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Angst essen BAföG auf

In den neuen Studiengängen regiert die Angst. Ein Dozent schaut eher befremdet auf den grassierenden Optimierungswahn.

Wenn das Semester startet, denke ich manchmal an meine eigene Studienzeit zurück, die noch nicht sehr lange her ist. Jedenfalls nicht so lange, dass ich mich, wie neulich geschehen, fragen lassen müsste, ob die Studenten zu meiner Zeit politisch aktiver waren als heute. Im Mai 1968, ich glaube, darum ging es, war ich noch genau zwölf Jahre nicht auf der Welt (und mein Vater, so ich ihn richtig verstanden habe, beim Bund).

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Wenn ich also an meine Studentenzeit denke, dann an das laufende Jahrtausend: an verkaterte Anmeldeversuche via WG-Modem im Morgengrauen, überfüllte Seminarräume, die sich nach circa zwei Wochen als komfortabel groß erweisen. Ich denke an merkwürdige Dozenten in noch merkwürdigeren Klamotten und getippte Handouts. Die herzförmige Brosche einer Professorin, die die schräg auf dem Hörsaalfenster stehende Sonne reflektierte und genau in meine Augen lenkte, bis ich geblendet von Wissen und „mehr Licht!" (Goethe) das Weite suchte. Man durfte im Treppenhaus des Instituts rauchen, trank dünnen Automatenkaffee, beides ohne dass sich jemand beschwert hätte. Sofern man nicht leugnete, dass Goethe den Faust geschrieben hat, bekam man meistens einen Schein, den man in eine kleine Mappe heftete, ins Regal schob und vergaß.

Ich war als Student weder besonders engagiert noch besonders faul. Meine Mitbewohner waren weder besonders solide noch über die Maßen wahnsinnig. Man ging zur Uni, hörte, was einen interessierte, verließ die Vorlesung, um rechtzeitig den Bus zu kriegen. Ich kaufte mir mal ein Buch, um die Fragen einer Takehome-Klausur zu verstehen (lief letztendlich trotzdem nicht so gut). Eine Zeit lang habe ich nebenher bei einem lokalen Anzeigenblatt gearbeitet und Artikel über Herbstfeste in Freilichtmuseen geschrieben. Mein erster (und einziger) Leitartikel beschäftigte sich mit der Neuordnung des Rabattsystems im Winterschlussverkauf. Na ja. Abends saßen wir auf dem Balkon und tranken, was vom Tage übrig war. Und bis auf eine anhaltende Abneigung gegenüber Grappa hat das Studium der Literaturwissenschaft bei mir keine bleibenden Schäden hinterlassen. Eher im Gegenteil: Ich wurde promoviert und unterrichte selbst seit ungefähr acht Jahren gerne und mit wechselndem Erfolg an meiner Alma mater.

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VICE: Manche Dozenten sehen das ganz anders

Wenn ich an meine eigene Studienzeit zurückdenke, die, wie gesagt, noch nicht sehr lange her ist, und meine dümmlich lächelnde Visage erinnere, mit der ich durch die Flure geschlurft bin, zum nächsten SDS-Meeting oder dem Gesprächskreis „Adorno heute", dann war das eine ziemlich entspannte Sache. Der in den aktuellen Jahrgängen dominierende Gesichtsausdruck ist meinem Eindruck nach: Angst.

Angst auf den Fluren, zunehmend mit Nähe zum Sekretariat. Nervöse Mails zwei Minuten nach Freischaltung der Anmeldungen, ob denn vielleicht, unter Umständen, möglicherweise noch ein Platz im Seminar zu vergeben sei. Studierende mit hektischen roten Flecken im Gesicht, die sich nach aberwitzigen Details der Prüfungsordnung erkundigen. Mittlere Nervenzusammenbrüche, wenn eine Note auch nur leicht verspätet eingetragen wird. Anrufe aus Krankenhäusern, bei denen Invalide um minimalen Aufschub betteln. Laptops und Terminkalender allenthalben, Geschäftsgebahren. Unverblümte Hinweise, dass die Verweigerung eines Scheins zum unmittelbaren Bankrott führt. Bücher, deren Seiten komplett (ich meine wirklich: vollständig) mit Textmarker eingefärbt sind. Erbitterter Protest, wenn Texte anzuschaffen sind, die mehr als zwei Euro kosten. Überhaupt die Ansicht, dass das, was nicht im Internet steht, nicht existiert. Köpfe, die zwischen Schultern verschwinden. Angst, überall nackte Angst.

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Zuerichs Strassen | Flickr | CC BY 2.0

Ich habe lange überlegt, warum die Studierenden sich an ihre Leistungsnachweise klammern wie ein bekannter (Ex-)Hobbit an ein gewisses Schmuckstück. Warum die Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen, häufiger genutzt wird, als es gesund wäre. Meine vorläufige Antwort lautet, zugegeben wenig originell: Bologna. Seit der Umstellung der Magister-, Diplom- und Lehramtsstudiengänge auf Bachelor und Master scheint ein Ungleichgewicht in Mittelerde zu herrschen, wobei es gerade die finanziellen Mittel sind, die zur Disposition stehen. Denn die Versuche, die deutschen Universitäten für den internationalen Wettbewerb fit zu machen, wurden relativ ungeniert nach unten durchgereicht, und das heißt zu den Studierenden. Und nun optimiert jeder, so gut es eben geht, an sich herum.

Dabei vermute ich, dass es strukturelle Defizite sind, die die Probleme verursachen. Um ein Beispiel zu nennen: Das Zauberwort der neuen Zeit lautet Workload. Dieser orientiert sich an den zur Verfügung stehenden Arbeitsstunden und berechnet einerseits den zeitlichen Aufwand, der für eine Leistung notwendig ist, und andererseits die Leistungspunkte, die man für eine solche bekommt. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier ein schlichter Rechenfehler vorliegt. Denn es ist nach dieser Vorgabe weder gestattet, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zum Beispiel bei einem lokalen Anzeigenblatt, noch eigene Forschungsinteressen zu verfolgen. Es geht so weit, dass die Studierenden schlechte Laune kriegen, wenn ich ein Buch lesen lasse, das wir dann aus welchen Gründen auch immer nicht im Seminar besprechen. Man muss sich das vorstellen: Ein angehender Literaturwissenschaftler beschwert sich darüber, ein Buch gelesen zu haben.

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Nebenbei bemerkt: Ich bin nicht geneigt, in den Kanon der Kulturpessimisten einzustimmen, die einen Verlust der Allgemeinbildung (whatever) konstatieren. Sondern ich gehe davon aus, dass die Studierenden eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen. Ein Buch zu lesen, kostet Zeit und bringt erstmal nichts. Außer natürlich Wissen, Erfahrung, neue Einsichten, Spaß und so weiter, die von der Prüfungsordnung aber nicht oder nur in den seltensten Fällen honoriert werden. Wenn also die Ressourcen für ein interessengeleitetes Selbststudium fehlen, kann man den Studierenden nicht vorwerfen, dass sie darauf verzichten.

Aber es geht weiter. Das Lehramtsstudiums sieht im Bachelorstudium unter anderem ein dreiwöchiges Schulpraktikum vor, das in den circa zwei Monate dauernden Wintersemesterferien abgeleistet werden kann. In der selben Zeit sollen nun drei bis vier Hausarbeiten geschrieben werden, die mit vier bis acht Leistungspunkten bewertet sind. Jeder Leistungspunkt repräsentiert dabei ungefähr dreißig Arbeitsstunden. Inklusive der Seminarsitzungen sowie der Vor- und Nachbereitung stehen also, geht man von einem mittleren, mit sechs Leistungspunkten bewerteten Schein aus, hundertachtzig Stunden zur Verfügung. Ein Seminar hat durchschnittlich vierzehn Sitzungen, macht achtundzwanzig Stunden plus, großzügig gerechnet, dreißig Stunden Heimarbeit. Bleiben, über den Daumen gepeilt, hundertzwanzig Stunden für die Anfertigung der Hausarbeit. Das heißt bei einer (der Workload-Berechnung zugrunde liegenden) Vierzig-Stunden-Woche: drei Wochen. Bei vier Hausarbeiten und dem Praktikum müssten die Semesterferien daher rein rechnerisch fünfzehn Wochen dauern und nicht acht. Problem, Problem.

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Genauso unsinnig wie es ist, die Studierenden pauschal als faul und dumm zu bezeichnen (was im Einzelfall manchmal schwer zu widerlegen ist), scheint es mir geboten, auf Nachbesserungen der Kultuspolitik zu warten. Die Probleme pressieren, eben weil die Regelstudienzeit im BA/MA-System eine viel größere Bedeutung hat als noch zu meiner Zeit (nicht lange her, wie gesagt). Also versuchen die Dozenten, das Studium stärker zu strukturieren und vor allem die Zeiten des sorg- und planlosen Nachdenkens, Recherchierens, Konzipierens zu verringern. Ich habe zu diesem Zweck einige Checklisten entworfen, mit deren Hilfe die Studierenden sich literarischen Texten systematisch nähern können. Die Analyse hängt so nicht von der Inspiriertheit des Interpreten ab, sondern kann ganz schnöde abgearbeitet werden. Erstens, zweitens, drittens.

Paper Cat | Flickr | CC BY 2.0

Die Nachteile eines solchen Vorgehens liegen indes auf der Hand: Einerseits verschult man das universitäre Studium sehr stark, was eigentlich nicht im Sinne des Erfinders (Goethe?) ist. Andererseits erhöhen derartige Schemata den Druck. Und das obwohl sie eigentlich Druck minimieren sollen. Meine gebetsmühlenartig vorgetragenen Hinweise, es handle sich um eine idealtypische Vorlage, von der begründet abgewichen werden kann und soll, verhallt meistens ungehört. Stattdessen wächst die Angst, es dem Dozenten nicht recht zu machen und eine schlechte Note zu kassieren. Das an vielen Schulen gängige Fantasieren am Text kollidiert mit dem Wunsch nach guten Bewertungen, die nur durch seriöse Arbeit zu erreichen sind, für die aber einfach die Zeit fehlt. Der Dozent steht dazwischen und jongliert mit Nachsicht, Aufsicht, Vorsicht.

Wenn es nur um meinen Ruf als „harter Hund" oder „Law-and-order-Typ" ginge, wäre es mir egal. Es gibt Schlimmeres. Aber das ist nicht der Punkt. Denn die Alternative bedeutete, wie gesagt, die Studierenden an den Texten herumdilettieren zu lassen und ihnen trotzdem gute Noten zu geben, weil, siehe oben, Workload und so weiter. Ich kann nur über meine Disziplin sprechen, vielleicht ist es in anderen Fächern anders, aber: Ich habe Literaturwissenschaft studiert, weil mir Texte etwas bedeuten. Weil ich denke, dass die Literatur ein spezifisches Weltwissen bereitstellt und jede wissenschaftliche Beschäftigung die Aufgabe hat, dass wir die Literatur besser verstehen. Dass wir die Welt besser verstehen, weil wir auf das Wissen anderer Menschen, aus anderen Zeiten und Räumen zurückgreifen können. Und genau deshalb fällt es mir schwer, unter ein gewisses Niveau zu gehen und oberflächliche Textbeobachtungen als vollgültige Analysen zu werten.

THUMP: Falls du dich mal wieder auf der anderen Seite der Theke wiederfinden solltest

Die Katze beißt sich hier übrigens in den Schwanz: Wenn die Möglichkeiten einer eingehenden Beschäftigung sinken, sinkt notwenig auch das Komplexitätsniveau und mit ihm die Relevanz des Faches. Ist dieser Status erstmal erreicht, kürzt die Politik ihre exzellenzbasierten Zuwendungen, wodurch sich die geschilderte Situation verschärft. Ich dramatisiere ein bisschen, aber es geht ja um Strukturen, nicht um Sonderfälle. Niemand möchte die alte Ordinarien-Universität zurückhaben, in der die Professoren nach Willkür und Gewissen schalteten. Aber die Eventualität von der Autorität einer verdienten Forscherin oder eines Forschers, in die Geheimnisse des Faches eingeführt zu werden, setzt eine andere Grundhaltung voraus als Angst. Die Durchdringung eines Faches braucht Zeit, Muße, Ruhe und lässt sich nur sehr bedingt komprimieren.

Ich schließe mit einem eigentlich überflüssigen Plädoyer für die offene Universität und ein entkrampftes Curriculum. Ferner schweige ich von der Situation der Heerscharen befristet angestellter Lehrkräfte. Es bleibt zur Zeit nichts als der Versuch, sich die eigene Begeisterung für den Gegenstand zu bewahren und in allen Fällen bürokratischen Irrsinns eine gesunde Resilienz an den Tag zu legen. Man kann nicht alles wegoptimieren. Und wenn es einen Bereich geben sollte, der von der (auch gesellschaftlich ja nicht sooo super laufenden) Ökonomisierung aller Lebensbereiche ausgenommen ist, dann die Universität. Der Elfenbeinturm, in dem wir einem beliebten Vorurteil zufolge noch immer sitzen, ist schon seit langer Zeit aus Plastik. Und wird einer Gummizelle immer ähnlicher. Was wir brauchen, ist ein Baumhaus. Im Freilichtmuseum. Und eine Neuordnung des Rabattsystems.