Gespräche mit Einwohnern von Molenbeek, Brüssels „Terror-Brutstätte“

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Gespräche mit Einwohnern von Molenbeek, Brüssels „Terror-Brutstätte“

Brüssel kam nach den gestrigen Anschlägen zum Stillstand—doch das Viertel Molenbeek nicht. Dort fand der Markt wie üblich statt. „Jetzt ist der Anschlag schon passiert", sagte ein flämischer Bäcker.

Ein Soldat steht vor der Europäischen Kommission, 150 Meter entfernt von der Metrostation Maelbeek | Alle Fotos von Bertrand Vandeloise

Als die Welt erfuhr, dass drei der Terroristen, die vergangenen November die Anschläge in Paris verübten, im Brüsseler Viertel Molenbeek aufgewachsen waren, wurde diese Gegend als eine Art „Terroristen-Brutstätte" bekannt. Diese Woche geriet das Viertel noch mehr unter Verdacht, als bekannt wurde, dass der flüchtige Terrorverdächtige Salah Abdeslam es geschafft hatte, sich 126 Tage lang in Molenbeek vor den belgischen Anti-Terror-Einheiten zu verstecken. Nach den Anschlägen auf den Brüsseler Flughafen und das Nahverkehrssystem gestern sind einige Journalisten sofort nach Molenbeek aufgebrochen, um die Reaktionen der Menschen dort einzufangen.

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Der freie Journalist Paul Schram war gestern auf dem Markt in Molenbeek, der ganz gewöhnlich stattfand. Wir haben ihn gebeten, die Stimmung in dem Viertel zu beschreiben.

Die Fotos in diesem Artikel sind am 23. März 2016 im Brüsseler Stadtzentrum entstanden und zeigen nicht das Viertel Molenbeek.

Seit den gestrigen Anschlägen ist Brüssel in Alarmbereitschaft. Spezialeinheiten, die Polizei und das Militär haben das gesamte Stadtzentrum abgeriegelt. Die Station Maelbeek ist nur einen Steinwurf vom Berlaymont-Gebäude entfernt, wo die Europäische Kommission ihren Sitz hat. In der Nähe von Maelbeek wurden Autos durchsucht und Taschen ausgeleert, während auf den Straßen reger Polizeiverkehr herrschte.

Als sich die Nachricht über die Anschläge verbreitet hatte, wurde es im Rest des Stadtkerns schnell unheimlich still. Die meisten Einwohner von Brüssel folgten dem Rat des belgischen Premiers Charles Michel, sich drinnen aufzuhalten. Weil die Tunnel ins Zentrum abgesperrt waren, konnte man sich ohnehin kaum durch die Stadt bewegen. Nur Notdienste durften die Tunnel nutzen. In großen Teilen der Stadt sah man einzig Fahrzeuge der Polizei und des Militärs sowie Krankenwagen. Der Straßenbahn- und Busverkehr war komplett zum Erliegen gekommen, als ob jemand alles einfach per Knopfdruck abgestellt hätte.

Die Jagd auf die Täter war gegen Mittag im Brüsseler Stadtzentrum noch in vollem Gange. In der Nähe der Metrostation überprüfte der Minenräumdienst der Armee, DOVO, ein Auto auf Sprengsätze, doch es stellte sich als falscher Alarm heraus.

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Gestern Morgen, kurz nach den Anschlägen, war ich in Molenbeek. Zwei Tage zuvor hatte ein Polizeibeamter mir gesagt, dass die Verhaftung Salah Abdeslams nur der Anfang einer „Reinigung" von Molenbeek sein würde. Anscheinend hat die Polizei noch 21 weitere Terrorverdächtige von dort auf ihrer Liste. Die Liste hängt im Polizeirevier an einer Ecke des Marktplatzes von Molenbeek aus. Die Familie Abdeslam wohnte an genau diesem Platz.

Aus diesen paar Quadratkilometern kamen drei der fünf Terroristen, die die Anschläge in Paris verübten. Die verarmte Gegend liegt direkt am Zentrum von Brüssel und hat sowohl die jüngste Einwohnerschaft als auch die höchste Arbeitslosenrate der Stadt.

Während Brüssel gestern Morgen komplett abgeriegelt war, sah es in Molenbeek ganz anders aus. Der Markt an der Hertogin van de Brabantplein war voller Lebensmittelhändler, Marktschreier und Kleidungsstände. Ein flämischer Bäcker hatte seinen Stand noch nicht abgebaut, obwohl die Behörden die Bevölkerung aufgerufen hatte, sich nach drinnen zu begeben. „Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen und die Leute kommen ja ohnehin hierher. Jetzt ist der Anschlag schon passiert", sagte er nüchtern.

Ein Mann mittleren Alters schien irritiert, als ich ihn fragte, ob er Mitleid mit den Opfern habe. „Wenn du sie verletzt, dann verletzten sie dich! Das hat Belgien davon, dass es sich dem Krieg gegen den Terror angeschlossen hat."

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Eine Flämisch mit marokkanischem Akzent sprechende Frau, die einen Hidschab trug, schüttelte den Kopf, als sie die Nachricht erfuhr. „Schon wieder schauen alle auf uns und zeigen mit dem Finger auf Molenbeek." Ein paar Jugendliche, die auf der Straße herumhingen, wurden furchtbar wütend, als sie mich und meinen Kollegen sahen: „Reporter! Abschaum! Seht zu, dass ihr wegkommt!", riefen sie.

Ein paar Straßen weiter, in der Vierwindenstraat, sah der Bäcker Omar auf das Haus, in dem Abdeslam vergangenen Freitag gefasst wurde. Er war traurig, als er von den Anschlägen erfuhr, und wollte seinen Laden für den Rest des Tages schließen. Er sagte, die Nachricht von der Festnahme des Terroristen habe ihn erfreut: „Es fühlte sich an, als hätte man endlich einen Tumor aus Molenbeek geschnitten."

Bevor ich ging, unterhielt ich mich noch mit einem Schuhverkäufer, der ebenfalls auf dem Markt arbeitet: „Ein paar Verrückte begehen Terroranschläge und die Leute schauen sofort in unsere Richtung. Ich schäme mich zutiefst dafür, dass manche Muslime solche Dinge tun. Und es gibt viele Leute hier [in Molenbeek], die das genauso empfinden", seufzte er.

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