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Warum der Boulevard wegen eines Flüchtlingsvideos an Österreichs Schulen durchdreht

Das Video zeigt aus der Sicht eines Jungen, wie Österreich langsam zum Schauplatz eines Bürgerkriegs wird. Eltern sind angeblich schockiert.
Screenshot via YouTube

Bis gestern kannte kaum jemand den Bildungsverein Nubigena Wolkenkind. Ihr Video „Der Flüchtling in Dir" ist schon seit Juni 2014 auf YouTube online und hatte bis 17. Dezember 2015 gerade mal um die 1.000 Views.

Zu dem Zeitpunkt, an dem ich das hier schreibe, sind es fast 7.000. Das liegt daran, dass das Video am Donnerstag mit viel Empörung vom Boulevard aufgegriffen und zu einem Negativbeispiel von Pro-Asylwerbung hochgeschrieben wurde.

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Der Beitrag zeigt aus der Sicht eines Jungen, wie Österreich langsam zum Schauplatz eines Bürgerkriegs wird und soll laut Angaben des Vereins zur „Bewusstseinsbildung von Kindern und Jugendlichen" beitragen.

Weil Krieg nicht lustig und Empathie nicht einfach zu erreichen ist, hat das Video dabei nicht nur Wohlfühl-Momente. Man sieht Flucht, man hört Schüsse, es gibt sogar Verletzte und am Ende bleibt vor allem Ungewissheit darüber, wie es weitergeht. Oder anders gesagt: Es ist der reale Alltag von vielen Tausenden Kindern, die das Pech hatten, nicht in Österreich geboren worden zu sein—übertragen auf Kinder in Österreich. In der Schule gab es dafür positives Feedback von Eltern. Für Österreich und die Kronen Zeitung war es ein Grund für einen Aufschrei.

Österreich titelt „Flüchtlingsverein zeigt Schockvideo in Schule" und beginnt den Beitrag sicherheitshalber mit ein bisschen emotionalem Feintuning: „Väter und Mütter sind schockiert", heißt es—und offenbar nicht nur die, denn: „Für viele geht das zu weit." Von den „vielen" wird kein einziger namentlich genannt oder zitiert—aber bekanntlich ist „viele" ja auch Journalisten-Jargon für „Ich würde meine Meinung gern jemand anders sagen lassen".

Bei der Krone wird man schon konkreter. Im Artikel „Flüchtlingsverein macht Asyl-Werbung in Schule" gibt es sogar ein wörtliches Zitat dazu, und zwar: „Das geht gar nicht: Politik, egal von welcher Seite, hat in der Volksschule nichts verloren." Wer das sagt? „Mehrere Väter und Mütter" (Journalisten-Jargon für: „Das denkt sicher nicht nur einer"). Offenbar hat die Krone gleich mehrere Menschen gefunden, die im exakt gleichen Wortlaut dieselbe Kritik geäußert haben.

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Interessanterweise hat Robert Lugar vom Team Stronach ebenfalls ein Statement dazu veröffentlicht, das klingt, als wäre er einer der zitierten Väter: „Jede Form von Politik—auch Flüchtlingspolitik—gehört raus aus der Schule", so Lugar in einer OTS-Mitteilung.

Screenshot via YouTube

Ob die Verbannung von jeder Form von Politik aus dem Unterricht sinnvoll ist, wenn man will, dass das Schulsystem politisch gebildete Bürger hervorbringt, ist zumindest fragwürdig. Dass das Team Stronach gleichzeitig politische Bildung an Schulen fordert (während Robert Lugar sich auf Twitter selbst als unpolitisch bezeichnet), macht die Sache nicht unbedingt weniger verwirrend.

Auf jeden Fall sollte sich aber auch das Team Stronach bewusst machen, dass jede Entscheidung über den Lehrplan immer auch eine politische ist—zum Beispiel dann, wenn man sich bewusst dazu entschließt, die Asylthematik auszulassen.

Die Gründerin des Vereins Nubigena Wolkenkind, Sumaya Saghy-Abou-Harb, kann die Behauptungen von Krone und Österreich nicht bestätigen. „Feedback von der Schule habe ich zwar bekommen. Sowohl von den Lehrern und Schülern, als auch von den Elternvertretern. Allerdings war das Feedback extrem positiv."

Dass hier gezielt Pro-Asylwerbung betrieben oder den Kindern eine Meinung eingetrichtert würde, bezeichnet sie als „absoluten Quatsch". Stattdessen würde der Verein stets versuchen, extrem sachlich zu bleiben. „Uns geht es vor allem darum, das Demokratiegefühl bei Kindern zu fördern", so Saghy-Abou-Harb weiter. „Wir wollen zeigen, dass eine Situation wie in Syrien bei uns in Österreich nicht so einfach passieren könnte." Außerdem war das Video nur ein kleiner Teil einer insgesamt 1,5 Stunden langen Einheit inklusive Frage- und Diskussionsrunde.

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Die Kritik am Video hat mehr Agenda als im Video selbst. Die einzige politische Botschaft im Beitrag ist Einfühlungsvermögen.

Darüber hinaus gibt es zwei Gründe, aus denen man gegen die Verbreitung des Videos an Wiener Schulen sein kann: Entweder, weil man der Botschaft inhaltlich nicht zustimmt oder, weil man findet, dass Kinder nicht damit konfrontiert werden sollten. Im ersten Fall geht es um Politik, im zweiten um Pädagogik.

Die Boulevard-Meldungen vermischen beides: Zum einen kritisieren sie die angebliche Asyl-Werbung und zum anderen, dass das Video 6- bis 10-Jährigen gezeigt wird und zu „Schock" führt. Über den pädagogischen Wert kann man sicher diskutieren. Allerdings ist Erziehung nicht die totale Abschirmung von allen unangenehmen Dingen da draußen bedeutet, sondern eher die Vorbereitung darauf.

Sumaya Saghy-Abou-Harb sagt dazu: „Kinder bekommen das Thema auch ohne uns täglich mit. Viele Fragen kommen von den Kindern selbst."

Was den politischen Aspekt angeht, steckt mehr Agenda in der Aufregung über das Video als im Video selbst. An keiner Stelle wird gesagt, man müsse alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen. Die einzige Botschaft, die man hier kritisieren kann, ist Einfühlungsvermögen. Was Österreich und die Krone—und Robert Lugar—betreiben, ist nicht Kritik an einzelnen parteipolitischen Maßnahmen, sondern Empörung über Empathie und Angst vor zu viel Verständnis.

Markus auf Twitter: @wurstzombie