Zu Besuch in Europas größtem Leichenhaus

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Zu Besuch in Europas größtem Leichenhaus

Wir haben mit dem Hauptpathologen des Erzsébet-Krankenhauses in Budapest über eingefrorene Leichen, verbotene Praktiken und angeklebte Kunstnägel gesprochen.

"Man muss im Allgemeinen sehr lange warten, um hier anzukommen", sagt Ferenc Major. Mir ist zuerst unklar, ob er von den Pathologen oder den Leichen spricht. Die Antwort wird klarer, als der Hauptpathologe des Erzsébet-Krankenhauses in Budapest sagt, er glaube nicht, dass man diesen Job aus Büchern lernen könne. "Ich habe sechs Jahre lang als Kriminalpathologe gearbeitet. Da trifft man auf alles: Mord, ärztliche Kunstfehler, Unfälle, alles. Deswegen ist es auch ein Muss, die Anatomie, die Chirurgie und sogar die Geburtsmethode zu kennen. Der Pathologe ist der Gehilfe des Arztes. Umso wichtiger ist hier Genauigkeit. Da können Fehler passieren, die niemand rückgängig machen kann und es ist ziemlich einfach für ihn, zu falschen Ergebnissen zu kommen."

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Majors Karriere hat vor 40 Jahren begonnen, er hat als Kriminalpathologe und Bestatter gearbeitet. Bei seinem derzeitigen Job ist er verantwortlich für die Toten von vier Krankenhäusern in der Stadt. Er ist der Experte, der sich neben Obduktion auch mit Grabservice beschäftigt. Seine Aufgabe ist die Rehabilitation des Körpers—er beseitigt "die Zerstörungen", kämmt den Leichen eine einwandfreie Frisur, zieht die Toten für die Beerdigungen mit offenem Sarg an, oder nimmt Proben für die Totenmasken. Er nimmt auch Balsamierungen vor, wenn es dafür Bedarf gibt.

Nach der Formel, mit der hier gerechnet wird, ist die Anzahl der Betten eines Krankenhauses genau so groß wie der Anzahl der Toten, die es innerhalb eines Jahres hervorbringt. In Ungarn muss jedes Institut mit einer Kapazität von mehr als 800 Plätzen eine eigene Pathologie betreiben.

"Die Gründe, warum Leute hier unten ankommen, sind sehr unterschiedlich", erklärt Ferenc Major. "Es kann eine Pandemie sein oder es kann auch mal vorkommen, dass in kurzer Zeit viele am Ende ihres Lebens ankommen. Nicht zu vergessen, dass die Jungen aus der Traumatologie auch zu uns kommen." Jedes Jahr bekommt die Pathologie ungefähr 2000 Leichen; seziert werden laut Ferenc Major 50 bis 60 Prozent davon. "Ich habe wahrscheinlich schon mindestens dreimal mehr seziert als andere Ärzte während ihrer Karriere", schätzt er.

Die Familie könnte die Sezierung ablehnen, wenn die Todesursache schon bekannt ist. Bei Infarkten und Hirnblutungen ist die Lage oft sehr eindeutig; schwieriger wird es bei plötzlichen Todesfällen oder nicht diagnostizierten Krankheiten. Hier kann der Pathologe eine Autopsie anordnen. Bei einem Unfall, Mord oder außergewöhnlichen Todesfällen kann auch die Polizei die Verbrennung verbieten oder die spätere Exhumierung eines Körpers anordnen.

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Major fängt die Schicht früh an. An der Tür seines Büros im Kellergeschoss klopfen abwechselnd die Mitarbeiter der Leichenbeförderung und Angehörige.

"Ich sage das jeder Familie, dass jede Leiche schließlich ein Werkstück ist. Es gibt hier keinen Platz für die starken Gefühle. Wir sind hier, um die Todesursache zu finden und die Toten herzurichten. Dann gehen wir weiter, immer weiter. Es gibt keinen Chirurg, keinen Zahnarzt, der darüber nachdenkt, wie seine Patienten sich während der Operation fühlen. Ein Arzt sollte auch nicht auf die Schreie achten, er muss schließlich den Patienten heilen—nicht mehr, nicht weniger. Leute fragen mich immer, wie ich mich bei der Obduktion von Kindern verhalte. Es ist dasselbe. Für alles andere steht dort drüben die Kirche", sagt Major.

Er selbst ist aber Pragmatiker und hält eher weniger von spirituellen Ansätzen: "Die Religion ist eine interessante Sache. Obwohl mich bis jetzt keine Kirche wirklich überzeugen konnte, stelle ich mir immer noch oft die große Frage nach dem Warum. Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß: Auf dem Seziertisch sind alle gleich. Das ist genau wie bei einem jüdischen Begräbnis, wo kein Unterschied zwischen arm und reich gemacht wird: ungehobelte Särge, Leinenkleid, so wird jeder Mensch vor dem Herrn gleich sein. Wir alle sind im Tod gleich."

Im Kühlraum des Leichenhauses liegen die Körper bei 2 bis 4 Grad in Regalen. Major fährt die Leichen, die für heute vorgemerkt sind, in den Sezierraum. Die Totenstarre dauert 72 Stunden. Auch, wenn extreme Überfüllung sehr selten sei, komme es laut Major schon mal vor, dass ein Krankenhaus mehr Leichen lagern muss, als offiziell erlaubt sind.

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"Wir haben einen extra Kühlraum mit Regalen, falls wir in kurzer Zeit zu viele Tote bekommen würden. Das sieht aus und funktioniert auch genau wie bei einem Fleischer. Da liegen die Körper nebeneinander in Säcken." In weniger seriösen Instituten könne es auch mal etwas gröber zugehen, erzählt Major weiter.

Wenn dort das Gewicht auf die Körper in der untersten Reihe drücke, würden die unten liegenden einfach abgeflacht. "Wir bringen die frischen Toten immer in den Kühlraum, aber wir frieren sie nie ein, weil es unmöglich ist, mit einer gefrorenen Leiche zu arbeiten. Das Gefühl des menschlichen Gewebes ist dann ganz anders. Auf dem Land habe mich daran gewöhnt, dass die Leuten da im Allgemeinen versuchen, die Toten einzufrieren. Dann würde die Säge auf dem gefrorenen Körper immer minutenlang herumhüpfen."

Die Pathologie des Erzsébet-Krankenhauses kennt die finanziellen Schwierigkeiten des ungarischen Gesundheitswesens sehr gut. Das Budget des Leichenhauses für Hygieneartikel liegt laut Major bei weniger als 40 Euro pro Monat. Major bessert dieses Manko aus eigener Tasche auf, um die fehlenden Putzmittel und Arztmäntel einzukaufen. Seine Arbeitskollegen übernehmen auch die nötige Putzarbeit im Sezierraum. Der Pathologe sorgt für Nachschub an Second-Hand-Klamotten wie Hemden oder Strampelhöschen, die beim Zusammennähen eines Körpers als Füllstoff verwendet werden.

Major beschäftigt sich mit Toten aus den unterschiedlichsten Kulturen und mit den verschiedensten Religionen. Pietät ist dabei immer ein Thema; wenn erwünscht, mumifiziert oder balsamiert er seine Patienten auch.

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"Wenn der Verstorbene ins Ausland transportiert werden muss, ist es nötig, den Körper zu konservieren. Dann seziert man nicht, sondern füllt den Körper durch die Kapillare mit Chemikalien. Damit kann man der Zersetzung entgegenwirken. Der Verstorbene kann seine Form sogar über Jahre behalten", sagt Major und betont, das Geheimnis der schönsten Werke sei deren Unsichtbarkeit.

"Man muss die Körper so rehabilitieren, dass die Angehörigen nichts von unserer Arbeit bemerken—unabhängig davon, ob wir den Kopf oder die Brust geöffnet haben." Bei der Kopföffnung wird die Haut hinter den Ohren zusammengenäht, sodass man die Spuren der Autopsie nicht sehen kann, wenn der Kopf auf dem Kissen im geöffneten Sarg liegt. Wenn es Haare gibt, sei das ein Kinderspiel, erklärt Major—aber es darf auch kein Problem sein, wenn der Patient kahl ist. Der Mund werde im Allgemeinem mit Füllstoffen oder Prothesen zusammengehalten. "In schwierigeren Situationen nähe ich auch die Lippen mit chirurgischem Zwirn zusammen. Das klingt vielleicht hart, aber ist immer noch besser als auf der Totenbahre von einer Fliege überrascht zu werden, die aus der Mund rausschleicht." Schon kleinste, banale Fehler bergen das Risiko, einen Schock für die Familie auszulösen. "Das wird immerhin ihr letztes Erinnerungsbild des Verstorbenen sein", sagt Major.

Major hatte 15 Jahre lang seine eigene Bestattungsfirma und beschäftigt sich nach wie vor mit der Inszenierung der Toten. Er rehabilitiert, bekleidet die Körper und erledigt die nötigen kosmetischen Aufgaben. Im Sezierraum findet man Make-up, Lippenstift, Lockenwickler und andere Schönheitsprodukte. Die Krawatte muss elegant, die Friseur perfekt, die Schminke geschmackvoll sein.

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"Bei der Schminke der Damen darf man nur die besten Marken verwenden, weil die Verstorbenen außerhalb des Kühlraums zu schwitzen beginnen und weniger hochwertige Kosmetika abfließen." Auch ein letztes Mal Haare färben gehört zum Job. "Bring mir die Farbe, die du möchtest, und ich mach das", sagt Major. "Bei jungen Frauen kann es vorkommen, dass man Kunstnägel ankleben muss." Das bedeute auch, dass man als Pathologe die Arbeit eines Friseurs, eines Nagelstudios oder eines Visagisten verstehen müsse, so Major weiter. "Ja, das muss man alles lernen. Und das ist mir auch nicht peinlich. Schlimm wäre, wenn ich sagen würde: Ich kann das nicht machen."

In unserer Gesellschaft ist der Tod immer noch eines der größten Tabus. Die Ursache dafür sieht Major im modernen Krankenhaussystem. "Früher starb jeder Mann zu Hause, im Kreise seiner Familie. Ich erinnere mich an meinem Vater: Bevor er gestorben ist, hat er mir gesagt: 'Sohn, ich fühle mich schrecklich, gehen wir nach Hause.' Dann konnten die Ärzte noch so toben, ich brachte ihn trotzdem nach Hause. Wir alle haben das Recht auf einen würdevollen Tod. Heutzutage ist es aber normal, die Sterbenden von den Lebenden zu trennen. Das führt zu tragischen Situationen—hauptsächlich, wenn jemand noch nie in einem Krankenhaus gewesen ist. Was kann jemand tun, wenn er realisiert, dass er sein Krankenhausbett wahrscheinlich nicht mehr lebendig verlassen wird? Ein Krankenhaus ist immer erschreckend; so wird man sich erst recht vor dem Ende fürchten. Auf dem Land fährt man nicht sofort ins Krankenhaus, außer wenn jemand akut verletzt ist. Lass ihn zu Hause sterben. Er beißt nicht, er schlägt nicht, er stört niemanden, aber er verbringt seine letzten Minuten mit seiner Familie."

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Mit der zunehmenden Entpersonalisierung des Sterbeprozesses im Krankenhaus ist der Pathologe oft der einzige Mensch, mit dem eine Familie in dieser Phase in Kontakt kommt. Deshalb kann die Beziehung zwischen Pathologen und Familien manchmal sehr stark sein. Major füllt die Sterbeurkunde aus, kontaktiert die Familie, spricht über die Verbrennung der Körper und gibt Ratschläge für die Angehörigen.

"Jedes Jahr kommen ungefähr 1000 bis 1200 Familien zu mir. Ich sage meinen Kollegen immer, dass es nichts kostet, einfach nett zu sein. Die Angehörigen haben schon genügend Schwierigkeiten. Das wichtigste ist die Ruhe. Viele vergessen, dass wir nach dem Tod von jemandem Zeit brauchen, um alles zu überdenken. Man sollte sich damit nicht beeilen. Es lohnt sich nicht. Wenn die Familien mein Büro verlassen, fühlen sie sich vielleicht ein bisschen besser, ein bisschen erleichterter."

Major ist verheiratet, sein Sohn ist 13 Jahre alt. Sein Interesse am Beruf seines Vaters war schnell klar. "Als er war noch jünger war, hat er mir schon zu Hause mit Häutungen geholfen. Jetzt lernen wir Anatomie auf Deutsch und auf Latein. Bald kann er beim Seziertisch üben. Er war erst fünf Jahre alt, als er zu mir kam und sagte: 'Vati, wenn du sterben wirst, lege ich dich in das obere Regal im Kühlschrank und werde dich jeden Tag begrüßen.' Das ist doch herzig, oder?"