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Die Welt hat uns vergessen—das Leben der bosnischen Landminenopfer

Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges in Bosnien und Herzegowina liegen noch immer 120.000 Minen entlang der ehemaligen Frontlinien vergraben. Katastrophen sind vorprogrammiert.

Razija Aljic (54) und ihr einzig verbliebener Sohn Ruzmir (19). In den vergangenen zwei Jahrzehnten starben sowohl ihre beiden anderen Söhne Nedzad und Yusuf als auch ihr Ehemann durch die Explosionen von Landminen

Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges in Bosnien und Herzegowina liegen noch immer 120.000 Minen entlang der ehemaligen Frontlinien vergraben. Die größte Gefahr besteht dabei für die verarmte Landbevölkerung. Aus Mangel an Alternativen bietet der umliegende Wald oft die einzige Einnahmequelle. Katastrophen sind vorprogrammiert. Vom Staat meist im Stich gelassen, kümmert sich die „Landmine Survivors“ um sie.

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„Es ist die Ohnmacht, die einen um den Verstand bringt“, seufzt Ibrahim Bijelic und schlägt die Hände vors Gesicht. „Die Machtlosigkeit darüber, dass man das Geschehene nicht ändern kann und das Schicksal akzeptieren muss.“ Vor knapp einem Jahr erlebte Ibrahim den dunkelsten Tag in seinem Leben. Auch beim Erzählen stehen ihm Tränen in den Augen. Der 38-Jährige aus dem kleinen Ort Olovo, etwa 50 Kilometer nördlich von Sarajevo, versucht, die Fassung vor seinen Kindern zu bewahren. Langsam beginnt er, von diesem späten Sommertag zu erzählen: „Es war in einem Waldstück, nicht weit von unserem Haus entfernt. In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder zum Holzsammeln dort gewesen. Die Gegend galt als sicher, Unfälle gab es schon lange keine mehr, aber diesmal …“ Seit an diesem Tag im August 2012 eine Anti-Personen-Mine unmittelbar vor ihm explodierte, hat er mehrere Schrapnelle in seinem Körper stecken.

Schnellere Bewegungen fallen ihm schwer. Solange die Metallstückchen nicht an einem Platz im Körper zur Ruhe kommen, ist eine Operation zu gefährlich. Aber es sind nicht die körperlichen Wunden, die ihn jede Nacht aus dem Schlaf reißen. Ibrahim war damals nicht alleine im Wald. „Tarik war erst 6 Jahre alt“, sagt der Familienvater. Es war der Junge, der die Mine unabsichtlich mit einem großen Ast ausgelöst hat. Im Bruchteil einer Sekunde kommt es zur Explosion. Vater und Sohn sinken zusammen. Selbst schwer verletzt, versucht Ibrahim alles, um Tarik ins Krankenhaus zu bringen. „Ich habe meinen Jungen aufgehoben und bin durch den Wald gelaufen, so schnell ich konnte“, versichert er. Als sie die Straße erreichen, hält ein zufällig vorbeifahrender Nachbar mit dem Auto. Da ist Tarik schon tot. Eines der Schrapnelle hat das Herz des Sechsjährigen durchbohrt. Er verblutet mit offenen Augen in den Armen seines Vaters.

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Goran Stanusic (35) arbeitet für das Bosnia & Herzegovina Mine Action Center (BH MAC). Hier entmint er ein Gelände in der Nähe von Visoko. Seit 1995 starben 50 seiner Kollegen, knapp 120 wurden zum Teil schwer verletzt.

Tariks Schicksal steht nur exemplarisch für das schwere Erbe, mit dem Bosnien und Herzegowina auch knapp zwei Jahrzehnte nach Ende des dreijährigen Bürgerkrieges zu kämpfen hat. Noch etwa 120.000 Minen, so eine Schätzung des Bosnia & Herzegovina Mine Action Center (BH MAC), liegen entlang der ehemaligen Frontlinien vergraben.

Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton und der darauffolgenden Beilegung der militärischen Auseinandersetzungen waren mehr als 1.700 Personen in Landminenunfälle verwickelt. Knapp 600 von ihnen starben, der Rest wurde zum Teil schwer verletzt, in den meisten Fällen mussten eine oder mehrere Gliedmaßen amputiert werden. Für die Räumung der verbliebenen Minen benötigt das krisengebeutelte Land jährlich etwa 40 Millionen Euro, sagt Saša Obradovi vom BH MAC. Weniger als ein Viertel der Summe kann das Land selbst aufbringen, erklärt Saša: „Das geplante Ziel, in Bosnien bis 2009 alle Minen zu räumen, mussten wir bereits um ein Jahrzehnt verschieben.“ Auch dieser Termin scheint utopisch.

Es mangelt dem Land nicht an professionellem Personal oder technischem Equipment, sondern einzig an den finanziellen Voraussetzungen. Schuld daran sind die Arbeitslosenquote von weit über 40 Prozent, der katastrophale Zustand der Banken und die allgemeine Wirtschaftskrise. Dazu kommt die allgegenwärtige Korruption. Mit einem Pro-Kopf-BIP von nur USD 8.400 pro Jahr ist Bosnien eines der ärmsten Länder Europas und musste seine beschränkten finanziellen Mittel nach dem Krieg in erster Linie dafür verwenden, Wirtschaft und Tourismus anzukurbeln.

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Entmint wurde vor allem im urbanen Raum. „Dort war die Gefahr am größten“, ist sich Saša Obradovi sicher. Die entlegenen Gebiete Bosniens und seine ärmliche Bevölkerung blieben dabei bisher auf der Strecke. Die meisten Minenfelder sind zwar markiert, Unfälle gibt es jedoch immer wieder. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres starben bereits drei Personen, knapp 20 wurden schwer verletzt. Immer wieder sind es Kinder wie Tarik, die Opfer eines Krieges werden, der schon lange beendet war, als sie geboren wurden. Was treibt die Menschen in den entlegenen Gebieten Bosniens trotz der immensen Gefahr von Landminen überhaupt in die Wälder? „Es ist die pure Armut“, sagt Amir Mujanovi, geschäftsführender Direktor der Landmine Survivors Initiative (LSI). Die NGO hat es sich zur Aufgabe gemacht, Überlebenden von Minenunfällen und den Angehörigen von Todesopfern finanziell und psychologisch vom Eintreten einer Tragödie bis zur Reintegration in die Gesellschaft zur Seite zu stehen.

Ein Warnschild am Rande eines Waldes in der Nähe von Olovo

Die Mitarbeiter der multiethnischen Organisation sind in den meisten Fällen selbst Menschen, die durch Landminen verwundet wurden, und bilden ein in ganz Bosnien agierendes Netzwerk. Sie stellen für die Rechte der Betroffenen meist das einzige Sprachrohr nach außen dar. Dabei geht es vor allem um den Vorantrieb der Entminung in den verarmten Regionen des Landes. „Es reicht nicht, rote Warnschilder mit Totenköpfen vor jedem Wald aufzustellen und darauf zu hoffen, dass die Menschen einen großen Bogen um das Gefahrengebiet machen“, verdeutlicht Amir Mujanovi die Situation. „Wollen die Menschen überleben, haben sie oft gar keine andere Wahl, als in die Wälder zu gehen.“ Seiner dominanten Stimme kann man die Enttäuschung anhören. Es ist die Unzufriedenheit darüber, wie die finanziellen Mittel in Bosnien gehandhabt werden, die Wut, weil immer noch Menschen durch Landminen verletzt oder sogar getötet werden, und die Ernüchterung darüber, dass die Situation so rasch nicht geändert werden kann.

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Wie abhängig die Bevölkerung von den umliegenden Waldgebieten ist und wie real auch die daraus resultierende Gefahr ist, wird an der Geschichte von Razija Alji deutlich. „Für uns war das Sammeln von Holz, Früchten und später auch Altmetallen im Wald schon immer die einzige Existenzgrundlage“, sagt die 54-Jährige aus Lukavica Rijeka im Verwaltungsgebiet Doboj. Arbeitsplätze gibt es in der Gegend kaum. Außer von geringen landwirtschaftlichen Tätigkeiten leben die Menschen hier hauptsächlich vom Anhäufen und Verkaufen von Feuerholz. Auch um die langen und kalten Winter in den eigenen vier Wänden zu überstehen, mussten Razija und ihre Familie von jeher den ganzen Sommer über Brennholzreserven anlegen. „Wer im Sommer fleißig war, musste im Winter nicht frieren“, erinnert sich die dreifache Mutter. „Das Leben war zwar hart, aber wir konnten uns mit der Situation arrangieren.“

Anfang der 1990er jedoch kam dann der Krieg und die einstige Heimat wurde zur Frontlinie. Familie Alji flüchtete. Als sie wiederkam, war ihr Haus von einem riesigen Minengürtel umgeben. „Nedzad war der Erste.“ Mit beinahe apathischer Stimme beginnt Razija die Chronologie einer Familientragödie. Ihr Sohn war damals 19 und starb 1996, kurz nach Kriegsende, im angrenzenden Waldgebiet, als er beim Holzsammeln auf eine Mine getreten war. Nicht einmal zwei Jahre später gibt es wieder eine Explosion in der Nähe des Familienhauses. Diesmal stirbt Razijas Mann. Mit verschränkten Armen sitzt sie neben Ruzmir, ihrem jüngsten Sohn. Ihre ruhige und gelassene Ausstrahlung trotz der tragischen Schicksale wirkt beinahe gespenstisch. „Vor knapp zwei Jahren war das Geräusch der Explosion dann so laut, dass ich es bis in die Küche gehört habe.“ Yusuf, ihr zweitältester Sohn, und sein Schwager sind auf der Stelle tot. Razija verstummt, es scheint alles gesagt zu sein. Auch der 19-jährige Ruzmir, heute der einzige verbliebene Sohn von Razija, hält eine Minute in Gedanken an seine toten Brüder inne. Dann steht er auf, dreht sich etwas verlegen zur Seite und sagt leise: „Ich gehe auch in die Wälder, einer muss ja für die Familie sorgen.“

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Adilja Bijelic (62), ganz rechts, verlor 1996 ihren Ehemann Fehim durch eine Landmine. 2012 wird ihr Sohn Ibrahim Bijelic (38), ganz links, bei einem weiteren Landminenunfall schwer verletzt, der 6-jährige Enkel Tarik stirbt. In der Mitte die beiden Kinder Sejla und Bakir.

Es sind solche Tragödien, die Amir Mujanovi und seine Landmine Survivors Initiative anspornen, Betroffenen nicht nur psychologisch eine Stütze zu sein, sondern ihnen vor allem auch eine alternative Existenzgrundlage bieten zu können, um sie davon abzuhalten, erneut in die Wälder zu gehen. „Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass Leidtragende von Landminen bereits früher in einen Vorfall verwickelt waren“, sagt Mujanovi. Es ist auch kein Einzelfall, dass mehrere Generationen einer Familie in unterschiedlichen Unfällen der explosiven Gefahr zum Opfer fallen. Ähnlich war es auch in der Familie des kleinen Tarik, der im vergangenen Jahr getötet wurde. Adilja Bijelic, die Großmutter des Jungen, erzählt, wie sie bereits im Jahr 1996 ihren Ehemann Fehim durch eine Minenexplosion verloren hat. „Als ich erfahren habe, dass mein Sohn Ibrahim schwer verletzt wurde und mein Enkel Tarik tot ist, kam alles wieder hoch“, sagt die heute 62-jährige Frau. Die Trauer in ihren Augen ist scheinbar einer puren Resignation gewichen. Kühl spricht sie weiter: „Nach dem Tod meines Mannes hätte ich nie gedacht, dass so etwas wieder passiert. Wer hätte geahnt, dass die Minen nach 20 Jahren immer noch im Wald vergraben liegen? Man hat uns damals versprochen, dass wir bald wieder sicher leben können. Doch die Welt hat uns vergessen.“

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Ein Entminungsteam beendet einen erfolgreichen Tag—sie konnten die gelben Sicherheitsbänder von einem in der Zwischenzeit entminten Stück Land entfernen. (v.l.n.r.: BH MAC-Inspektor Sinisa, Team-Leader Marko, Entminer Nebojsa, verantwortlicher Offizier Savo)

Gleich am Tag nach Tariks Tod besucht Amir Mujanovi von der Landmine Survivors Initiative die Familie Bijelic und verspricht ihr, etwas zu unternehmen. Nur wenige Wochen später übergibt die NGO der Familie einen kleinen Traktor mit Anhänger. Ibrahim lächelt, wenn er von diesem Geschenk erzählt, das durch finanzielle Unterstützung von UNDP (United Nations Development Programme) und Norwegian Aid zustande gekommen ist. „Wie sonst hätte ich meine Familie weiter ernähren können?“, fragt der trauernde Vater. Dank des landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugs kann Ibrahim heute in weiter entfernten, sicheren Waldstücken abseits der ehemaligen Frontlinien nach Brennholz suchen und dieses dann in der Nachbarschaft verkaufen. Ohne die Hilfe der NGO wäre die Existenz der Bijelics gefährdet und vielleicht würde sich Ibrahim irgendwann die Frage stellen, ob er trotz allem nicht doch wieder in die Wälder gehen muss. Die Familie ist arm, hat nicht einmal Zugang zu fließendem Wasser. Nach dem Krieg musste alles neu aufgebaut werden.

Ibrahim hat drei kleine Kinder, für die er sorgen muss, das jüngste ist gerade ein Jahr alt. Seinen Bruder Tarik hat es nicht mehr kennengelernt. Amir Mujanovi zeigt sich zufrieden über die Hilfe. „Es ist das Mindeste, was wir tun müssen, wenn Menschen durch diese Kriegsrelikte geschädigt werden. Auf Hilfe vom Staat wartet die Familie übrigens noch immer.“ Wer welche Art der Unterstützung bekommt, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Vielen Frauen wird ein Gewächshaus zur Verfügung gestellt, damit sie mit dem angebauten Gemüse einen Lebensunterhalt erwirtschaften können. Männer erhalten oft landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, mit denen sie sich um ihr Land kümmern oder kleinere Transporte durchführen können. In seltenen Fällen wird auch Geld zur Verfügung gestellt. „Dies versuchen wir eigentlich zu vermeiden“, sagt Mujanovi. „Wir wollen, dass die Betroffenen wieder einer geregelten Tätigkeit nachgehen und auch weiterhin das Gefühl haben, selbstständig für ihre Familien sorgen zu können.“ Den Helfern geht es nicht nur um Existenzsicherung und finanzielle Wiedergutmachungen, sondern auch um eine Aufwertung des Selbstbewusstseins und einen Ausweg aus Depression, Nutzlosigkeit und Verzweiflung.

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Ajka Ibrahimovic (50) wurde 1995 durch die verspätete Explosion einer Clusterbombe schwer verletzt. Bis heute hat Ajka Schrapnellstücke in Körper und Lunge. Eine Operation gilt als zu gefährlich. In diesem Röntgenbild von 2009 ist eines der Schrapnellstücke als weißer Punkt sichtbar.

In dem kleinen Dorf Zivinice in der Nähe von Tuzla zeigt Ajka Ibrahimovic freudestrahlend mehrere Körbe voller Gemüse aus der letzten Ernte ihres Gewächshauses. Noch bis vor Kurzem war die 50-Jährige, die im Krieg durch eine verspätet explodierte Clusterbombe stark verletzt wurde, finanziell von Freunden und Verwandten abhängig. Nach dem Krieg wurde sie vom Staat als 20-prozentige Kriegsversehrte eingestuft und erhielt eine Rente von umgerechnet knapp 50 Euro. Damit musste Ajka nicht nur sich, sondern auch ihren Sohn Aldin durchbringen. Vor etwa zwei Jahren lernte sie Mitarbeiter der Initiative kennen. Nachdem ihr Fall von der Hilfsorganisation evaluiert wurde, entschied man sich, Ajka ein Gewächshaus zu errichten. Die etwa eintausend investierten Euro haben sich bezahlt gemacht. Innerhalb kürzester Zeit hat sich Ajka zu einer erfolgreichen Kleinunternehmerin entwickelt und verkauft heute ihre Ernte im ganzen Dorf. Weitere Unterstützung war nicht mehr nötig. „Natürlich ist es nicht immer so einfach“, sagt Amir Mujanovi ernüchternd. „Im Falle von Ibrahim etwa wäre ein Gewächshaus sinnlos gewesen. Wir mussten dafür sorgen, dass er mobil ist und nicht zum Holzsammeln in die umliegenden Wälder gehen muss.“ Bis heute hat die NGO knapp 3.000 Betroffenen auf unterschiedliche Art geholfen.

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Goran Goranovic (40) trat 1992 auf eine Mine, während er in der Armee der Republika Srpska kämpfte. Goran lebt mit seiner Familie auf einem kleinen Bauernhof weit abseits der nächsten Stadt im Verwaltungsbezirk Doboj.

Der engagierte Direktor der NGO versucht mit euphorischer Stimme, die verschiedenen Hilfsmaßnahmen zu erklären. Dann trübt sich seine Stimmung wieder. Mit Stirnfalten und ernstem Ton setzt er zu einem abschließenden Statement an: „Was bringen all die Maßnahmen, solange noch immer Minen vergraben liegen, die Menschen in die Luft sprengen? Es geht doch darum, dass wir uns endlich von dieser Last befreien können und darum, dass wir endlich unser Land zurückbekommen.“ Im 60 Kilometer entfernten Visoko macht sich Goran Stanusic an die Arbeit, diese Vision auch in die Tat umzusetzen. Gemeinsam mit seinen Kollegen vom bosnischen Mine Action Center entmint der 35-Jährige ein Waldstück, das gegenüber von mehreren bewohnten Häusern liegt. Goran klappt sein Visier ins Gesicht. Langsam tastet er sich mit seinem Detektor Zentimeter für Zentimeter über den Erdboden. Die Tätigkeit ist ermüdend, vor allem auch deshalb, weil die Männer alleine arbeiten müssen und nur in Rufweite zueinander stehen. Alle 30 Minuten, nachdem er etwa fünf Quadratmeter Boden gescannt hat, macht Goran eine Pause. Plötzlich signalisiert der Detektor mit einem unruhigen Geräusch, dass er etwas Metallisches in der Erde gefunden hat. Goran schwenkt das Gerät mehrmals über den Boden, legt es dann behutsam hinter sich und greift zu einer Stange, an deren Ende ein langer Metallnagel steckt. Langsam lockert er die Erde und sucht nach einem harten Widerstand, immer wieder führt er das Werkzeug in den Boden und versucht, eine mögliche Mine zu lokalisieren.

Die Anspannung ist Goran ins Gesicht geschrieben, unter der schweren Schutzausrüstung und dem Visier sammeln sich Schweißtropfen, sein Herz schlägt automatisch schneller. Goran ist ein Profi, er hat schon unzählige Minen gefunden und entschärft, neben Bosnien auch in Serbien und im Irak. „In so einer Situation ist es wichtig, einem strikten Protokoll zu folgen“, sagt er später. „Nur nicht hastig reagieren oder gar etwas übersehen. Das macht die Arbeit auch so anstrengend. Man muss immer konzentriert sein. Fehler sind nicht drinnen.“ Die Erde in Visoko macht es dem jungen Minenräumer nicht einfach. Immer wieder spielen die Detektoren scheinbar verrückt, zeigen Gefahr an, obwohl keine da ist. „Die Erde ist sehr metallhaltig und spielt uns oft einen Streich.“ Dazu kommt noch, dass der Boden mit Metallschrott und alten Patronenhülsen kontaminiert ist. Da diese ebenfalls metallisch sind, kann Goran nicht eindeutig erkennen, was in der Erde vergraben liegt. Als Nächstes nimmt er eine kleine Schaufel in die Hand. Nachdem mit der Metallstange kein Widerstand lokalisiert werden konnte, muss er jetzt die Erde langsam auf die Seite schaufeln. Am Ende wird klar, dass ihn ein Schrapnell in der Erde getäuscht hat. „Geduld ist überlebensnotwendig.“

Gorans Augen leuchten. Der Profi weiß: „Wer sich nicht an das Protokoll hält, wer einmal unvorsichtig ist, der kann im nächsten Moment schon tot sein oder den Rest seines Lebens ohne Gliedmaßen verbringen.“ Wie gefährlich der Job ist, zeigt die Statistik. Seit Ende des Krieges und dem Beginn der Räumungsaktion haben 50 Kollegen von Goran in Bosnien ihr Leben gelassen, knapp 120 wurden schwer verletzt. Die Gefahrensituation in der Nähe eines Minenfeldes wird von den Verantwortlichen sehr ernst genommen, jeder Besucher muss ein konkretes Prozedere einhalten. Die erste Frage, die gestellt wird, ist nicht jene nach dem Namen, sondern nach der Blutgruppe. „Im Ernstfall muss alles sehr schnell gehen, sonst hast du keine Chance.“ Trotz aller Risiken machen Goran und seine Kollegen den Job gerne. Die Bezahlung ist für bosnische Verhältnisse überdurchschnittlich gut.

„Am Ende hat man auch noch das Gefühl, etwas sehr Sinnvolles getan zu haben“, sagt der 35-Jährige und lächelt verlegen. Ist ein Stück Land komplett geräumt, werden die gelben Sicherheitsbänder mit der warnenden Aufschrift „MINE“ abgenommen. Der Grundbesitzer erhält im Anschluss daran eine Zertifizierung, die ihm bescheinigt, dass das Gebiet zu 99,6 % entmint ist. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Abfallende Waldgebiete stellen eine weitere Gefahr dar, denn durch Regenfälle können Minen „wandern“ und plötzlich dort auftauchen, wo vorher keine waren. So intensiv das BH MAC auch an der Entminung des Landes arbeitet, in manchen Teilen Bosniens müssen manchmal trotzdem noch neue Warnschilder aufgestellt werden. Dies geschieht vor allem dann, wenn es unerwarteterweise wieder einen Unfall gegeben hat. Wie im Falle des kleinen Tarik. Nach seinem Tod wurden rund um den Wald erneut rote Schilder mit weißen Totenköpfen aufgestellt. Ob diese jedoch in Zukunft alle Bewohner der Umgebung davon abhalten werden, in den Wald zu gehen, ist fraglich. Denn für die arme Landbevölkerung in Bosnien ist nur eines sicher: Der nächste Winter kommt bestimmt.