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Ein Gespräch mit Dr. Motte über die Street Parade, Kommerz-Techno—und vor allem Liebe und Grosszügigkeit

Love-Parade-Gründer Dr. Motte kehrt für die Jubiläumsausgabe der Street Parade nach Zürich zurück. Ein Gespräch mit viel Hippie-Attitüde.
Foto von Dr. Motte

Mit der Gründung der Love Parade 1989 trug Matthias Roeingh, besser bekannt als Dr. Motte, massgeblich auch zum Entstehen der Street Parade bei. Nun kehrt der Berliner DJ zum 25. Jubiläum unserer Techno-Demo nach Zürich zurück—an der zweiten Ausgabe war er bereits Ehrengast. Ich nehme die Gelegenheit wahr, um mit Dr. Motte über die Parade, Techno und Liebe, Friede, Freude und Grosszügigkeit zu philosophieren.

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Noisey: Dieses Wochenende findet die 25. Ausgabe der Street Parade statt—mit was für einem Gefühl kommst du nach Zürich?
Dr. Motte: Ich freu mich immer, wenn ich auf Paraden in anderen Ländern auflegen kann. Dass die Love Parade als Inspiration für ähnliche Veranstaltungen in anderen Städten dient, war von anfang an unsere Vision. Mir ist es ein wichtiges Anliegen, dass wir auch nach 25 Jahren noch für Liebe, Friede, Freude, Toleranz und Grosszügigkeit einstehen.

Bist du stolz darauf, wie die Street Parade heute aussieht?
Stolz ist, glaube ich, das falsche Wort. Ich habe dazu nichts beigetragen, das waren andere, die die Street Parade zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Es entwickelt sich natürlich alles weiter, der Zeitgeist ist ein anderer und die jüngere Generation ist mit der elektronischen Musikkultur ganz selbstverständlich aufgewachsen. Wir waren damals diejenigen, die den Grundstein für dieses tolle, bunte Treiben gelegt haben.

Ich finde es toll, wie Generationen sich heute wie damals in der Musik auf Augenhöhe begegnen und miteinander zu elektronischer Musik tanzen, was wiederum eine friedensbildende Massnahme ist. Tanzen ist nonverbale Kommunikation, die darüber hinausgeht, was man mit Worten ausdrücken kann. Wenn man sich dabei noch im Einklang mit den Melodien und dem Rhythmus befindet, gibt es doch eigentlich nichts Schöneres. Klar, hat sich die elektronische Musik in den letzten 30 Jahren sehr professionalisiert und weltweit grosse Erfolge auf allen Ebenen gefeiert. Dieser Erfolg bedingt halt auch eine Kommerzialisierung—das lässt sich aber nicht aufhalten. Was aber auch etwas Schönes an sich hat: Immer mehr Menschen tanzen.

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Dadurch, dass die Street Parade Menschen zusammenbringt, hat sie also automatisch einen Teil vom Grundgedanken der Love Parade durch die Jahre beibehalten.
Als Veranstalter einer Parade oder Demonstration kannst du natürlich nicht viel mehr machen, als ein Angebot zu schaffen, über das man reden oder zu dem man tanzen kann. Ich kann niemandem meine Vorstellung von Liebe, Friede, Freude, Toleranz und Grosszügigkeit in­dok­t­ri­nie­ren. Das muss jeder für sich erfahren.

Natürlich ist alles heute viel grösser als damals.
Wir waren in den 90ern viel mehr in Clubs unterwegs. Heutige Grossveranstaltungen entsprechen eigentlich gar nicht unserer damaligen Vorstellung von Techno—wir wollten es viel elitärer und intimer haben. Das Besondere, das Anderssein zelebrieren, wir haben einfach gemacht, was wir wollten: zu dem neuen Sound tanzen und ihn leben. Es gab damals nicht die Frage, ob und wie du zur Szene gehörst. Du warst die Szene und hast sie gelebt. Und ich lebe das immer noch: Liebe, Friede, Freude, Toleranz und Grosszügigkeit.

Gibt es das heute noch—dass man alles für elektronische Musik gibt?
Ja, das gibt es auch heute noch. Wenn ich Berlin beobachte, was wir für Clubs haben und was hier alles passiert—dann kann ich sagen, dass es das noch gibt. Hier findest du die Geniesser, die Verrückten, die sich immer neu in Schale schmeissen, jene, die Techno einfach leben und jene mit der Punk-Attitüde, die einfach ihr Ding machen. Die habt ihr in Zürich sicher auch. Alle haben das Bewusstsein: “Ich mach mein Ding und das ist gut so.” Und man lebt dann Liebe, Friede, Freude und Grosszügigkeit vor. Eine Demokratie sollte aushalten können, dass die elektronische Musikkultur sich einmal im Jahr so offen präsentiert und auslebt. Sowas mit Gesetzen einschränken zu wollen finde ich höchst bedenklich.

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Gesetze sind ein gutes Stichwort: Denkst du, mit der heutigen Bürokratie und der heutigen Gesellschaft wäre es noch möglich eine Love oder Street Parade loszutreten—angenommen es gäbe sie noch nicht?
Das kann ich nicht sagen. Wir waren damals natürlich nicht so medial orientiert, wie wir es heute sind. Wir haben es damals einfach gemacht, für Freunde mit Freunden. Heute wollen viele nur noch entertaint werden. Ich habe kürzlich einen sehr spannenden Vortrag von Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer gesehen, eine Koryphäe der Hirnforschung, der nachgewiesen hat, dass Menschen ihre sozialen Skills verlieren, wenn sie zu viel über Smartphones, Computer etc. kommunizieren und nicht mehr genug direkt mit Menschen interagieren.

Gleichzeitig wird es mit der steigenden Reglementierung und der Fülle an Gesetzen immer schwieriger, etwas Kreatives zu tun. Aber das Grundgesetz sagt, jeder darf sich unter freiem Himmel versammeln. Dafür braucht man gar keine politische Hintergründe und das hat die Love Parade bewiesen: Ohne dass wir das Ziel bewusst verfolgt hätten, sind Millionen Menschen nach Berlin gepilgert, um mit Liebe, Friede, Freude, Toleranz und Grosszügigkeit zusammenzukommen und zu tanzen. Und das war letztendlich eine völkerverbindende und friedensbildende Massnahme.

Love Parade 1998 | Foto von Wikimedia

Musik verbindet, könnte man sagen.
Genau. Die Love Parade und die Street Parade sind Feste der Menschheit. Es macht mir immer wieder Freude, zu sehen, dass sich Menschen nicht immer bekriegen müssen. Gerade wenn so viele Leute zusammenkommen, findet auf spiritueller Ebene eine Energieerhöhung statt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man so unbeabsichtigt tranceartige Zustände erreicht, die über das hinausgehen, was man allgemein als Trance versteht. Es passieren Dinge, die man mit Worten nicht beschreiben kann. Es kann für einen der schönsten Tag des Lebens werden.

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Was spielt dabei die Kommerzialisierung eines solchen Events für eine Rolle? Hindert es einen daran, sich frei zu machen?
Zum einen ist Werbung leider allgegenwärtig. Zum anderen muss man sich auch fragen, inwiefern sie der Sache dient. Also der Sache Liebe, Friede, Freude, Toleranz und Grosszügigkeit. Sicher stört es einige, dass alles mit Werbung versehen ist—vielen wird es aber auch einfach egal sein, Hauptsache die Musik läuft. Man könnte aber auch darüber diskutieren, ob man sich von der Industrie löst und die Geldfrage mit Crowdfunding beantwortet.

Was sagst du eigentlich zu Gegnern der Street Parade?
Wenn die Street Parade wirklich gross in der Kritik stehen sollte, müsste man einfach mal eine unabhängige Studie beauftragen und abwägen wie grosse die Einnahmen und die Ausgaben sind. Ich glaube, der Wert, den die Street Parade gegen aussen trägt—wie viele Leute sie in die Stadt bringt und der weltweite Werbeeffekt—ist unbezahlbar. Überlegt doch mal, wie teuer eine weltweite Image-Kampagne über 25 Jahre wäre. Da muss ich sagen, sind die realen Kosten Peanuts. Wenn wir dazu noch ein Zeichen für Liebe, Friede, Freude und Grosszügigkeit setzen wollen, sollten wir auch noch an Umweltschutz und Recycling denken und darauf achten, wie wir die Stadt nach der Parade hinterlassen. Das hat nämlich auch etwas mit Respekt gegenüber dem Gastgeber zu tun.

Lass uns ein wenig über Musik reden. Welche Rolle nimmt Techno in der aktuellen Welt der elektronischen Musik ein?
Wenn man die elektronische Musik als Ganzes sieht, haben wir eine grosse Vielfalt. Ich glaube, fast die Hälfte der Weltbevölkerung hört mittlerweile elektronische Musik. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass grosse Stadion-Events nach meiner Definition nichts mit Techno zu tun haben. Das hat für mich einfach wenig mit dem zu tun—ich will jetzt nicht altmodisch klingen—, was mich antreibt zu tanzen. Was mich interessiert, ist die Musik, die mir eine Form des Neuen, des Unbekannten, vorstellt und nicht das, was ich schon kenne.

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Findest du, dass die Kommerzialisierung der elektronischen Musik nur Negatives mit sich gebracht hat?
Nein, natürlich nicht. Nichts ist nur das eine oder das andere. Man kann sich ja aussuchen, ob man etwas hören will oder nicht. Deshalb blende ich einfach aus, was ich nicht mag und konzentriere mich lieber auf das, was ich mag. Jedem das, was ihn oder sie glücklich macht. Oder um es als Berliner mit dem alten Fritz zu sagen: “Jeder nach seiner Façon.“

Letzte Frage: Du hast dich letztens gegen den Bürokratiewahnsinn im Fall der Love-Parade-Opfer ausgesprochen. Wieso?
Es ist die grösste Unmenschlichkeit, die da gerade passiert: Jetzt wird denen nicht geholfen, die 2010 in Duisburg zu schaden gekommen sind. Natürlich unterstütze ich da eine Petition mit 350.000 Unterschriften, die eine Beschleunigung des Prozesses fordert. Vom zuständigen Gericht ist es arrogant und dekadent, zu sagen, dass sie sich nicht nach dieser Petition richten werden. Dann, bitte, haltet euch an die Gesetze und hört mal den Menschen zu.

Noch etwas: Trauerst du der Love Parade eigentlich nach?
Ja und nein. Es ist mittlerweile so lange her als ich mitgewirkt habe [2003], dass es nur noch eine blasse Erinnerung ist. Was aber schön zu beobachten ist: Egal wo ich bin, es kommen immer wieder Leute auf mich zu, um sich zu bedanken, dass wir das damals gemacht haben. Wenn ich sehe, dass wir bis heute Menschen erreichen und etwas zu ihrem Glück beitragen konnten, dann gibt es keinen Grund der Love Parade nachzuweinen. Wir leben jetzt und hier. The future is ours.

Dr. Motte macht am Samstag zwischen 13:30 und 14:30 Uhr das Opening der 25 Years Jubilee Stage und legt am Freitag im Hive auf. Er verbreitet auch auf Facebook nur Liebe, Friede, Freude, Toleranz und Grosszügigkeit.

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