Diese Dokumentation über die Ravekultur im Nordirland der 90er Jahre ist großartig und deprimierend zugleich

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Diese Dokumentation über die Ravekultur im Nordirland der 90er Jahre ist großartig und deprimierend zugleich

"Rave war die letzte Subkultur vor der Flut sozialer Netzwerke."—Regisseur Desmond Bell im Interview zu Rave in Nordirland.

Sich alte Aufnahmen von zugedröhnten und verschwitzten Clubbern anzusehen, ist extrem unterhaltsam—und YouTube ist randvoll mit solchen Videos. Ob du dir kleine Partys in einer abgelegenen Hütte oder einen dieser Megaraves anschaust, die Ravekultur der 90er Jahre ist aus heutiger Sicht ein geradezu romantisches Bild. Eine flüchtige, revolutionäre Bewegung, die sich für immer in die Popkultur eingebrannt hat.

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Während einer meiner letzten YouTube-Sessions stieß ich auf Dancing on Narrow Ground: Youth & Dance in Ulster—eine Dokumentation über die 90er in Nordirland, in der ein Aspekt der Ravekultur besonders beleuchtet wird, der zwar immer angesprochen, aber selten zu Ende gedacht wurde: Hat Rave wirklich alle zusammengebracht? Oder handelt es sich dabei—mal wieder—um ein romantisches Traumgebilde, das der soziopolitschen Realität des echten Lebens keine Sekunde standhält? Obwohl der Film von dem britischen Privatsender Channel 4 in Auftrag gegeben wurde, lief er nie im britischen Fernsehen. Die Dokumentation zeigt die Beziehungen zwischen Protestanten und Katholiken in einer Zeit noch vor dem Karfreitagsabkommen; sie zeigt, wie Rave eine kurze Flucht aus einer Realität voller Gewalt und Sektiererei ermöglichte. Über weite Strecken präsentiert der Film ein zugleich schönes und schmerzliches, um dann gegen Ende ein zunehmend hoffnungsloses Bild zu zeichnen.

Ich habe mich mit dem Regisseur Desmond Bell über das Projekt unterhalten, und was die idealistische Utopie von Rave für eine Generation bedeutete, die sich vor allem darüber definierte, auf welcher Seite des religiös-politischen Lagers sie steht.

Noisey: Was hat dich dazu gebracht, einen Film über die Ravekultur der 90er Jahre in Ulster zu machen?
Desmond Bell: Als Soziologe hatte ich schon einige Jahre über die verschiedenen Jugendkulturen in Nordirland geforscht und war vor allem an der Frage interessiert, inwiefern Subkulturen wie Punk oder Rave an den Mustern sektiererischer Unterteilung, wie sie in Nordirland herrschen, rütteln können. Ich hatte davor schon diesen Film für Channel 4 gemacht, in dem es um loyalistische Jugendliche in Derry und ihre Welt aus Marschkapellen und Straßenparaden ging. Das war eine Kultur, die das Sektierertum eindeutig reproduzierte und das auch heute noch tut.

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Konnten also die "urbaneren" Formen von Jugendkultur—wie Rave—diese von der Frage nach der Konfessionszugehörigkeit vergiftete Welt erschüttern und den jungen Menschen etwas Neues bieten? Das Konzept war beeinflusst von Shell Shock Rock, John T Davies Dokumentation über Punk in Nordirland. Punk als Ausweg für junge Leute aus dem politischen Konflikt in Nordirland ist auch das Thema des relativ neuen Kinofilms Good Vibrations; einem nostalgischen und nicht ganz fehlerfreien Blick auf Punk in Nordirland.

Wie hat sich deine Rolle während des Drehs entwickelt?
Bei jedem Dokumentarfilm befindest du dich auf einer emotionalen Achterbahn. Während sich die Beziehungen zu den jungen Ravern entwickelten, wich ich immer weiter davon ab, meine soziologische Fragestellung zu verfolgen. Stattdessen begann ich, mich mit einigen wirklich besonderen Menschen auseinanderzusetzen. Der Dreh fand unter sehr schwierigen Bedingungen statt. Zu der Zeit war es auf den Straßen Nordirlands noch ziemlich gefährlich. Bei uns entwickelte sich eine Art von Fürsorgepflicht. Wir waren aber keine Sozialarbeiter und wir hatten durchaus Angst um ein paar von den Jugendlichen, mit denen wir filmten. Man musste aber gleichzeitig einen professionellen Abstand wahren. Am Ende machst du halt einen Film, der vor allem für Fernsehzuschauer gedacht ist, und du musst auch ein entsprechendes Produkt abliefern. Letztendlich wurde die Dokumentation nie ausgestrahlt, da sie einfach zu vielen Parteien auf die Füße trat.

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Stammst du aus einem der Orte, die im Film zu sehen sind? Was würdest du rückblickend sagen, wie der Film die Zeit, den Ort und die Dynamik des Ganzen darstellt?
Ich selber komme aus Derry, aber Amanda McKitterick, die die meiste Recherche für das Projekt betrieben hatte, stammt aus dem gleichen Teil von Belfast, aus dem auch diese Gruppe protestantischer Jugendliche herkommt. Die kamen wirklich super miteinander aus. Auf der anderen Seite hatten wir auch jemanden, der im westlichen Teil der Stadt mit Kindern aus katholischen Familien arbeitete. Er stammte aber nicht selber aus dieser Gegend und hatte es dementsprechend schwer, ein gutes Verhältnis zu den Jugendlichen aufzubauen. Filme wie dieser basieren auf einem tiefen Vertrauen zwischen dem Filmemacher und den Protagonisten, indem auch beide Parteien anerkennen, dass sie aus unterschiedlichen Richtungen kommen. Der Filmemacher befindet sich eigentlich immer in einer privilegierteren Position als die meist aus der Arbeiterklasse stammenden Protagonisten—das ist auch eins der Themen, dem wir im Film auf eine schmerzhafte Art und Weise nachgegangen sind.

Die Ravekultur wird in Rückblicken gerne durch eine rosarote Brille als eine der letzten echten Subkulturen und/oder revolutionären Bewegungen der jüngeren britischen Geschichte gesehen. Warum ist das so?

Naja, was haben wir denn heutzutage? Nicht gerade viel, was nicht mit den Banalitäten von Social Media zu tun hat und dem ganzen Narzissmus, der da mit reinspielt. Rave war wahrscheinlich die letzte Subkultur bevor die Flut sozialer Netzwerke mit ihrem Fokus auf Individualität und Startum alles an Jugendkultur erstickte, was noch auf Face-to-Face Interaktion, Gruppendynamik oder Teilnahme auf der Straße aufbaute; Dinge, bei denen junge Leute ihre Identität erforschen konnten, aber trotzdem an ihre Orte, ihre Klassen und ihre generationstypischen Musik, Klamottenstil und soziale Aktivitäten gebunden waren. Und natürlich sind wir jetzt nostalgisch, weil wir diese jugendliche Energie verloren haben. Wir beklagen das Verschwinden der kritischen Stimmen, die es damals gab. Wir fragen uns, warum sich die jungen Leute mit der ganzen Scheiße, mit der wir heute leben müssen, abfinden: der Arbeitslosigkeit, die Lohnsenkungen, das repressive Sozialsystem, ein Schulsystem, das Kreativität im Keim erstickt? Es ist typisch für Zeiten der Entbehrung, dass der Niedergang jugendlichen Widerstandes beklagt wird.

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Warum war Ravemusik und -kultur in den 90ern gerade in Ulster so beliebt?
Es war schlicht und einfach Tanzmusik, alle konnten teilhaben und es gab keine wirklichen Stars. Du hast einfach getanzt bis zum Umfallen. Die Clubs und auch die anderen Sachen, die mit zur Ravekultur gehörten—wie spontane und provisorische Partys—ermöglichten eine Atempause vom sektiererischen Alltag und einen sicheren Ort, um sich in einer Gesellschaft, die von Gewalt geprägt war, zu treffen. Die jungen Leute, die daran teilnahmen, verpflichteten sich diesem utopischen Ideal. Wie bei vielen anderen Jugendkulturen kam auch beim Rave die Energie von den Randgruppen. Und Rave verkleinerte außerdem die Abstände zwischen dem Epizentrum und der Peripherie. Musikstile und beliebte DJs bewegten sich schnell. Das, was du in einer Woche in Amsterdam hören konntest, konnte man ein paar Wochen später auch schon in Belfast hören. Das Wichtigste war aber, dass es alles deins war—deine Musik, dein Tanz, dein Körper, deine Freunde, alles auf einzigartige Art und Weise verbunden.

Was ist davon geblieben? Sei es im speziellen Kontext einer sektiererischen Gesellschaft oder in den allgemeinen Anliegen von Ravekultur als Ort des Zusammenseins und als antiautoritäres Konzept?
Es war von vornherein klar, dass es nur eine vorübergehende Ruhepause von den Problemen der 'Erwachsenenwelt' war: religiöse Lagerbildung, Jobs ohne Zukunft, ein Schulsystem, das dich schnell zum Verlierer machte. Nach den berauschenden Abenteuern eines Raves mussten die Menschen zurück in eine gespaltene Gesellschaft und zu den ganzen Einschränkungen, die ein Leben in Nordirlands Arbeiterklasse mit sich brachte. Die Erfahrung hat vielleicht einige junge Menschen dazu angeregt, sich mehr mit einer politischen Lösung zu befassen, die nicht nur auf konfessionellen Unterschieden aufbaut. Traurigerweise ist das nicht das, was letztendlich eingetreten ist; die momentane Lage hat die Spaltung der verschiedenen Lager noch tiefer verankert, anstatt sie zu entfernen. Wir müssen uns immer noch mit diesem Haufen politischer Frömmler abgeben, die uns beherrschen.

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Rave verschaffte eine vorübergehende Erleichterung von dem Leben in einer kranken Gesellschaft. Ein Teil dieser Erleichterung bestand in Drogen und so gab es auch Opfer zu beklagen. Einige der jungen Menschen, mit denen wir arbeiteten, entwickelten ein ernstzunehmendes Suchtverhalten, lebten auf der falschen Seite des Gesetzes und starben früh. Für die meisten war die Ravererfahrung jedoch prägend und erweiterte ihren Horizont. Obwohl die Überführung in das Leben eines Erwachsenen, der in einer Gesellschaft voller Einschränkung lebt, schwierig sein kann.

Ich kann mir vorstellen, dass nicht alle Erinnerung an damals wunderschön sind—weißt du, was aus den Menschen in dem Film wurde?
Zwei der Jugendlichen, die wir gefilmt haben, sind seit dem Dreh gestorben. Sie waren Anfang 30 und starben an Umständen, die mit Drogen zu tun hatten. Einige aus dem protestantischen Lager schlossen sich wieder den Loyalisten an und eine ganze Menge verließ Nordirland—und wird wahrscheinlich niemals zurückkehren. Als Filmemacher musst du dich voll und ganz deinem nächsten Projekt zuwenden, aber einige der Erinnerungen werden immer bei dir bleiben. Ich hatte vor kurzem ein Wiedersehen mit einer Gruppe ehemaliger Schüler, mit denen ich vor zwanzig Jahren mal für einen Film für Channel 4 gearbeitet habe.

Vielleicht wird es durch die erneute Thematisierung des Films auch ein Wiedersehen mit den Ravern von damals geben. Wer weiß das schon—ich wäre jedenfalls dabei. Viele der ehemaligen Raver sind noch immer mit einander in Kontakt. Der Film ist eine Art von Familienalbum, dem eine politische Aussage beiliegt.

Header: Wikipedia Commons. Alle Fotos: Stills aus ‚Dancing on Narrow Ground: Youth & Dance in Ulster'. Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.

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