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Die Geschichte des Südsudan

Die Verlorenen Jungs

Trifft man Machot persönlich, fallen sofort die Narben ins Auge, von denen sein Gesicht durchzogen ist. Narben von tiefen Schnitten, die ihm in einem traditionellen Ritual zugefügt wurden, als er zum Mann wurde.

Machot wurde eigenen Angaben nach in Bentiu geboren, als eines von 14 Kindern. Er gehört den Nuer an, seine Großmutter war eine Dinka. Machot hat ein einnehmendes, herzliches Lachen und macht gerne Witze. Am Telefon merkt man ihm nicht an, dass er aus einfachen Verhältnissen kommt. Trifft man ihn persönlich, fallen sofort die Narben ins Auge, von denen sein Gesicht durchzogen ist. Narben von tiefen Schnitten, die ihm in einem traditionellen Ritual zugefügt wurden, als er zum Mann wurde. Was man nicht sehen kann, sind die noch tieferen Wunden, von denen seine Seele und seine Psyche zerfurcht sind.

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Als Kind lebte Machot in einer traditionellen Lehmhütte mit einem hohen Strohdach. Das größte Gebäude in der Nachbarschaft war der Luak, ein Kuhstall, der von kleineren Lehmhütten umgeben war, den sogenannten Diels oder Tukuls. Machots Vater stammte aus einer Familie von Speermachern. Sie verarbeiteten lange Stahlstangen aus dem Norden des Landes zu scharfen Klingen. Ein Mann, der einen besonders schönen Speer herstellen kann, wird „Speer-Meister“ genannt und soll die Fähigkeit haben, die Zukunft vorauszusagen. Machots Mutter und Schwestern kümmerten sich um die Feldfrüchte, während er mit seinem Vater angelte, jagte oder die Kühe hütete. Wohlstand wurde in seiner Heimat an der Anzahl der Kühe gemessen, die eine Familie besaß. Diese war zudem die Grundlage dafür, wie viele Ehefrauen ein Mann sich leisten konnte. Im Jahr 1989 hatte Machots Vater drei Frauen (trotz der Vorliebe seiner Großmutter, jede Frau, die sein Vater mit nach Hause brachte, vom Grundstück zu jagen), Tausende Kühe und einige große Landstücke, auf denen sein Vieh grasen konnte. Machot fehlte es an nichts.

Bildung galt in seiner Heimat oftmals als etwas Schlechtes. Man fürchtete die Männer, die Lesen und Schreiben konnten, und in ihrer Region auftauchten, um das einfache Landleben zu stören—seine Familie fürchtete sich vor allem vor sudanesischen Steuereintreibern, die zum Gehöft von Machots Vater kamen und Kühe als Bezahlung forderten. Für Machot und seine Familie bedeutete „gebildet“ sein, für die Regierung zu arbeiten und korrupt zu sein.

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Dann war Machots friedliches Leben auf dem Land mit einem Schlag vorbei.

In den frühen Morgenstunden, noch vor Sonnenaufgang, schallte der Lärm von Schüssen und explodierenden Granaten durch sein Dorf. Völlig verängstigt rannte er ins Buschland, um sich zu verstecken. Als er zurückkam, waren alle fort. Machot war mit seinen acht Jahren vollkommen alleine. Er begann loszulaufen. Er hörte, dass Kinder wie er nach Äthiopien gehen. Zu dieser Zeit wanderten ganze Gruppen dieser später als Lost Boys bekannten Kinder durch die Wildnis des Südsudans. Wenn Rebellen ihre jungen Opfer gefangen nahmen, sortierten sie sie der Größe nach. Die größeren und stärkeren Jungen wurden zwangsrekrutiert; die kleineren, schwächeren wurden zurückgelassen und mussten weiter umherwandern, bis sie wieder abgefangen und in die Mangel genommen wurden.

Irgendwann wurde auch Machot von Rebellen abgefangen und für ihre Einheit zwangsrekrutiert. Es war eine brutale Einführung in eine von Vergewaltigungen, Schlägereien und anhaltendem Missbrauch geprägten Welt. Weigerten sich die neuen Rekruten zu kämpfen, wurden sie von ihren eigenen Befehlshabern erschossen. An diesem Punkt der Geschichte wird Machots eigentümliches Zeit- und Raumgefühl deutlich. Er hat große Teile seines Lebens vergessen, andere überspringt er, oftmals lässt er die Jahre aus, die er in den Lagern verbracht hat, so, als wäre er nie dort gewesen.

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Nachdem er ein Jahr lang nichts von seinem Sohn gehört hatte, versuchte Machots Vater herauszufinden, was mit ihm passiert war. Er traf sich mit Riek Machar, einem damaligen Rebellenführer der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (Sudan People’s Liberation Army—SPLA). Machots Vater forderte seinen Sohn zurück, doch Machar weigerte sich. Er versprach ihm stattdessen, dass Machot und seine Brüder, sollte er der Ausbildung seiner Söhne durch die Rebellen zustimmen, Posten in der neuen Regierung bekämen, sobald der Südsudan ein unabhängiger Staat sei.

Machot zu Hause in Lynnwood, Washington. Er ist Nuer. Für Außenseiter ist es schwierig, Nuer und Dinka, oder Mitglieder aus einem der andern sechs Stämme der Region auseinanderzuhalten. Die Muster der Gesichtsnarben zu kennen, kann dabei helfen, aber selbst dann, kann es verwirrend sein. Einer der Hauptgründe liegt vermutlich auch darin, dass die Unterschiede hauptsächlich philosophischer Natur sind: Die Nuer sind eher demokratisch eingestellt und legen weniger großen Wert auf Erbfolge als die Dinka. Foto von Kyle Johnson

Machar verlangte anschließend von Machots Vater, das Sorgerecht für seinen Sohn abzugeben, was den ohnehin schon frustrierten Vater zur Weißglut brachte. Er weigerte sich und wurde auf Anweisung des Rebellenführers von dessen Wachmännern verprügelt und ins Gefängnis gesteckt, wo er bis zu seiner Freilassung noch mehrere Male misshandelt wurde.

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Wieder in Freiheit wurde Machots Vater schwer krank, spuckte Blut und wurde jeden Tag schwächer. Einen Monat später war er tot. Machot schaffte es, aus der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee zu fliehen, und setzte seine Flucht in Richtung Äthiopien fort. Als er ein Lager der UN erreichte, das seiner Erinnerung nach Etom hieß, musste er völlig entmutigt feststellen, dass es unter der Kontrolle der SPLA stand. Ohne Eltern, die sich um ihn kümmerten, wurde er als Waisenkind eingestuft (was der Wahrheit ziemlich nahekam). Er ging sechs Monate lang in die Schule des Lagers. Während der ganzen Zeit wusste er nicht, was aus seinem Vater und seinen drei Müttern nach dem Überfall auf ihr Dorf geworden war. Rebellen, die im Lager lebten, arbeiteten als Informanten. Sie suchten die Jugendlichen aus, die bereit für die militärische Ausbildung waren und die anschließend mitten in der Nacht weggebracht wurden.

Machot strengte sich in der Schule an, kam wieder zu Kräften und lebte sich in einen für seine Lebensumstände einigermaßen regelmäßigen Tagesablauf ein. Dann holten sie ihn eines Nachts. Sie zwangen ihn in ein Auto und fuhren fünf Tage lang zu einem anderen Lager, das angeblich von der UN geführt wurde. Auf dem Weg dorthin erklärten seine Entführer, dass sie nun Mutter und Vater für ihn seien. Sie warnten Machot, dass sie ihn erschießen würden, sollte er versuchen, abzuhauen.

Ein Rebell namens Taban Deng Gai kümmerte sich um die Interessen der SPLA innerhalb des Lagers. Seine Unterkunft war riesig und wurde von Bodyguards bewacht. Er kontrollierte die lokalen Nahrungsmittel-, Waren- und Kinderschwarzmärkte und würde später noch einmal eine Rolle in Machots Leben spielen, als er in die Führung der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee aufstieg.

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Machot blieb viele Jahre Schutzbefohlener der SPLA. Was seine Aufgaben während dieser Zeit angeht, bleibt er vage. Er erklärt, dass er als Funker eingesetzt wurde, weil er gelernt hatte, Arabisch zu sprechen. Er sagte auch, dass er mit einer Waffe umgehen konnte.

Er blieb als Angehöriger der SPLA in den Lagern, bis 1991 der Jahrzehnte andauernde Bürgerkrieg in Äthiopien vorbei war und die Äthiopier entschieden, die Lager zu räumen, weil sie den Nuer in ihrem Land nicht länger trauten. Machot und einige Jungs, mit denen er damals zusammenlebte, entschieden, sich zu Fuß nach Kenia aufzumachen. Man hatte ihnen gesagt, dass die Lager dort sicher seien. Auf dem Weg dorthin mussten sie jedoch das Kriegsgebiet im südlichen Sudan durchqueren. Sie liefen nach Westen in Richtung der Stadt Nasir an der äthiopischen Grenze. Als die Bombenangriffe zu heftig wurden, machten sie sich in den Süden auf, nach Kakuma, einem UN-Lager in der Wüste.

Machot lebte fünf Jahre lang in Kakuma. Die UN teilte ihm ein Zelt und eine Decke zu und versorgte ihn jede Woche mit einer Tasse Getreidemehl und etwas Speiseöl. Anders als in Pressemitteilungen beschrieben, war das Leben im Camp hart und grässlich. Schon bald sprachen die Jungs davon, dass man in Khartoum ein besseres Leben finden könne. Angeblich gab es in der sudanesischen Hauptstadt Arbeit, die Möglichkeit, zur Schule zu gehen, und keinen Krieg. Er und eine Gruppe älterer Jungen verließen das Camp einfach und liefen zwei Monate lang Richtung Norden.

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In Khartoum erwartete sie jedoch kein viel besseres Leben. Flüchtlingslager umschlossen die Stadt. Es gab immerhin Gelegenheitsjobs auf Baustellen, von denen Machot einen annahm. Am Anfang konnte er nicht mehr als einen Ziegelstein auf einmal tragen, weil er so schwach und dünn war. In Khartoum traf Machot dann auch auf Paulino Matip Nhial, einen Nuer-Befehlshaber, der für die sudanesische Regierung kämpfte. Machot erinnerte sich an das Gesicht von Matip Nhial—er hatte zu den Männern gehört, die für die Gewalt in seinem Dorf verantwortlich gewesen waren. Trotzdem wurden die beiden Freunde.

Der Präsident des Südsudans Salva Kiir (mit Cowboyhut) und der ehemalige Vize-präsident Riek Machar (in der Mitte links), 8. Februar 2011. AP-Foto/Pete Muller, File

1993 ließ Machot Khartoum und seinen dortigen Job hinter sich. Sein Boss auf der Baustelle steckte ihm aus Mitleid 200 Dollar zu. Er machte sich gemeinsam mit zwei Freunden, die Geld gespart hatten, über Äthiopien auf den Weg nach Kenia. Diesmal verzichteten sie jedoch auf den langen Fußmarsch; sie fuhren stattdessen mit Bussen und schliefen in billigen Hotels. In Malia, einer Stadt an der Grenze zu Kenia, half ihnen ein Nuer aus Machots Heimatstadt Bentiu. Die drei Jungen zahlten 600 Dollar, um über die Grenze geschleust zu werden. Sie sollten in einem Hotel auf der äthiopischen Seite warten, doch statt des vermeintlichen Schleppers tauchte nur die Polizei auf. Die Jungen wurden den ganzen Weg zurück in das Flüchtlingslager Kakuma gebracht, von wo aus sie ihre Reise ein Jahr zuvor angetreten hatten.

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In Kakuma machte sich das Gerücht breit, Lost Boys könnten von Ifo aus, einem Lager im Osten etwa 50 Meilen vor der somalischen Grenze, nach Amerika reisen. Machot war schon zuvor Gerüchten nachgejagt und mit nichts als geplatzten Träumen zurückgekehrt. Es kam häufiger vor, dass Lost Boys die Lager verließen und Hunderte Meilen vergebens umherwanderten. Einige starben im Buschland, andere wurden abgefangen und zwangsrekrutiert, wieder andere landeten in einem anderen Lager. Aber irgendetwas zwang Machot dazu, es weiter zu versuchen. Im März 1995 machte er sich mit einer Gruppe von Jungen auf den Weg. Sie trotzten der korrupten kenianischen Polizei und den somalischen Banden und kamen sicher in Ifo an. Ihr Timing hätte nicht besser sein können. Die UN bereitete die Schließung des Lagers vor und trieb die Vergabe von amerikanischen und europäischen Visa für abgekämpfte Lost Boys voran. Am Tag ihrer Ankunft füllten Machot und seine Freunde so schnell es ging den nötigen Papierkram aus. Drei Monate später erhielten sie ein Einreisevisum für die USA.

Machot kam am 8. November 1995 in New York City an. Es war kein freudiges Ereignis. Es war kalt. Die Stadt war hässlich. Mit den strengen Betreuern, die ihn beaufsichtigten, konnte er sich nicht verständigen. Er brauchte eine Stunde, um herauszufinden, wie der Fernseher in seinem Hotelzimmer funktionierte. Er benutzte das Telefon nicht, weil man ihm erzählt hatte, dass das versehentliche Wählen der Notrufnummer 911 seine sofortige Festnahme zur Folge haben würde. Er schlief nicht. Er aß nicht. Er hatte Angst, etwas falsch zu machen und wieder in den Sudan geschickt zu werden.

Irgendwann wurde Machot in einer Pflegefamilie untergebracht, mit der er nicht auskam. Er konnte noch immer nicht schlafen. Als sie ihn zu einer Kleider-Kammer brachten, weigerte er sich, etwas mitzunehmen. Er wollte nicht die Anziehsachen von „toten Menschen“ tragen. Er wusste, dass so gut wie alles in Amerika neu war, und genau das wollte er auch. Er fing an, sich immer wieder mit dem Sohn seiner Pflegemutter zu streiten. Einmal war es so schlimm, dass seine Pflegeeltern die Polizei riefen und er in einem Heim für Minderjährige landete.

Dann wurde Machot endlich in einer Familie untergebracht, die zu ihm passte. Er strengte sich sehr in der Schule an und liebte es, joggen zu gehen. Beim Joggen hatte er das Gefühl, wieder in seinem Heimatland zu sein, wo er den Wind auf dem Gesicht spürte und sein Körper sich frei anfühlte. Er wurde ein ausgezeichneter Leichtathlet, was ihm zu einem Stipendium für das Skagit Valley College in Mount Vernon, Washington, verhalf. Während seiner Zeit am College arbeitete er bei Burger King. Anschließend bekam er eine Stelle beim Verkehrsministerium und 2003 landete er bei der US-amerikanischen Großhandelskette Costco. Im selben Jahr wurde sein Schicksal durch den Dokumentarfilm Vom Sudan nach Houston, Texas: Verlorene Jungs berühmt. Bücher folgten und die Amerikaner erfuhren von den Schrecken, die Tausende junger Nuer und Dinka erlebt hatten, die entführt, geschlagen, vergewaltigt, zum Kampf in einem endlosen Krieg gezwungen und manchmal von Löwen gefressen wurden. Machot bestritt seinen eigenen Lebensunterhalt. Er gründete sogar eine gemeinnützige Organisation, um Flüchtlingen aus dem Südsudan das Einleben in Amerika zu erleichtern. Er sparte Geld, um es nach Hause zu schicken und seine Familie zu besuchen. Obwohl es dort Hoffnung auf eine neue Nation gab, konnte er doch nie bleiben. Es gab dort nichts für ihn.

Während einem seiner Besuche bei seiner Mutter verlangte sie von ihm, dass er heirate, damit sie alt werden und in Frieden sterben könne. Sie gab ihm 24 Stunden, um eine Ehefrau zu finden. Machot ging von Haus zu Haus, traf sich mit infrage kommenden Frauen und machte ihnen das Luxusleben in Amerika schmackhaft. Er blieb etwa 45 Minuten in jedem Haus, traf junge Töchter und deren Familien. Er mochte ein neues Leben in Amerika haben, seiner Vergangenheit würde er jedoch nie entkommen.

Mithilfe seines Cousins konnte er die Kandidatinnen erst auf fünf eingrenzen, dann auf drei und letztendlich auf eine: Rose. Als er ihr sagte, dass sie seine erste Wahl war, machte Rose Machot klar, wie arrogant sein Versuch war, eine Frau zu finden. Sie weigerte sich, am nächsten Tag in ein Flugzeug zu steigen, aber sie stimmte zu, einige Jahre verlobt zu sein, während sie ihre Schule beendete.

Zwei Jahre später heirateten sie und heute haben sie zwei Kinder.