartl. Nun wurden seine Festplatten beschlagnahmt und untersucht, das könne einige Kontakte abschrecken. “Ich gehe davon aus, dass viele deshalb erstmal Abstand halten.”

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