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Diese Frau geht auf die Straße, damit du im Krankenhaus nicht umgebracht wirst

Seit Montag streiken Krankenpfleger in Berlin. Sie wollen mehr Geld, aber vor allem wollen sie ohne Herzrasen und Panikattacken zur Arbeit gehen können.

Fotos: Marlene Göring

Wenn Victoria eins kann, dann ist es durchhalten. Die langen Nachtschichten auf Station zum Beispiel. Oder sich weigern, Patienten auf Betten im Flur abzuschieben, obwohl das Management das angeordnet hat. Ihren sturen Kopf braucht sie in den nächsten 48 Stunden besonders. So lange muss sie die Pfleger zusammenhalten, die in diesen Tagen das Krankenhaus Am Urban in Berlin-Kreuzberg bestreiken. Muss für sie dem Druck standhalten, den die Krankenhausleitung die ganze Zeit macht.

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Victoria Al Hourani, 27 Jahre, 1,83 Meter, lange blonde Haare, der Lidstrich scharf wie ein Eispickel. Es ist 4:53 Uhr, als sie mir die erste SMS schreibt: Wann kommst du nochmal? Ich vermute stark, Victoria schläft nie.

Als am Montag früh halb sieben die Tagschicht beginnt, stehen die weiblichen und männlichen Pflegekräfte vor dem Haupteingang des Urban und rauchen oder trinken Kaffee. Die Luft fühlt sich eisig an, Dunst liegt in der Luft vom Regen der Nacht. Victoria, die alle Vici nennen, ist nicht nur Krankenschwester, sondern auch Betriebsrätin. Jetzt ist sie Streikleiterin und rennt von einem Grüppchen zum anderen, fragt nach, wer streikt und wer nicht, löst Gerüchte auf. Davon gab es eine Menge in den letzten Tagen.

Eigentlich ist der Streik nichts Außergewöhnliches. Fast zu jeder Tarifrunde gibt es einen, diesmal geht es um den Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst: Die Gewerkschaft ver.di fordert sechs Prozent mehr Lohn, die Arbeitgeber wollen nur drei geben.

Und doch ist dieser Streik etwas Außergewöhnliches. Noch nie legten so viele Stationen und Pfleger im Krankenhaus Am Urban auf einmal die Arbeit nieder, und noch nie so lange: ganze zwei Tage, Montag und Dienstag. Und keiner hat eine Ahnung, wie die aussehen werden. Eins ist klar: Wenn ein Pilot streikt, dann fliegt der Flieger nicht. Aber wenn ein Verunglückter ins Krankenhaus kommt, kann man dem schlecht sagen: Nein, heute leider nicht.

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Deshalb wollten ver.di und die Streikenden eine Notdienstvereinbarung treffen: Der Betrieb sollte bis auf die Notfälle runtergeschraubt werden, einige Stationen geschlossen bleiben, andere mit Notbesetzung laufen, das wären dann so viele Krankenpfleger wie im Nachtdienst. Der Arbeitgeber, das städtische Unternehmen Vivantes, hat abgelehnt—das Patientenwohl sei durch diesen Plan gefährdet. "So ein Schwachsinn", sagt Victoria. "Wenn keine Patienten da sind, können sie auch nicht gefährdet werden." In den Augen der Streikenden will Vivantes einfach den Normalbetrieb aufrechterhalten. Denn jeder Patient, der abbestellt wird, jede OP, die abgesagt wird, bedeutet, dass das Krankenhaus Geld verliert.

Dabei geht es um viel mehr als Geld. Die Pfleger im Urban haben richtig die Schnauze voll, das hört man in jedem Satz, den sie sagen. Selbst, wenn es in dieser Runde nicht mitverhandelt wird: Sie protestieren auch für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen. Denn die sind, gelinde gesagt, ziemlich mau. "Nicht der Streik, der Normalzustand ist lebensgefährlich", sagt Victoria.

"Man hat keine Zeit mehr, menschlich zu sein", nennt das eine andere Krankenschwester im Urban. Die Pfleger-Patienten-Relation erfasst man dort schon lange nicht mehr genau. Ständig blieben Aufgaben liegen oder würden dem nächsten Dienst aufgehalst. "Jeder, der neu anfängt, ist erst einmal geschockt", erzählt die Schwester weiter. "Manchmal sagt dir ein Patient: Ich würde heute gern mal duschen oder die Füße waschen—aber du schaffst es einfach nicht während deines Diensts." Man könne die vorgeschriebenen Hygienemaßnahmen nur schwer einhalten. Dabei belegen etliche Studien, dass weniger Krankenpfleger auch mehr Tote und Infektionen auf Station bedeuten. Eine Kollegin in einem anderen Krankenhaus hat ihr erzählt, dass sie dort die Patienten nicht mehr auf die gefährlichen MRSA-Keime testen, selbst wenn sie einen Verdacht haben. Aus Angst vor den aufwändigen Maßnahmen, die dann eingeleitet werden müssen. "Es ist ein Wunder, dass nicht mehr passiert", meint die Schwester. "Und es wird auch viel vertuscht."

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Ein Arzt aus dem Urban bestätigt solche Geschichten. "Freitags verlegen viele von uns die Intensiv-Patienten nicht mehr auf die normale Station", erzählt er. "Weil wir wissen, dass die da am Wochenende nicht richtig versorgt werden." Unter solchem Druck stritten Ärzte und Pfleger ständig, wer für was zuständig ist. "Wenn es dann darum geht, irgendwo reinzustechen oder den Blutzucker neu einzustellen, macht es keiner."

Das Dilemma kennt wohl jeder Krankenpfleger. "Ich bin oft mit Herzrasen zur Arbeit", sagt Victoria. Eigentlich sei sie eher ein Nachtmensch. Aber nachts ist immer nur eine Schwester auf Station. Wenn Victoria dann einen Patienten mit Atemnot hat und einen, der auf Toilette will, muss sie sich entscheiden. "Jemandem das Recht auf einen Toilettenbesuch vorzuenthalten, ist wohl das Furchtbarste, das man einem Menschen antun kann." Sie übernimmt jetzt keine Nachtschichten auf dieser Station mehr.

Wenn Chaos der Normalzustand sein soll, ist es vielleicht kein Wunder, dass Vivantes es auch beim Streik darauf ankommen lässt. Montagmorgen wollen sie neun Pfleger aus dem Streik holen—Victoria prüft auf den Stationen nach und schickt zwei. Ihr Fazit bis Mittag: Keine Station wurde geschlossen, leider. Aber immerhin etwa 70 streikende Mitarbeiter, 90 freie Betten und nur noch zwei laufende OPs. Ein paar Anästhesisten wurden schon nach Hause geschickt, weil es nichts zu tun gibt. Die Unfallchirurgie wirkt richtig ausgestorben: die meisten Zimmer leer, ein einsamer Pfleger hinter einem Schreibtisch. Er streikt nicht mit, findet die ganze Sache auch nur so semi-gut. "Ich verstehe euch ja", sagt er. Aber die Patienten hätten heute erst halb zehn Frühstück bekommen. "Das war kacke, echt." Dann erzählt er, die Ärzte würden jetzt die Betten selber hin- und herschieben, und alle schaden-freuen sich ein bisschen.

Auch in der Jugendpsychiatrie ist es still. Nur zwei traurig aussehende Jungs schlurfen über den Linoleumboden. Wir treffen ein paar desorientiert blickende Leasing-Kräfte, die Vivantes als Ersatz besorgt hat. Besonders chaotisch sei es heute nicht gewesen, erzählt eine, aber sie kenne sich halt nicht aus. Eine andere Schwester freut sich über ihre halbleere Station: "Normalerweise hätten wir jetzt schon Extra-Betten auf dem Flur stehen." Auf einer anderen Station ist dafür eine FSJlerin gerade alleine mit den Patienten, das sollte wohl eigentlich nicht so sein.

Das ist Victorias Aufgabe: Immer wieder neu verhandeln, ob genug Kräfte im Einsatz sind, oder ob die Krankenhaus-Chefs welche fordern können. Denn die haben angekündigt: Wenn es hart auf hart kommt, werden sie die Streikenden per Anordnung zurückholen. Ver.di prüft gerade, ob das überhaupt legal ist.

Irgendwann hat Victoria Tag 1 geschafft—der Streik ist nicht zusammengebrochen, immer noch hört man die Trillerpfeifen vor dem Krankenhaus. Es sieht so aus, als könnte sie heute Nacht sogar ein paar Stunden schlafen. Vielleicht ist es der Abend, vielleicht der Erfolg, jedenfalls klingt sie jetzt ganz versöhnlich: "Am Ende sind ja nicht die Arbeitgeber schuld an den Zuständen, sondern das System." Aber die müssten dafür sorgen, dass die Politik etwas gegen die schlimmen Bedingungen unternimmt. Sonst gibt es irgendwann niemanden mehr, der den Job machen will.