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Occupy Turkey

Der Bruder eines getöteten türkischen Demonstranten packt aus

Am zweiten Tag der landesweiten Proteste in der Türkei, schoss ein Polizist Ethem Sarisülük, Arbeiter und Menschenrechtsaktivist, in Ankara in den Kopf. Vor kurzem haben wir mit Ethems Bruder über die Reaktion der Regierung auf Ethems Tod und die...

Am 1. Juni—dem zweiten Tag der landesweiten Proteste in der Türkei, die in Instanbuls Gezi-Park begannen—schoss ein Polizist Ethem Sarisülük, Arbeiter und Menschenrechtsaktivist, in Ankara in den Kopf. Nachdem er 13 Tage auf der Intensivstation verbrachte, hörte Ethems Herz auf, zu schlagen. Seine Familie verkündete seinen Tod am 14. Juni. Zehn Tage später wurde Ahmet Şahbaz, der Polizist der Ethem tötete, von einem Richter aus dem Gefängnis entlassen, weil er angeblich aus Notwehr gehandelt hatte. Ein Vorgehen, dass zu sehr viel Wut in den sozialen Medien und auf der Straße führte. (Ahmets Verhandlung wurde kürzlich von einem Richter ausgesetzt. Etliche Anwälte beklagten, dass dies wieder ein Weg der Regierung wäre, um Polizisten zu schützen.)

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In den vergangenen zwei Wochen versammelten sich jeden Samstag am Taksim Platz in Istanbul Demonstranten, um Gerechtigkeit für Ethem zu fordern. Die Polizei reagierte darauf mit einer Taktik, ähnlich wie die, die überhaupt erst zum Tod von Ethem und zwei anderen Demonstranten führte. Vor kurzem habe ich mit Ethems Bruder, Mustafa Sarisülük, über den Tag , an dem Ethem erschossen wurde, die Reaktion der Regierung auf Ethems Tod und die langjährige Tradition der Türkei in Bezug auf Staatsterrorismus gesprochen.

VICE: Polizeigewalt in der Türkei bekam dank der Demonstrationen im Gezi Park eine Menge Aufmerksamkeit in den internationalen Medien. Allerdings ist das kein neues Phänomen—über 140 Menschen wurden seit 2007 von der türkischen Polizei getötet. Wie war deine Meinung dazu, bevor es zu dieser tragischen Kette von Ereignissen kam?
Mustafa Sarisülük: „Staatsterrorismus“ wäre eigentlich ein besserers Wort um das alles zu beschreiben als „Polizeigewalt“. Seit den jüngsten Ereignissen sind viele Menschen aufgrund der Gewalt, der Meinung, dass die Polizei die AKP [die politische Partei, die die Türkei seit einem Jahrzehnt regiert] favorisiert. Aber so einfach ist das nicht—die Polizei ist eine bewaffnete und vom Staat genutzte Paramilitäreinheit. Seit Beginn der türkischen Republik sind Despotismus, Gewalt und Massaker ein Teil der Politik. Dank der Proteste im Gezi Park wurde diese Unterdrückung aber nun von der ganzen Gesellschaft gesehen.

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Mussten du oder Ethem diesen staatsgesponserten Terror bereits davor spüren?
Nach den „Deep State"-Vorkommnissen in den 90ern [die aufdeckten, dass es paramilitärische Gruppen im Schatten der Regierung gab] hatte ich wegen den Menschenrechtsverstößen, der Gewalt gegenüber dem Volk und widerrechtlicher Tötungen den Drang, etwas dagegen zu unternehmen. Selbst als Kind in der Mittelstufe kam Ethem immer mit zu den Protesten. Seither nutzten wir unser Recht der Versammlungsfreiheit, des Protests und der freien Meinungsäußerung. Wir beiden hatten regelmäßig mit Gewalt und Verhaftungen zu tun.

Bevor die AKP 2002 an die Macht kam, war der Ursprung der Gewalt meistens das Militär. Aber jetzt, wo die AKP bereits seit 10 Jahren an der Macht ist, geht die Gewalt oft von der Polizei aus. Wie schätzt du diese Veränderungen über die letzten zehn Jahre ein?
Obwohl die AKP behauptet hat, dass sie die Menschenrechte verteidigen und den paramilitärischen Staat im Staat auflösen wollte, haben sie sich dieser Aufgabe nie wirklich gestellt. Es gab keine Änderung bezüglich der von der Polizei vollzogenen außergerichtlichen Tötungen oder Folterungen. Für mich beschreibt die Tötung von Ugur Kaymaz dieses Jahrzehnt am besten—als dieser angebliche Terrorist mit seinem Vater zusammen tot aufgefunden wurde, hatte sein Körper mehr Einschusslöcher als er Jahre alt war; er war 12. Die Tatsache, dass seine Mörder bis heute unbekannt sind, zeigt, dass die AKP die Staatstradition weiterführt. Die Menschen, die heute „Solidarität gegen Faschismus“ auf den Straßen schreien, richten ihre Wut nicht nur gegen die Politik der AKP, sondern auch gegen die Tradition des Staates, die dahinter steckt.

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Das Durchgreifen der Polizei gegen friedfertige Demonstranten im Gezi Park am 31. Mai löste auch Proteste in anderen Städten aus; einschließlich Ankara, wo du dabei warst. Wie war diese Erfahrung für dich?
Ich habe auch vom Angriff der Polizei am 31. Mai gehört, musste aber wegen meiner Arbeit bis zum 1. Juni warten, um mich den Protesten anzuschließen. Ich war an dem Tag am Kizilay Platz, als die Polizei anfing, die Leute mit extremer Gewalt anzugreifen. Einige der Kinder, die Kopfverletzungen davongetragen haben oder mit Tränengäs eingenebelt wurden, waren zum ersten Mal in ihrem Leben bei einer Demonstration. In dem ganzen Chaos habe ich versucht, die Leute um mich herum zu beschützen. Die Polizei zielte mit ihrem Tränengas und ihren Gummigeschossen die ganze Zeit auf die Köpfe und Oberkörper der Demonstranten. Ich half Menschen mit gebrochenen Armen und Beinen während sich der Polizeiterror den ganzen Morgen fortsetzte. Dann gegen 13 Uhr hörte ich plötzlich Schüsse.

Während der Proteste versuchte die Polizei ihre Gewalt damit zu rechtfertigen, dass die Polizisten die ganze Zeit unter sehr schlechten Bedingungen arbeiten mussten. Allerdings begannen die Proteste am 1. Juni gerade erst und die Polizisten waren damals weder müde noch erschöpft.

Ich wünschte wirklich, an diesem Tag hätte ich eine Kamera bei mir gehabt um das zu dokumentieren, was ich gesehen habe. Die Polizei hat versucht, Menschen zu töten—ich habe ganz alleine Dutzende schwerverletzte Menschen weggetragen. Ich habe auch gesehen, wie sich einige Polizisten hingelegt haben; auf dem Boden positioniert wie Scharfschützen. Nachdem sie sich genug Zeit zum Zielen genommen haben, haben sie Gaskanister direkt auf die Köpfe der Leute geschossen. Sobald ich am Samstag ankam, war mir klar, dass diese Polizeigewalt zu ernsten Konsequenzen und Toten führen würde.

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Wann hast du herausgefunden, dass auf Ethem geschossen wurde?
Etwa eine Stunde bevor die Polizei auf ihn geschossen hatte, wurde er bereits verletzt, als er versuchte, eine Frau zu beschützen—er hatte sich selbst als Schutzschild gegen die Gaskanister aufgestellt. Einer traf ihn am Hinterkopf. Ethem war bei solchen Ereignissen immer ganz vorne mit dabei; meine Gedanken waren also bei ihm, als ich auf dem Platz war. Gerade als ich nach ihm suchen wollte, hörte ich die Schüsse. Da ich die Polizei schon öfter in die Luft hatte schießen sehen, kam es mir gar nicht in den Sinn, dass tatsächlich jemand von den Schüssen getroffen worden sein könnte. Dann sah ich in der Entfernung, wie eine Trage zu einem Krankenwagen gebracht wurde, aber auch hier dachte ich nicht daran, dass es Ethem hätte sein können. Erst als wir einen Anruf vom Krankenhaus bekamen, wussten wir, was passiert war.

Was passierte, nachdem du im Krankenhaus warst?
Als ich ihn sah, wusste ich, dass mein Bruder nicht überleben würde. Ich ging zum Arzt und fragte nach den Ergebnissen des Gehirnscans. Sie waren überrascht, dass ich so spezifisch danach fragte, statt einfach nur nach dem Befinden des Patienten zu fragen. Als wir uns die Bilder zusammen mit den Ärzten ansahen, konnte man die Kugel tief in Ethems Gehirn sehen. Sie hatte ein Loch in beide Hälften gerissen.

Eine der Behauptungen der Regierung war, dass Ethem von Steinen getroffen wurde, die zu der Zeit geworfen wurden. Wie kam die Wahrheit ans Licht?
Das gedrehte Material, dass den Vorfall zeigt, ist der perfekte Gegenbeweis. Der Polizist, Ahmet Sahbaz, tritt einen Demonstranten, zieht in Ruhe seine Waffe und feuert einige Schüsse ab. Eine dieser Kugeln traf Ethem in den Kopf. Der Mord ist also kristallklar zu erkennen, allerdings gab es zu dieser Zeit eine landesweite Zensurkampagne. Wir haben versucht, diese Zensur zu umgehen, indem wir die Bilder des Vorfalls in den sozialen Medien verbreiteten und NGOs kontaktierten. Ethems Gehirn hörte etwa eine Woche nach den Schüssen auf zu funktionieren, aber wir warteten ein paar Tage um zu sehen, ob sich sein Zustand bessern würde. Am 12. Juni, als wir der Öffentlichkeit sagten, dass Ethem hirntot war, widersprach uns das Gesundheitsministerium, indem es verkündete, dass Ethem nur im Koma lag und sich seine Situation verbessern würde. Wir verloren Ethem am 14. Juni.

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Am 24. Juni sagt Premierminister Erdogan, „Die Polizei verhielt sich im Rahmen des Gesetzes und schrieb eine epische Geschichte des Heldentums.“ Genau am selben Tag kam der Polizist, der Ethem tötete, aus dem Gefängnis. Hat diese Entscheidung deine Hoffnung auf den juristischen Prozess der folgen sollte geschmählert?
Der Premierminister erklärte anfangs, dass er es „nicht zulassen würde, wenn jemand die Polizei schikaniert“. Dementsprechend war uns klar, dass der Prozess so laufen würde, wie er letzten Endes lief.

Die Untersuchung vor Ort, Expertenberichte, die Aussagen der Augenzeugen und Videoaufnahmen weisen alle auf einen Mord hin. Der Richter beachtete das alles allerdings nicht und dachte auch nicht, dass der Autopsiebericht meines Bruders oder der Ballistikbericht wirkliche Beweise wären.

Denkst du, es gibt eine bestimmte Verkettung von Umständen, die den Selbstverteidungsanspruch des Polizisten rechtfertigen würden?
Auf keinen Fall. Während sich die Polizisten unter dem Befehl des Polizeichefs zurückzogen, stürmte derjenige, der Ethem tötete, wütend nach vorne, trat einen der Demonstranten und befand sich direkt in der Menschenmenge. Dann zog er ruhig seine Waffe und drückte ab.

Dogu Eroglu ist ein investigativer Journalist für die Seite Stories of Violence from Turkey (Seite in Türkisch), wo er die Geschichte von Personen veröffentlicht, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Er ist außerdem fester Schreiber bei BirGun, einer türkischen Tageszeitung, und Gründungsmitglied der Conscientious Objectors Association in der Türkei.

Mehr über Occupy Turkey:

The Greater Middle East Project und Erdogans ausländische Kräfte

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