Mit einer alkoholkranken Mutter aufzuwachsen, ist eine widerliche, klischeehafte Angelegenheit
Illustration: Sarah Schmitt

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Mit einer alkoholkranken Mutter aufzuwachsen, ist eine widerliche, klischeehafte Angelegenheit

Wenn ich krank bin, kauft sie mir Sticker und Süßigkeiten. Ich mag es, krank zu sein. Wenn sie mich schlägt, vergisst sie es.

Die Richtlinien in Deutschland zur Behandlung von Alkoholkranken wurden geändert—hieß es bisher, dass Abstinenz die einzige Möglichkeit ist, wird nun mehr kontrolliertes Trinken angestrebt.

Ich kenne eine Menge Alkoholiker. Gewohnheitstrinker, Rauschtrinker: Ich kenne viele Kinder von Alkoholikern. Ich bin selbst eines.

Betroffenenberichte haben, besonders seit es das Internet gibt, etwas Lächerliches anhaften. Irgendwo zwischen Sensationsgier und Klickheischerei sitzt man und liest und überscrollt die öden Teile. Schämt sich dafür, klickt kurz auf ein Meme, verschickt den Link, irgendetwas zwischen angerührt, peinlich berührt und gelangweilt.

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Meine Mutter trank schon immer viel. Als sie jung war, war das normal, man nannte sie die Königin. Wenn sie den Raum betrat, war sie der Mittelpunkt. Meine Eltern machten Musik, reisten durchs Land. Schlimmer wurde es erst nach der Trennung von meinem Vater. Sie liebte mich, aber war überfordert. Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist: Es ist Weihnachten, und ich weine. Ich weine, weil sie mich geschlagen hat, ich sitze am Gang und denke: dass sie mich seit Wochen jeden Tag geschlagen hat, und dass ich mir gewünscht hatte, wenigstens an diesem einen Tag nicht geschlagen zu werden.

Meine Mutter ist Lehrerin, später Beamte. Wenn ich krank bin, kauft sie mir Sticker und Süßigkeiten. Ich mag es, krank zu sein. Wenn sie mich schlägt, vergisst sie es. Ich schließe mich in meinem Zimmer ein, sie steht vor der Tür und beschimpft mich, stundenlang. Morgens ist alles wieder gut. Morgens kauft sie mir meine Lieblingsschokolade. Wenn ich sie darauf anspreche, was passiert ist, sagt sie: „Du lügst. Ich würde dich nie schlagen. Dafür hab ich dich viel zu lieb." Daran glaubt sie bis heute.

Ihre Krankheit wird schlimmer, als sie älter wird. Sie geht nach wie vor zur Arbeit, das hält sie am Laufen. Ich fürchte mich vor den Wochenenden, ihrem Urlaub. Urlaub bedeutet, dass sie auch tagsüber trinkt. Sie kann ohne mich oft nicht mehr alleine laufen. Als sich ihr Zustand verschlechtert, bekommt sie Wahnvorstellungen, Paranoia. Sie sprüht Insektenspray in den Türschlitz unserer Obermieter, weil sie überzeugt ist, dass die uns Gift ins Wasser mischen.

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Ich erinnere mich, dass ich an einem Sonntag ins Wohnzimmer komme. Es ist ein großes, helles, schönes Wohnzimmer, alles ist top aufgeräumt, vor den Nachbarn wird nichts gezeigt. Sie sitzt auf der Couch und starrt den Wandschrank an. Er ist aus dunklem Holz, das im Sonnenlicht glänzt. „Du", sagt sie, „der Schrank, das seh ich jetzt erst, er ist aus Gold. Wenn wir die Lackierung abkratzen, ist er ganz aus Gold." Sie stellt Regeln auf und vergisst sie. Wenn ich eine halbe Stunde zu spät komme, beschimpft sie mich als Prostituierte. Ich bin 16, sie 43. Sie wirft mir vor, dass ich esse. Sie wirft mir vor, dass ich nicht esse. Wir gehen in teure Restaurants, sie trinkt vor und nach dem Essen. Sie sagt mir, ich sei fett. Ich höre auf zu essen. Ungefähr ein Jahr lang esse ich ein halbes Brötchen, einen Salat und sechs Äpfel am Tag. Wenn ich mehr esse, bestrafe ich mich.

Ich bin 17 und fahre mit einer Freundin in den Urlaub. Als ich zurückkomme, ist sie im Krankenhaus: Sie hat in meiner Abwesenheit ein Delirium tremens erlitten. Eine Art epileptischer Anfall, der bei Gewohnheitstrinkern durch Entzug ausgelöst wird, und wäre beinahe gestorben. Sie hatte Wahnvorstellungen, dass ich gestorben wäre, zog sich schwarze Sachen an und lief von Friedhof zu Friedhof, um meine Beerdigung zu finden. Ich besuche sie im Krankenhaus, auf der geschlossenen Station. Sie ist zum ersten Mal nüchtern, seit Jahren. Ich erkenne sie nicht wieder, es ist, als ob ich statt eines Monsters zum ersten Mal tatsächlich wieder so etwas wie eine Mutter habe. Sie malt mir eine Eule.

Es ist Herbst. Sie kommt zurück und beginnt wieder zu trinken. Den ersten alkoholfreien Sekt, den sie mitbringt, leere ich in der Spüle aus. Sie schlägt mich. Wir sitzen in einem Restaurant, sie will Wein bestellen, ich bitte sie, es nicht zu tun. Trink, wann du willst, aber bitte nicht, wenn ich da bin, bitte ich sie. Sie bestellt Wein. Ich gehe.

Ich begreife, dass der Alkohol wichtiger ist als ich. Ich begreife, dass ich ihr nicht helfen kann. Ich begreife, dass die Sucht stärker ist als ich und immer sein wird. Ich bin 18. Ich ziehe aus.

Alkoholismus ist eine widerliche, klischeehafte Angelegenheit. Ich habe vor langer Zeit aufgegeben, irgendjemandem helfen zu wollen. Meine Mutter arbeitet noch immer. Ihr Knie ist kaputt, ihr Magen ist kaputt. Sie gesteht sich noch immer nicht ein, dass sie überhaupt krank ist. Ich leide bis heute unter den Folgen dessen, was sie sich und damit mir angetan hat.