​Das denkt ein Psychiater über dich, wenn du Menschen vor die U-Bahn stoßen willst

Tagträumerei hilft wahrscheinlich nicht nur mir dabei, die weniger spannende Momente des Lebens zu überstehen. Vor dem inneren Auge mehr oder minder realistische (aber irgendwie auch verbotene) Situationen durchzuspielen, ergibt idealerweise unterhaltsames, nicht jugendfreies Kopfkino.

So zumindest die Theorie, die Realität weicht davon leider wie so oft ab. Zumindest bei uns in der Redaktion sind wir uns einig, dass es irgendwie in der menschlichen Psyche verankert sein muss, genau das zu denken, was gerade als sozial nicht akzeptiert oder extrem gelten würde—und daher eher als unangenehm und irgendwie falsch empfunden wird. Gut, wir sind vielleicht nicht wirklich repräsentativ, aber als wir auch außerhalb von VICE gehört haben, dass Menschen sich gern vorstellen, andere vor die U-Bahn zu stoßen, im Theater laut loszuschreien oder mit Ohrenstäbchen durch das Trommelfell zu stechen.

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Deshalb wollte ich von einem Experten wissen, ob ich und der Rest von uns unfreiwilligen Tagträumern als lupenreine Psychopathen durchgehen. Dr. Michael Leodolter, der als Psychiater und Psychotherapeut in Wien arbeitet, gibt jedenfalls schon zu Beginn unseres Gespräches Entwarnung und umschreibt derartige Gedanken mit dem Begriff „Fantasietätigkeit”.

„Wir werden von externen, visuellen Faktoren überflutet. Vor allem visuelle Medien wie Filme spielen hier eine Rolle. Dass mitunter gewalttätige Situationen im Kopf durchgespielt werden, ist in diesem Zusammenhang normal”, sagt Dr. Leodolter.

Das Phänomen gibt es laut ihm aber auch ohne die Unterfütterung durch visuelle Medien, wobei dann dennoch Dinge vorkommen und vor dem geistigen Auge wieder hochkommen, die irgendwo bereits einmal in ähnlicher Form erlebt wurden.

„In Kombination mit der Fantasietätigkeit eines jeden Menschen gibt es auch die Angstlust. Das heißt, dass die Gedanken daran, dass man jemanden vor die U-Bahn stoßen oder auch selbst gestoßen werden könnte oder jemand anderer jemand anderen stößt, in der Aggressions-Konsumwelt, in der wir leben, quasi vorgesehen sind”, so Dr. Leodolter. „Das ist quasi das Ventil, über das im Alltag konsumierte Eindrücke verarbeitet werden.”

Sich verbotene Situationen auszumalen ist das Ventil, über das im Alltag konsumierte Eindrücke verarbeitet werden.

Ob man selbst bei diesen Gedanken eher als Opfer oder als Täter auftritt, sei eher nebensächlich und nur eine andere Ausformung der gleichen Gedanken. Was heute anders ist als früher, ist laut Dr. Leodolter hingegen eine Enttabuisierung der eigenen Gedankenwelt.

„Heute ist es akzeptierter, offen über schmutzige Gedanken im Zusammenhang mit Gewalt oder Sex zu sprechen. Der offene Umgang mit Pornografie oder gewalttätigen Medien zeigt das am besten”, meint er.

Diese Enttabuisierung äußere sich einerseits dadurch, dass überhaupt über diese Themen geredet wird. Andererseits aber auch durch Dating-Apps wie Tinder, deren offene Nutzung vielen vor einigen Jahren wohl noch zu peinlich gewesen wäre.

Diejenigen, die nicht nur in der Fantasie, sondern auch in der Realität gewalttätig oder menschenverachtend agieren, haben in der Regel keine allzu schlechten Gedanken dabei, sondern fühlen sich laut Dr. Leodolter im Recht und noch dazu gut dabei. Nur daran zu denken, ist also keinesfalls ein Indikator dafür, die Fantasie auch umzusetzen. „Schamlosigkeit und Exhibitionismus haben zugenommen. Dass jemand diese Gedanken gesteht, ist neu. Nicht aber die Gedanken selbst”.

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Titelfoto: IMG_2709 | photopin | (CC BY 2.0)