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Sport

Ein amerikanischer Basketballprofi mitten im Ukraine-Konflikt

Kalaschnikows, Massenproteste und leergefegte Straßen. Die Basketballsaison eines amerikanischen Basketballprofis in der vom Krieg bedrohten Ukraine.
Foto: Privat

Als der amerikanische Basketballspieler Marcus Ginyard seinen Vertrag in der Ukraine unterschrieb, war ihm wohl nicht bewusst, was in den nächsten sieben Monaten auf ihn zukommen würde. Er konnte wohl auch nicht wissen, dass die im Südosten der Ukraine liegende Stadt Mariupol, in der er spielen würde, ein Ort ist, in dem sich nachts mit ​Kalaschnikows bewaffnete Jugendbanden auf den Straßen rumtreiben, um die Bewohner zu terrorisieren. Außerdem sollte seine neue Heimat in naher Zukunft einer der Schauplätze des Kampfes zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee sein.

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In einem Gespräch berichtet er mir über seine Erfahrungen und Erlebnisse, die er während seiner Zeit in dieser konfliktbelasteten Region gemacht hat.

Als der 27-jährige Zwei-Meter-Hüne gegen 22 Uhr in Mariupol eintraf, war es dunkel. Es herrschte Totenstille. „Ich war schon etwas überrascht, denn so etwas bin ich nicht gewohnt. Ich komme aus der Gegend um Washington DC und dort gibt es eigentlich, bis auf wenige Ausnahmen, keinen ruhigen Moment auf den Straßen", sagte Marcus. Mariupol dagegen schien jedoch wie ausgestorben.

Am nächsten Morgen begann er, seine neue Heimat zu erkunden, und obwohl die Stadt zum Leben erwacht war, war auch der zweite Eindruck eher ernüchternd.  „Am erschreckendsten waren die Gebäude. Es war eine Landschaft aus schmucklosem Beton und jedes Haus schien dem anderen zu gleichen. Einige waren abrissreif und hätten genauso leerstehen können."

Diese Ernüchterung ist in der Basketballwelt keine Seltenheit. Der Traum von einer professionellen Karriere in einem Basketballteam jenseits des Atlantiks lockt viele und treibt jedes Jahr neue Collegeabsolventen, die es nach ihren vier Jahren auf der Universität nicht geschafft haben, bei einem der 30 NBA-Teams unterzukommen, in die Ligen Europas oder Asiens. Oft ist der Ausgangspunkt ihrer professionellen Karriere keine Metropole, sondern nur eine triste Kleinstadt, die zufällig ein Basketballteam beherbergt.

Foto: Privat

Die persönlichen Erwartungen an diese Ligen sind hoch, doch wie auch in den USA ist die Konkurrenz groß und vor allem die limitierten Plätze, die es für ausländische Spieler in den Kadern der Ligen gibt, können oft dazu führen, dass Spieler eben in diesen kleinen Städten enden, wenn sie überhaupt einen Vertrag bekommen. Für die meisten ist dies der erste Kontakt mit dem Leben in einem anderen Land oder der aktiven Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur, die oft von dem so gewohnten abweicht.

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Doch Marcus ist kein Rookie mehr. Für ihn ist Mariupol Azovmash sein viertes professionelles Team nach dem Beenden seiner Collegekarriere an der University of North Carolina, für die auch Superstars wie Michael Jordan gespielt haben, bevor sie eine professionelle Karriere einschlugen.

Foto: Privat

Marcus machte seine ersten internationalen Erfahrungen in Bayreuth, wurde bekannt gemacht mit den Bayreuther Festspielen und fränkischem Bier. Von dort zog es ihn zu dem israelischen Team Ironi Nahariya und weiter zu dem polnischen Club Anwil Włocławek.

Nun war er in Mariupol angekommen. Verglichen zu seinen vorherigen Mannschaften und den Ländern, in denen sie sich befanden, schien es nicht viel anders zu werden als die Jahre zuvor. Auch hier gab es neben Basketball nicht wirklich viel zu tun. „Ab und zu gingen wir in ein Restaurant oder zum Bowlen, aber eigentlich verbrachte ich 90 Prozent meiner Zeit in meiner Wohnung oder der Trainingshalle." In den nächsten Monaten sollte sich aber zeigen, dass es doch einen Unterschied gab und zwar einen gravierenden: Die Ukraine stand am Rande eines (Bürger-)Krieges.

Trotz der Gewaltexzesse während der immer wieder auftretenden Proteste im Land durch die vom Präsidenten eingesetzten Berkut-Spezialeinheiten ging die Saison für Marcus und sein Team Azovmash weiter. Es waren jene Truppen, von denen im Nachhinein bekannt wurde, dass sie für unzählige Morde verantwortlich waren und Menschen auf offener Straße niedergestreckt haben. Der Konflikt schien also auch während seiner Zeit stetig an Fahrt aufzunehmen.

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Foto:  ​Ivan Bandura I ​​W​ikimedia​ I ​CC BY 2​.0

Mit den mittlerweile über die Grenzen von Kiew hinaus reichenden Protesten begannen auch die Spiele, die außerhalb von Mariupol ausgetrage wurden, immer unsicherer zu werden. Doch abgesagt wurden sie nicht. Nach einem Spiel in Kiew erhielten Marcus und seine Teamkameraden lediglich eine Warnung. „Uns wurde gesagt, dass wir uns vom Maidan fern halten sollten und ich habe diesen Ratschlag auch befolgt. Es war fast so, als würde die Situation für die ausländischen Spieler beschönigt, um sie beim Team zu halten." Im Land zeichneten sich immer mehr Gewalt und die ersten Todesfälle ab, doch weiterhin blieb die Situation um die Spiele und die Ignoranz bezüglich der Unruhen im Land seitens der ukrainischen Basketballliga bestehen und der Spielbetrieb wurde aufrecht erhalten.

Foto:  ​Wikimedia I ​CC BY-SA 3.0

„Es war schon ein sehr komisches Gefühl, einfach so zu tun, als ob nichts um uns herum passieren würde, doch irgendwie redeten wir uns ein, dass es auch etwas Gutes hatte. Unsere Spiele boten einen kurze Flucht vor den schrecklichen Ereignissen die in dieser Zeit vor sich gingen, auch wenn es nur für kurze Zeit war. Während wir spielten, waren alle einfach nur Sportfans, Konkurrenten auf einer sportlichen Ebene und Ukrainer (natürlich abgesehen von uns ausländischen Spielern). Doch wir hatten wirklich das Gefühl, dass während unserer Spiele eine Gemeinschaft entstand."

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Aber auch Marcus Freunde, die aus Mariupol stammten, waren davon überzeugt, dass die Dinge noch viel schlimmer werden und der Konflikt letztendlich eskalieren würde. Es sei alles nur eine Frage der Zeit, wie sie sagten.

„Es gab niemanden, mit dem ich sprach, der dem ganzen Konflikt optimistisch gegenüber stand. Es schien, dass der überwiegende Teil in Mariupol für Russland war und auch ihr starker Bezug zu diesem Land kam in Gesprächen immer wieder auf. Manche meiner Freunde waren sogar dort geboren. Es ging vielen aber auch einfach darum, loyal gegenüber dem Land aufzutreten, das die Ukraine schon seit langem wirtschaftlich unterstützte."

Nicht nur seine Freunde beschäftigte der Konflikt. Auch in seinem Team wurde sichtbar, dass es seine ukrainischen Mitspieler belastete. Noch im Sommer vor seiner Ankunft repräsentierten vier seiner Teamkameraden die Ukraine in einem Qualifikationsturnier für die Weltmeisterschaft. „Gerade diesen vier Spielern konnte man ansehen, dass der Konflikt und die Teilung ihres Landes sie sehr stark beschäftigte. Auch sie wollten eine Lösung des Konfliktes, jedoch sollte sie in erster Linie friedlich sein."

Das Leben in Mariupol war jedoch noch beim Alten. Die Straßen leerten sich früh und auch sonst nahm das Leben seinen Lauf. Jedoch schien die Situation für Marcus und seine drei amerikanischen Mitspieler mit dem immer näherrückenden Konflikt nicht mehr sicher und er fing an, sich Sorgen zu machen. Der Konflikt hatte Mariupol zwar noch nicht erreicht—jedenfalls gab es noch keine gewalttätigen Übergriffe wie in anderen Städten—, doch Marcus konnte spüren, dass bald etwas passieren würde. Dies veranlasste ihn dazu, die Stadt und somit auch die Ukraine zu verlassen. „Ich war nie wirklich in unmittelbarer Gefahr, dennoch gab es auch in Mariupol kurz nach unserem Verlassen die ersten größeren Proteste vor den Regierungsgebäuden der Stadt, wobei es zu  ​den ersten Toten kam." Sein Gefühl hatte ihn also nicht getäuscht.

Nach fast sieben Monaten in der Ukraine und immer heftiger werdenden Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Separatisten entschied sich die ukrainische Basketballliga, die Spiele auf unbestimmte Zeit auszusetzen. „Unser größter Sponsor, das Stahlverarbeitungswerk Azovmash stoppte alle Exporte nach Russland. Diese Exporte machten 85% ihres Geschäftes aus. Es war klar, dass unsere Gehälter dadurch auch indirekt beeinflusst wurden. Da auch keine Spiele mehr angesetzt waren, war es Zeit für uns zu gehen."

Die sich anbahnende Gefahr und drohende Gewalt machten die Flucht von Marcus und seinen Teamkameraden zu einer Situation, die am ehesten mit einem Sprint verglichen werden könnte. Es ging darum, so schnell wie möglich das Land zu verlassen, bevor die drohende Gefahr auch Mariupol erreichte. Zuvor mussten jedoch alle vertraglichen Dinge geklärt werden. „Ich kann mich noch gut an die letzte Nacht in Mariupol erinnern. Die meiste Zeit war ich in dem Büro des Teammanagers und telefonierte mit meinem Agenten, um die Ausstiegsklausel in meinem Vertrag zu besprechen. Letzten Endes hat aber alles funktioniert." Als nächstes galt es für Marcus, einen Flug zu bekommen. In einer Situation, in der viele das Land verlassen wollten, keine Leichtigkeit. „Glücklicherweisebekam ich einen der letzten Sitzplätze für den nächsten Morgen und war somit schon fast mit einem Fuß auf amerikanischem Boden."

Auch heute noch hat Marcus Freunde in Mariupol, mit denen er in regelmäßigem Kontakt steht. Nach ihren Angaben ist wieder Normalität in das Leben dort eingekehrt. Gespannt verfolgt Marcus jeden Tag die Nachrichten und versucht, sich so gut wie möglich über die Situation in Mariupol und die Entwicklungen in der Ukraine auf dem Laufenden zu halten. „Obwohl ich weniger als ein Jahr dort gelebt habe, liegen mir diese Menschen sehr am Herzen. Ich habe großes Mitgefühl für das, was sie durchmachen, und ich hoffe, dass dort bald Frieden einkehren wird."