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Medizinstudium geschafft, du bist Arzt. Und jetzt?

Nach einem realitätsfernen Studium, liegen plötzlich echte Menschenleben in deiner Hand. Lungenembolien können da auch mal vorkommen.
Foto: Imago/Westend61

„Ich bin Arzt." Stirnrunzeln, die Augen werden groß, gepaart mit einer Teilskepsis, denn der Wifebeater, den du anhast, lässt eher vermuten, du bist ein kleiner Lump aus der Esoterikbranche. Dennoch: „Wow echt? Krass!" Es ist immer dieselbe Reaktion auf die häufig überflüssige Frage an einem Abend, an dem vielmehr der Gin Tonic in deiner Hand als der Beruf—oder wie viele sogar behaupten würden „die Berufung"—im Vordergrund stehen sollten.

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Eigentlich hast du bereits nach dieser Frage und der anschließenden Reaktion keinen Bock mehr auf dein Gegenüber, aber man ist ja höflich, meistens zumindest. Nun, was kommt als nächstes? „Wolltest du schon immer Arzt werden?" Also weiter im Programm: „Nein, eigentlich nicht", sagst du und versuchst, deinem Blick etwas Gelangweiltes aufzusetzen. Doch das scheint Inga nicht zu interessieren. „Ich wollte das eigentlich auch mal machen, aber das hätte ich ja niemals geschafft." Dein „Nein" hat sie einfach überhört.

Du wolltest lieber schlechter Künstler werden, dein Leben lang Gitarre spielen, oder Tokio Hotel nachreisen, um Bill mal in den Schritt zu fassen. Während dir das durch den Kopf geht, verfinstert sich deine Miene zusehends, so wie gestern, als du bei der Pleurapunktion einen Pneumothorax verursacht hast. Na ja, wen interessiert's? Inga! „Was für ein Arzt bist du denn? Hast du schon mal ein Leben gerettet? Das muss ja total aufregend sein. Bestimmt passiert da richtig viel. Muss ein krasses Gefühl sein, wenn man so einen wichtigen Job macht. Ich meine, ich studier' Geschichte, da kommt man sich im Vergleich schon ziemlich nutzlos vor." Gut, der Moment ist gekommen: „Ach was, ich brauche einen neuen Drink. Komme gleich wieder." Nichts wie weg. Das arme Mädchen. Natürlich kann sie ob der gesellschaftlichen Anerkennung nicht wissen, dass Ärzte Fachidioten sind und ein Medizinstudent während des gesamten Studiums so viel Transferleistung erbringen muss wie eine Ameise an einem Tag. Schließlich sind Ärzte Heiler und die beliebtesten Schwiegersöhne. In Wahrheit sieht alles ganz anders aus.

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„Was sagen ein Philosophiestudent und ein Medizinstudent, wenn du sie bittest, ein Telefonbuch auswendigzulernen? Der Philosoph fragt warum, der Medizinstudent bis wann." Dieser Witz spiegelt die traurige Realität wieder. Als Medizinstudent wirst du mit allerlei unnützem Wissen überhäuft, Nachdenken ist nicht entscheidend, sondern wie es die Gerüchte so umhertragen nur das Auswendiglernen. Vor allem in den ersten zwei Jahren ist das erlangte Wissen weitestgehend nutzlos für den späteren Werdegang—es sei denn, man geht in die Molekularforschung. So sagte ein Freund nach dem Physikum zu mir: „Gut, dass wir immerhin Physiologie hatten, sonst hätte ich meinen Kopf in den letzten zwei Jahren nicht gebraucht." Und doch gibt es viele 1.0-Abiturienten, die genau diesen Kick suchen. Sie geben es sich richtig dreckig, sitzen in jeder Vorlesung von morgens acht bis abends sechs. Die bittere Erkenntnis kommt leider am Ende, wenn sie merken, dass selbst das im klinischen Abschnitt des Studiums erlangte Wissen für den späteren Werdegang nur zu einem geringen Teil von Bedeutung ist. Und genau hier liegt das Problem: Anstatt das Studium mit den für den späteren Werdegang wichtigen Inhalten zu füllen, ist es voll mit überflüssigen Kursen.

An der Universität Tübingen gibt es beispielsweise Seminare wie Arbeits-­ und Sozialmedizin. Dort müssen die Studenten in Kleingruppen Themen ausarbeiten und vorstellen. In einem dieser Referate ging es um das optimale Belüften von Räumen. Kein Witz. Es sind nun mal eben genau diese 1.0-Maturanten, die als Lehrkörper an der Uni hocken und den Lehrplan machen. Den Nutzen dieser Seminare überdenkt niemand, jeder hält sein Fach für das Wichtigste. Selbst die Sozialmediziner. Je mehr Wissen, desto besser. Aber gehen wir mal einen Schritt weiter.

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Nach sechs Jahren Studium hast du's endlich geschafft. Du hast dir den Arsch aufgerissen, die schriftliche Eins zwar knapp verpasst, ganze zwei Prozent haben zu den 90 gefehlt, aber hey, nur drei Prozent schaffen das. Dafür hast du's dem Professor mündlich so richtig gezeigt und im Endeffekt doch noch dein „sehr gut" bekommen. Deinem Patienten hast du für die Qualen, die du ihm bei der Untersuchung während der Prüfung bereiten musstest, ein schnelles Merci hingeworfen und bist schließlich rausgerannt, um der ganzen Welt zu sagen: „Ich bin Arzt!" Natürlich sagst du das nicht so gerade raus. Für einen echten Mediziner gehört es sich nämlich, das ganz dezent zu verpacken—denn man ist ja demütig und der Titel total unwichtig. Die zwei Jahre, die man sich neben des Studiums im Labor hat versklaven lassen, dienten der Forschung. Auch wenn dein Doktorvater sich nicht im Geringsten um dich geschert hat und dir am Ende die Bedeutung deiner Arbeit nicht so ganz klar war: Das hat richtig Spaß gemacht.

Bald schon ist der Tag gekommen. Mit breiter Brust kommst du in der Klinik an, dein erster Tag. Natürlich machst du Innere Medizin, schließlich ist das die Königsdisziplin. Du gehst zur Frühbesprechung und wunderst dich, dass der Assistenzarzt, der dich einführen soll, rote Augen hat. „Ich musste die Nacht übernehmen, die schwangere Kollegin hat Kontraktionen. Ich bring dich auf die Station und zeig' dir alles, dann muss ich gehen. Komme zur Nacht wieder." Na super. Dabei hast du bewusst die Uni­klinik ausgewählt, weil die dort so professionell und gut organisiert wirkten—na ja, und natürlich auch, weil es sich für einen richtigen Arzt gehört zu forschen. Aber jetzt Frühbesprechung: Polyneuropathie, Ketoazidose, Morbus Wilson—kennst du natürlich—schon wünscht der Chef einen guten Tag, ehe ihn der leitende Oberarzt noch schnell auf dich aufmerksam macht. „Oh ja, und wir begrüssen Herrn Schmitz in unserem Team. Guten Start, Herr Kollege." Der Kollege bringt dich auf die Station, dann erst wird dir das Ausmaß des Verderbens bewusst. Du hast 18 Patienten, davon sechs multimorbide mit einer ewigen Diagnosenliste. Während dein Kollege mit dir redet, fühlst du dich wie paralysiert. Alles um dich herum ist wie ein Film, du bist auf LSD. Schon klopft er dir auf die Schulter und sagt: „Das wird schon, aller Anfang ist schwer. Bis später dann."

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Du sitzt wie angewurzelt da. Deine Lippen fühlen sich taub an, die Schultern sinken ein, die Arme sind schwer. Für einen Moment willst du wegrennen, Verzweiflung ist kein Ausdruck. Deine Vision von Medizin, der Idealismus. Es geht doch hier um Menschenleben! Zehn Minuten vergehen, fünfzehn, zwanzig. Plötzlich klopft es an der Tür und schon steht eine Krankenschwester in deinem Büro. „Hallo junger Mann, mein Name ist Andrea." „Ich bin Korbinian, neuer Assistenzarzt." „Oh, erster Tag? Nun, dann wollen wir mal. Frau Wegner hat akute Dyspnoe." Du schaust auf die Liste in deiner Hand und bemerkst, es handelt sich um eine der sechs multimorbiden Patientinnen. Exzellent. Da Dyspnoe (Luftnot) ein ziemlich unspezifisches Symptom ist, wäre es nun nicht schlecht, die Patientin zu kennen. Dekompensierte Herzinsuffizienz? Pneumonie? Lungenembolie? Sepsis? Was schließt du als Erstes aus?

Während du dein Gehirn richtig arbeiten hörst, fällt dir wieder ein, dass Andrea vor dir steht. Du erwachst aus deinen Gedanken und siehst das Mitleid in ihren Augen. „Sollen wir vielleicht mit einer Blutentnahme und einem EKG beginnen?" „Ja, das wäre vielleicht eine gute Idee", sagst du erleichtert und gedemütigt zugleich. Du hattest dir geschworen, nicht einer dieser Assistenzärzte zu werden, die sich von Krankenschwestern zeigen lassen, wo es langgeht. Vermutlich nur ein einmaliger Moment der Schwäche. Fehlanzeige. Die Krankenschwestern führen dich durch den ersten Tag, du bist wie ein Traumtänzer. Bei der Nachmittagsbesprechung bemerkst du dann erst richtig, was passiert ist. Beim Rapportieren kommst du mehrmals ins Stocken, die Nachfragen zu deinen Patientinnen muss der zuständige Oberarzt beantworten, du blamierst dich bis auf die Knochen.

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Demotiviert und demoralisiert gehst du nach Hause, um 23:15 Uhr. Zweiter Tag. Am Morgen kommt dein Oberarzt wutentbrannt in dein Büro und begrüßt dich freundlich: „Du Idiot. Frau Wegner hatte gestern eine Lungenembolie und du hast nichts gemacht. Was ist eigentlich deine Aufgabe hier?" Frau Wegner? Ich hatte doch ein EKG angeordnet … und vergessen es zu visieren. Scheiße. Der Oberarzt hat das EKG dabei und schmeißt es dir vor die Füße. „Rechtsherzhypertrophie, nicht vorbeschrieben, Dyspnoe, D­-Dimere. Klarer geht's nicht." Jetzt hast du verschissen. Dass bei den anderen 17 Patienten alles gut gelaufen ist, gerät zur Randnotiz.

In den nächsten Wochen lernst du langsam, wie man eine Station zu führen hat. Jetzt traust du dich, auch mal der Krankenschwester Paroli zu bieten und kannst schon während des Tages eventuellen Nachfragen des Chefs zuvorkommen. Das erste Jahr geht zu Ende, du gewinnst an Zuversicht und Selbstvertrauen, bist zufrieden. Zwar verbringst du 85 Prozent deiner Zeit hinter dem Computer, aber der Chef hat dir versprochen, dass du ab dem zweiten Jahr viel mehr praktische Dinge machen darfst. Leere Worte. Sogar die Pleurapunktionen bleiben dir versagt, weil du dem Pneumologen nicht genug in den Arsch gekrochen bist. Deine chirurgischen Kollegen machen sich über dich lustig, weil du der König unter den Bürokraten bist. „Ey Schmitz, wir haben da 'ne Platzwunde auf'm Notfall und momentan keinen PJler. Willste mal Nähen lernen?" Sein Lachen stockt, als du „Lern erstmal, ein EKG zu lesen, du Metzger" sagst.

„Guck mal, da ist der Arzt!", hörst du mit einem neuen Drink in der Hand hinter dir die Stimme. Du drehst dich um und siehst Inga mit zwei Freundinnen. Ihr lüsterner Blick macht dich im ersten Moment stolz, bis dir der Grund dafür bewusst wird. Du kannst es ihnen nicht übel nehmen. Sie können nicht wissen, wie viele Schikanen du heute von deinen Oberärzten ertragen musstest. Dass du dich manchmal wie eine Prostituierte fühlst, weil du Drecksarbeit machen musst, auf die eigentlich niemand Lust hat. Warum tut sich das ein Mensch an? 60 h/Woche, ständig unzufriedene Vorgesetzte, gar nicht mal so gutes Gehalt, Nachtdienste ohne Ende, Ärsche lecken … Alles nur für etwas gesellschaftliche Anerkennung?


Foto oben: Imago/Westend61