Zeichnungen auf Schwimmwesten zeigen das Leben von Flüchtlingen vor der Flucht

Beim Wort “Flüchtling” schiessen uns meist Bilder vom Elend in überfüllten Camps, von überfüllten Booten oder von Menschen, die ihre Tage an Bahnhöfen verbringen durch den Kopf. Dabei vergessen wir oft, dass diese Menschen vor ihrer Flucht ein ganz normales Leben geführt haben—wie du und ich.

Die Schweizer NGO “The Voice Of Thousands” hat deswegen mit Unterstützung von “Borderfree” und “Schwizerchrüz” das “Project Life Jacket” initiiert, das von der Werbeagentur Jung von Matt umgesetzt wurde. Bei diesem hat ein Illustrator auf Schwimmwesten, die für die Überfahrt nach Lesbos verwendet wurden, die einzelnen Lebensgeschichten der Menschen vor der Flucht gezeichnet. Die Zeichnungen zeugen vom Leben vor den Kriegen, bevor sie sich eine Schwimmweste überstreiften und mit dieser auch das Stigma “Flüchtling”. Das Projekt soll das Flüchtlingsdrama wieder auf die Agenda von Politikern, Medien und allen EU-Bürgern bringen und wird mittlerweile von über 20 Firmen, Organisationen und Vereinen aus ganz Europa unterstützt.

Videos by VICE

Project Life Jacket hat uns Fotos von Syrerinnen und Syrern zusammen mit ihren Erzählungen von ihrem Leben vor der Flucht zur Verfügung gestellt, damit auch wir die Geschichten der Zeichnungen auf den Schwimmwesten erzählen können.

Abdel Azeez Dukhan, 21 – Fotograf aus Homs

“Zu meiner Familie gehören ausser mir selbst noch mein Vater, meine Mutter, zwei Brüder und eine Schwester. Vor dem Krieg lebten wir in sehr ärmlichen Verhältnissen, waren aber—Gott sei es gedankt—recht zufrieden. Ich spielte gerne und oft Schach, auch wenn mich reine Mathematik eigentlich mehr interessierte. Ich war der Captain einer Fussballmannschaft in der zweiten Liga, konnte aber nicht immer mitspielen, weil gerade die Mittelschule begann und der Krieg ausbrach.

In Syrien hatte ich einen Computer, aber es gab kein Internet. Das gab’s dann in der Türkei. Natürlich war es auch in der Türkei sehr hart. Aber mein Bruder kaufte mir einen Laptop und sagte mir, wenn ich etwas lernen wolle, dann könne ich das tun. Einer meiner Freunde, Mahmoud Marawan, zeigte mir Photoshop und erklärte mir, dass man es für Gestaltung brauchen könne. Ich begann, Photoshop zu lernen, die Farben und alles, von einem Kanal zum andern und von einer Website zur andern.”

Abeer Alhariri, 25 – Lehrerin aus Daraa

“Mein Vater war selber Supervisor. Er hat sich sehr dafür eingesetzt, dass wir alle eine gute Bildung erhalten. Eine meiner Schwestern studiert Mathematik und eine andere hat ein Studium in Pharmazie abgeschlossen. Eine Dritte hat einen Bachelor-Abschluss in technischer Informatik. Ich selbst habe an mein Englischstudium noch das Lehrerdiplom angehängt und kurz an Schulen unterrichtet. Aber dann ist der Krieg ausgebrochen. Es gab keine sicheren Orte mehr, an denen ich unterrichten konnte.

Nach der Hochzeit wohnten mein Mann und ich sechs Monate in seinem Haus, das er sich selbst erarbeitet hat. Als die Situation auch da zu gefährlich wurde, zogen wir in eine andere Region. Nach zwei oder drei Monaten hörten wir, dass unser erstes Haus zerstört worden war. Da war ich schwanger mit meiner Tochter. Ich war schockiert, denn alles, woran er während fünf Jahren gearbeitet hatte, war plötzlich weg. Ich hoffe, dass meine Tochter ein besseres Leben haben kann. Sie ist die einzige, die ich habe. Bevor ich mit ihr schwanger war, hatte ich eine Totgeburt. Sie sagten mir, dass die giftigen Stoffe in der Luft, die von den Bomben kommen, dem Fötus geschadet haben.”

Ghalia Hassino, 48 – Mutter und Hausangestellte aus Aleppo

“Wir hatten nicht nur ein, sondern sogar zwei Häuser und zwei Gärten. Das eine hatten wir vermietet und im anderen lebten wir selber. Es war ein grosses Haus in einer guten Nachbarschaft und mein Mann, ich selbst und unsere Kinder hatten Jobs und alles, was wir brauchten.

Vor einigen Jahren erkrankte mein Mann. Er wurde immer blasser und wir dachten zuerst, es sei Hepatitis, aber die Ärzte fanden einen Tumor in seinem Magen. Sie konnten das nicht operieren und ein privates Spital konnten wir uns nicht leisten. Nach zwei Monaten rief mich der Doktor zu sich und brachte mich in das Zimmer meines Mannes. Sie zeigten mir, wie ich die Bandagen wechseln, die Wunden reinigen und seinen Bauch abtasten solle. Für fast acht Monate wurde ich bei uns zu Hause seine Krankenschwester bis zu seinem Tod.

Mein Mann hatte immer volles Vertrauen in mich. Ich konnte meine Arbeit und mein Einkommen selber planen und verwalten. Ich arbeitete als Haushaltshilfe bei anderen Leuten. Ich habe keinen Schulabschluss und konnte deshalb keine Bürostelle kriegen. Die Leute, bei denen ich arbeitete, behandelten mich gut. Es waren Christen und Muslime. Ich arbeitete nicht nur für eine, sondern für vier, manchmal sogar fünf Familien gleichzeitig. Sie wollten mich nie nach Hause gehen lassen, also blieb ich abends bei ihnen. Sie liessen mich Kaffee machen und wir sassen zusammen.”

Ayish Sobhi Al-Dakheel, 47 – Anwalt aus Deir Al-Zour

“Lass mich dir einen Eindruck geben von Deir Al-Zour: Zu Zeiten des Kaliphen Harun Al-Rashid haben viele Schriftsteller über Deir Al-Zour geschrieben. Leute reisten von überall her nach Al-Raqqah. Das Gebiet, das man durchreiste, war voller Bäume. Manchmal konnte man nicht mal die Sonne sehen, so viel Bäume gab es in Deir Al-Zour.

Früher ging ich in Anzug und Krawatte arbeiten. Ich habe einen Abschluss in Jura und als Geschäftsführer eines Elektrizitätsunternehmens gearbeitet. Doch die beste Zeit war für mich immer der Ramadan. Schon als Kind hat uns unser Vater an den Fluss mitgenommen und uns Schwimmen beigebracht. Nachdem ich geheiratet hatte, kaufte ich mein eigenes Auto, mit dem wir gerne Ausflüge machten. In den Ferien ging ich mit meinen Kindern zum Fluss und zum Tempel von Deir.

Wir besuchten Freizeitparks oder gingen für eine Woche nach Al-Latheqia und mieteten ein Ferienchalet am Meer. Wir haben praktisch jeden Sommer ein Resort in Syrien besucht. Manchmal, wenn meine Frau und ich zum Wandern gefahren sind, kamen wir zurück und haben unsere Kinder im Büro an meinem Computer gefunden. Wenn ich gefragt habe, ob jemand an meinem Computer gespielt hat, haben sie immer gesagt: ‘Wir nicht!’. Wir haben damals wie Könige gelebt. Ich glaube nicht, dass ich diese Tage jemals zurückhaben kann.”

Abdel Kareem Darweesh, 22 – Barbier, Staatsangestellter als Mechaniker, Aushilfskraft aus Harran al-‘Awamid

“Als ich jünger war, hatte ich grosse Ambitionen. Ich habe Autos repariert und davon geträumt, ein eigenes zu haben. In unserem Haus habe ich alles repariert, sogar elektrische oder sanitäre Geräte. Später erhielt ich dank meiner Erfahrung als Mechaniker einen Job beim Staat. Aber das Geld reichte nicht aus und ich musste mir einen zweiten Job suchen. Ich habe manchmal als Fahrer gearbeitet und dafür die Fahrprüfung gemacht. Mit einem kleinen Suzuki belieferte ich den Markt mit Gemüse. Weil ich meinen Verwandten die Haare geschnitten hatte, habe ich auch mal als Barbier gearbeitet. Ich hatte sogar einen Salon in Syrien.

Die Verlobung mit meiner Frau war einer der schönsten Momente meines Lebens. Aber auch, dass ich schwimmen lernen durfte. Als ich jünger war, gab es einen Club für Staatsangestellte, wo ich mit meinem Vater hinging und schwimmen lernte. Als ich älter wurde, habe ich mir selber beigebracht, längere Distanzen zu schwimmen. Ich bin lange Distanzen im Meer geschwommen und lernte zu tauchen, um ein besserer Schwimmer zu werden. An den Wettkämpfen im Club habe ich aber nicht teilgenommen. Ich wollte lieber den Meeresboden beim Tauchen sehen.”

Farooq Saadi 39 – Tierarzt aus Al-Shaykh Maskin

“Wir lebten in einer ländlichen Gegend, in einem Landwirtschaftsgebiet par excellence. Die Region ist voller Obstgärten und ist für ihr Sommergemüse bekannt. Wir bauten die verschiedensten Gemüse an: Tomaten, Gurken, Bohnen, Peperoni, Auberginen, alles. Man sagt, die Regionen Sahl oder Al Mouhital seien wie Ameisenhügel, weil alle immer so geschäftig arbeiten.

Als wir jünger waren, spielten wir den ganzen Nachmittag lang Fussball, bis Sonnenuntergang. Manchmal gingen wir zurück zu unserer Schule, kletterten über den Zaun und spielten auf dem Schulhausplatz.

Nach meinem Abschluss in Veterinärmedizin arbeitete ich auf einer Farm und war für die Gesundheit der Tiere zuständig. Der Erwerb brachte meine kleine Familie gut durch. Es gab keine Ferien, nicht einmal für einen Tag. Klar fühlte man sich körperlich müde, aber die Arbeit bereitete auch Spass und Freude.

Als ich heiratete, konnten wir wegen der Probleme im Land keine grosse Feier machen. Nur meine Mutter, die Braut und meine Schwestern waren da.”

Ahmad Hassino, 52 – Schreiner, Erfinder, Bauarbeiter aus Aleppo

“Als ich mich dazu entschieden habe, nach Europa zu gehen, habe ich nicht über finanzielle Vorteile nachgedacht. Ich bin ein praktischer Mensch. Ich hasse es, herumzusitzen und liebe die Arbeit. Ich bin mir sicher, dass ich bis zum letzten Moment meines Lebens arbeiten werde.

Als Kind habe ich sogar in meiner Freizeit immer irgendwelche Dinge repariert, zum Beispiel kaputte Ventilatoren. So Iernte ich mit jeglichen mechanischen Sachen umzugehen. 1979 habe ich dann gleich vier Meistertitel erworben. Doch das Schreiner-Handwerk ist eine Herzensangelegenheit für mich, mein Leben und meine Seele.

Möbel bauen ist nicht nur ein Beruf, es ist eine Kunst. Wer mit Möbeln arbeitet, kann mit allem arbeiten. Weil ich aber so vielseitige Ausbildungen hatte, konnte ich gleich drei Läden betreiben: ein Möbelgeschäft, eine Schmiede und eine Aluminium-Werkstatt, alle in der Region Bab al Hawa. Den ersten habe ich 1983 aufgemacht. Alle meine Söhne arbeiteten mit mir in ähnlichen Bereichen: als Bauarbeiter, Elektriker und Schmied. Sie betrieben die anderen beiden Läden, die ich gegründet hatte und wir hatten so ein erfolgreiches Familienunternehmen auf die Beine gestellt.”

Mohammed Buro, 21 – Soldat und davor Angestellter einer Autofabrik aus Aleppo

“Die Schule besuchte ich bis zur vierten Klasse, dann begann ich zu arbeiten. Ich montierte Innenausstattungen für Autos. Da ich dienstpflichtig war, wurde ich gezwungen, zur Armee zu gehen. Ich habe vom Moment an, als ich die Schule verliess, bis zu meinem Eintritt in die Armee immer gearbeitet. Meine Freunde sah ich nicht mehr als zwei, drei Stunden pro Woche.

Mit ihnen ging ich ins Krafttraining. Meist trainierte ich aber nur eine Stunde oder noch weniger und ging dann nach Hause. Ich sah auch viel fern, Serien, Komödien, Dramen und solches Zeug.

Als wir in der Armee schikaniert wurden, beschloss ich, abzuhauen. Ich blieb noch zwei Wochen in Syrien und reiste dann in die Türkei. Dort blieb ich, begann zu arbeiten und holte später meine Familie. Als sie ankamen, arbeitete ich noch sieben oder acht Monate weiter. Ich half in Kebab-Shops aus und grillierte Hähnchen und Lamm.”

Ismail Nerabani 36 – Französischlehrer aus Al-Raqqah

“Wissen und Bildung haben mich seit meiner Kindheit interessiert und so haben mich mein Vater und mein älterer Bruder—Gott habe sie selig—zum Studium ermuntert. Die Liebe zur französischen Sprache hat mein ganzes Leben beeinflusst, schliesslich ist sie die Sprache der Liebe. Ich lehrte danach aber nicht an der Universität, sondern in Sekundar- und Privatschulen und Institutionen. Als der Krieg ausbrach, verlor ich meine Stelle, aber meine Frau arbeitete weiter im technischen Dienst des Staates.

Wir waren sehr glücklich und zufrieden mit unserem Leben. Nichts fehlte, und wir gingen sogar ab und zu in Restaurants. Mein Hobby war Basketball. Tennis liebte ich auch sehr, spielte es aber nicht selbst. Zu Hause hatte ich eine Bibliothek. Am liebsten las ich philosophische Texte, aber auch Literatur und Wissenschaft liebte ich sehr. Ich legte immer Musik auf zum Lesen. Leider ist das alles nun weg.

Musik bedeutet mir sehr viel. Ich spielte sogar Klavier auf der Tastatur meines Computers. Es gibt ein spezielles Programm dafür. Niemand hat mir beigebracht, wie man spielt, aber ich habe ein gutes Gehör und spielte ‘Love Story’, ‘Für Elise’ oder auch ‘Ellias Al Rahbani’, ‘My Blood, my tears and my smile’ oder ‘The night’—ich hatte eine ganze Menge solcher Stücke drauf.”

VICE Schweiz auf Facebook und Twitter.