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Fundamentalisten erpressen, foltern und töten schwule Syrer

Ram ist einer von sieben schwulen Syrern, die ich interviewt habe. Sie sind geflohen, nachdem ihre Homosexualität aufgedeckt, sie gefoltert und gequält wurden, und ihr Leben in Gefahr war. Das Netzwerk der schwulen Freunde ist zusammengefallen, und...

Selbst auf dem Plüschsofa in einer der angesagtesten Bars Beiruts zittert Ram vor Angst, als er sich seine Tortur in Erinnerung ruft. Nervös springen seine großen grünen Augen zwischen mir und dem Dolmetscher hin und her, und obwohl wir die Einzigen im Raum sind, spricht er mit gesenkter Stimme. „Ich glaube, man hatte es aus zwei Gründen auf mich abgesehen: Weil ich Druse bin und weil ich schwul bin“, erzählte er. „Sie haben uns gesagt: ,Ihr seid pervers und wir werden euch töten, um die Welt zu retten.‘“ Rams Albtraum begann an einem heißen Sommernachmittag in Damaskus und zwang den damals 19-Jährigen dazu, mit nur wenigen hundert Dollar in der Tasche nach Beirut zu fliehen. Selbst Damaskus, die Festung des Assad-Regimes, wo die Elite nach wie vor in exklusiven Nachtclubs tanzen und Cocktails trinken geht, hat sich mittlerweile in einen chaotischen Sumpf verwandelt, in dem kriminelle Banden ungestraft ihr Unwesen treiben und radikale Islamistengruppen ihren Würgegriff weiter zuziehen. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis Ram ins Visier geraten würde: Zum einen ist er Angehöriger der Drusen, einer kleinen Religionsgemeinschaft, die nur drei Prozent der syrischen Bevölkerung ausmacht, zum anderen stammt er aus einer wohlhabenden Familie, die aufgrund der Unterstützung des Assad-Regimes weithin bekannt ist. Seit dem Beginn der Revolution war ihm klar, dass diese Umstände ihn in Gefahr bringen könnten. Seine Homosexualität war jedoch immer ein Geheimnis zwischen ihm und seinen schwulen Freunden gewesen. Dass sie ihn eines Tages zur Flucht zwingen würde, hätte er nie gedacht. „Ich bekam einen Anruf von meinem Freund“, erinnert er sich. „Er bat mich, bei ihm vorbeizukommen. Er sagte, er hätte all sein Geld verloren und bräuchte meine Hilfe. Ich konnte ihm nie etwas abschlagen, also machte ich mich sofort auf den Weg.“ Dieser Weg führte ihn in eine Falle. „Als ich ankam, erwartete mich ein großer Typ—er hatte einen Bart und hielt einen Viehtreiber in der Hand. Er befahl mir hereinzukommen, und ich hatte Angst, dass er mich schlagen würde, also tat ich, was er sagte. Bislang war das Haus ein Ort der Freude und der Glückseligkeit gewesen, aber als ich eintrat, roch es nach Blut.“ Der Freund, der Ram angerufen hatte, lag gefesselt und blutend auf dem Boden, zusammen mit einem anderen Freund, der ebenfalls ins Haus gelockt worden war. Auch Ram wurde gefesselt und neben die beiden geworfen. In den nächsten Stunden bekam Ram das Ausmaß der Folter mit, das seine Freunde erlitten hatten. „Der eine blutete und sagte, dass man ihn mit einem Gegenstand vergewaltigt hatte. Er weinte, weil er Schmerzen hatte, zugleich aber auch, weil er fürchtete, dass man mir das Gleiche antun würde. Beiden hatte man mit dem Viehtreiber auf die Hoden geschlagen.“ Drei Stunden später kam eine Gruppe Männer in einem Range Rover beim Haus an. „Wir wussten, dass sie uns irgendwo anders hinbringen wollten. Das Haus war in einer Gegend, die nicht von den Rebellen kontrolliert wurde. Sie wollten uns in den Kofferraum stecken und ins Gebiet der FSA fahren“, sagte Ram. „Als sie mich vor die Tür gebracht hatten, erkannte ich meine Chance. Meine Hände waren nicht richtig gefesselt und ich konnte eine Hand befreien. Ich trat dem Mann, der mich festhielt, in die Eier und rannte in Richtung Souq. Ich wusste, dass die Armee sich dort aufhielt und die Kidnapper mich deshalb nicht verfolgen konnten. Ich schrie um Hilfe—ich hatte keine Schuhe an und mein Oberteil war völlig zerrissen. Aber gleichzeitig dankte ich Gott, dass ich am Leben war.“ Aufgrund der Verwirrung und der Angst, die in den Stunden der Geiselnahme herrschte, kam Ram nicht dahinter, wer genau ihn aus welchen Gründen gekidnappt hatte. Er aber, dass es sich zweifellos um Mitglieder einer jener Hardliner-Islamistengruppen handelt, die sich seit dem Bürgerkrieg in Syrien ausgebreitet haben. Er meint, dass der Mann, der ihn in dem Haus seines Freundes fesselte, kein Syrer aus Damaskus, sondern aus der Provinzstadt Deir ez-Zor im Nordosten des Landes war. Deir ez-Zor liegt in der Nähe der Grenze zum Irak und ist eine der Großstädte, die die schlimmsten Angriffe und Bombardements durch die Regierung erlitten haben. Kürzlich war die Stadt Schauplatz eines erbitterten Zusammenstoßes zwischen gemäßigten Brigaden der Freien Syrischen Armee und al-Qaida-nahen Islamistengruppen aus dem Ausland, zu denen auch die al-Nusra-Front zählt, die größte und bekannteste Extremistengruppe in Syrien. Mittlerweile glaubt er, dass die vier Männer, die ihn mit dem Range Rover wegfahren wollten, Tschetschenen waren, die durch ihre Kleidung, ihre Hautfarbe und ihre Sprache leicht identifizierbar sind. Im Laufe des letzten Jahres kamen zahlreiche Tschetschenen nach Syrien, um sich extremistischen Kampftruppen anzuschließen oder diese zu gründen. „Ich bin sicher, dass die Männer Mitglieder der al-Nusra-Front waren, denn sie haben viel über Religion geredet“, meint Ram. „Sie erzählten mir immer wieder, dass Allah der einzige Gott ist und es halal sei, mich zu töten, weil ich ein Druse bin.“ Nach seiner Tortur fürchtete Ram, dass man ihn erneut entführen und töten würde, wenn er in Damaskus bliebe. Also packte er ein paar Sachen zusammen, steckte soviel Geld wie möglich ein und floh in den Libanon, um ein neues Leben anzufangen. Doch selbst in Beirut traut er sich nicht, in Gebiete der Salafisten zu gehen, weil er befürchtet, dass sein Name auf der Fahndungsliste von Extremistengruppen steht. „Meine einzige Botschaft ist, dass die Fundamentalisten eine Bedrohung für die gesamte Gesellschaft darstellen“, sagte er. „Ich bin einfach nur dankbar, dass sie mich nicht verstümmelt oder verbrannt haben und dass ich momentan in Sicherheit bin.“

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Ram ist einer von sieben schwulen Syrern, die ich im September in Beirut interviewt habe. Alle von ihnen sind aus Syrien geflohen, nachdem ihre Homosexualität aufgedeckt und ihr Leben in Gefahr war. Noch immer haben sie Angst, wieder entdeckt und gefangen genommen zu werden. Doch weil sie glauben, dass das, was ihnen zugestoßen ist, auch vielen anderen Schwulen passiert, die noch immer in Syrien eingesperrt sind, waren sie bereit, sich zu äußern.   Im Norden Syriens gibt es zahlreiche Städte und Dörfer, in denen das Regime von den Rebellen vertrieben wurde, um eine andere Art der Tyrannei einzuführen. An ihrer Spitze stehen Dschihad-Kämpfer, die aus dem Ausland herbeiströmten, um an dem teilzunehmen, was sie für einen Heiligen Krieg halten. Als die ersten Mudschahid-Brigaden in Syrien auftauchten, gaben sie vor, die FSA beim Kampf gegen Assad unterstützen zu wollen. In den vergangenen Monaten, in denen sich die Islamistengruppen immer erbitterter gegen die gemäßigten Rebellen richteten, an deren Seite sie eigentlich kämpfen wollten, wurde mehr als deutlich, dass ihre wahre Mission eine andere ist. In vielen syrischen Gebieten führen die Islamistengruppen einen de facto islamistischen Staat an. Durch die eingeführten Sharia-Gerichte können sie soziale Kontrolle ausüben. Zahlreiche Augenzeugenberichte und Videobeweise deuten auf mittelalterliche Strafen und brutale Hinrichtungen hin, mit denen Islamisten Mitglieder religiöser Minderheiten, Säkularisten und Personen, die wegen Gotteslästerung angeklagt wurden, drangsalieren. Die Berichte der von mir interviewten Männer weisen darauf hin, dass es die Islamisten ebenfalls auf Homosexuelle abgesehen haben, was die dunkelsten Tage des Iraks in Erinnerung ruft. Im Zuge des al-Quaida-Aufstands gegen die Invasion der USA wurden dort regelmäßig Schwule ermordet, auf offener Straße und mitten am Tag. Zu dieser Zeit flohen viele schwule Iraker nach Syrien—damals noch eines der tolerantesten Länder der arabischen Welt. Das Kerngebiet der Islamisten ist derzeit ar-Raqqa, eine Stadt am Ufer des Euphrat im Norden des Landes. Sie bekam den düsteren Ruf, der Schauplatz einiger der schlimmsten Gräueltaten des Konflikts zu sein. Als der 27-jährige Shadi Mitte 2012 aus Deir ez-Zor dorthin zog, war die Stadt noch eine der sichersten Gegenden Syriens. „Wegen des Beschusses und der Bombardierungen musste ich aus meiner Heimat fliehen“, sagte er. Damit war er nicht allein—in der Hoffnung, in einen Zustand der Normalität zurückzukehren, zogen Zehntausende Zivilisten aus Deir ez-Zor mit ihren Familien ins nahegelegene ar-Raqqa. Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt vollständig unter der Kontrolle der Assad-Kräfte. Es gab weder Zusammenstöße noch Bombardements, und nichts deutete darauf hin, dass sich das in naher Zukunft ändern würde. Im Februar 2013 zettelte die al-Nusra-Front einen Putsch an, durch den sie zu einer der mächtigsten Rebellengruppen in Syrien aufstieg. Innerhalb weniger Tage stürzte sie das Regime und übernahm die vollständige Kontrolle über die Stadt. Ar-Raqqa war die erste Großstadt, die vollständig in die Hände einer Rebellengruppe fiel.   Schnell machte sich die al-Nusra-Front daran, in ar-Raqqa islamisches Recht einzuführen. Ein Einwohner, der kürzlich aus der Stadt floh, berichtet, dass die Organisation das Rauchen verboten hat und Männer und Frauen für das Tragen von Jeans bestraft. „Einer meiner Freunde hatte ein Geschäft, das Umstandsmode verkaufte. Er musste den Laden dichtmachen, weil al-Nusra ihm verboten hatte, Frauen zu bedienen“, sagte er. Für Shadi markierte der Aufstieg der al-Nusra-Front den Beginn einer Terrorherrschaft. „Es fing damit an, dass einer meiner schwulen Freunde verschwunden war“, sagte er. „Als er zwei Wochen später wieder auftauchte, war klar, dass er in einem Ausbildungslager von al-Nusra gewesen war. Er begann, alle seine schwulen Freunde mit Fotos und Videos, die er von uns hatte, zu erpressen. Er meinte, dass er uns ohne Weiteres umbringen lassen könnte, wenn er uns mit dem Beweis, dass wir schwul sind, an al-Nusra ausliefern würde.“ Als zwei von Shadis Freunden sich weigerten, ihrem Erpresser mehr Geld zu geben, mussten sie mit ihrem Leben bezahlen. „Er erschoss sie mit je einer Kugel“, sagte Shadi. Daraufhin verbreiteten sich in der Stadt Gerüchte, dass sie aufgrund ihrer Homosexualität erschossen wurden. Am Anfang verdrängten wir die Gerüchte und redeten uns ein, dass sie erschossen wurden, weil sie als Informanten für das Regime tätig waren. Aber der Nusra-Typ versuchte weiterhin, den Rest von uns zu erpressen.“ Weil der Erpresser keine Lust mehr hatte, auf sein Geld zu warten, ging er schließlich mit den Fotos zu Shadis Eltern. „Mein Bruder hat die ganzen Bilder gesehen“, sagte er. „Ich habe nun zu niemandem mehr Kontakt, außer zu meiner Mutter.“ Er floh zuerst in ein Dorf außerhalb der Stadt und machte sich von dort aus auf den langen und gefährlichen Weg zur libanesischen Grenze. Der Weg führte ihn sowohl an Checkpoints des Regimes als auch an Kontrollpunkten von al-Nasra vorbei. „Mir graute es vor beiden“, sagte er.   Shadis Peiniger machten sich eine Furcht zunutze, die in der syrischen Schwulen-Community fast universell verbreitet ist: die Angst, dass die eigene Familie von der Homosexualität erfährt. „In der arabischen Gesellschaft gibt es kein Verständnis für Homosexualität“, erklärt Shadi. Meinungsumfragen bestätigen seine Ansicht. Anfang des Jahres ergab eine Studie des Pew Research Centre, dass nur drei Prozent der Einwohner des syrischen Nachbarstaates Jordanien Homosexualität akzeptabel finden.

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Shadi glaubt, dass sein schwuler Freund aus Selbstschutz der al-Nusra-Front beigetreten ist. Doch schwule Männer, die beschließen, sich den Extremisten anzuschließen, begeben sich in eine prekäre Situation. Einige würden alles Erdenkliche tun, um ihre sexuelle Orientierung geheim zu halten. Der 28-jährige Jihad aus Homs wusste, dass er in Lebensgefahr schwebte, als einige der schwulen Mitglieder von al-Nusra extreme Maßnahmen ergriffen, um ihre Homosexualität zu verbergen. „Mein Freund wurde umgebracht, nachdem er mit drei Nusra-Mitgliedern geschlafen hatte“, sagte er. „Die Nachbarn sagten, dass sie ihn von ein bis vier Uhr nachts gefoltert und dann erschossen haben. Sie schossen ihm einmal ins Bein, einmal in die Seite, einmal in die Schulter und einmal in den Kopf. Zusammen mit seiner Schwester holte ich seine Leiche von der Polizei ab und beerdigte ihn.“ Nach dem Mord wurde Jihads Name auf die Fahndungsliste von al-Nusra gesetzt. „Sie sagten, dass wir sittenwidrige Handlungen vollziehen und wir deshalb auf einer Liste von Leuten stehen, die getötet werden sollen“, erzählte er. „Gleichzeitig stand ich auf der Fahndungsliste des Regimes, weil ich auf Facebook einer Revolutionsseite beigetreten bin.“ Während sich einige Syrer Extremistengruppen angeschlossen haben, kommt die große Mehrheit der Dschihad-Kämpfer aus dem Ausland. „Die meisten Nusra-Anführer, die nach ar-Raqqa kamen, sind Tschetschenen, Tunesier und Saudis“, sagte Shadi. „Sie meinen, dass sie die Stadt durch die Einführung des Islams vom Schmutz befreien wollen. Alle Säkularen und Minderheiten haben ar-Raqqa verlassen. Diejenigen, die noch da sind, stimmen ihnen zu oder haben keine andere Wahl.“ Einer derjenigen, die Jihads Freund getötet haben, kam aus einem Ort, der sich beunruhigend nah an seinem eigenen Wohnort befindet. „Einer der Nusra-Typen war Brite“, erzählte er. „Er sagte, dass er nach Syrien gekommen sei, um das Land von der Korruption zu befreien.“ Die Mehrheit der Schwulen, die Syrien wie Ram, Shadi und Kenan in den letzten Monaten verlassen haben, flohen vor der drohenden Folter oder Ermordung durch Extremistengruppen, die nach und nach die Gegenden, aus denen sich das Regime zurückgezogen hat, in ihre Gewalt bringen. Doch auch in Gebieten, in denen Assad sich noch an die Macht klammert, hat ihr Aufstand eine Welle der Kriminalität losgetreten. Wohlhabende Familien leben in der Angst, entführt zu werden, doch Schwule sind besonders gefährdet. Steve entstammt der Damaszener Mittelschicht. Vor dem Aufstand genoss er einen privilegierten Lebensstil. Er arbeitete in der PR-Branche, verdiente ein ordemtliches Gehalt und hatte einen festen Freund, wenngleich er seine Sexualität vor seiner Familie geheim hielt. Als er, noch vor dem Aufstand, auf einer Schwulenparty verhaftet wurde, konnte er seine Beziehungen nutzen und der Prozess wurde wieder eingestellt. Dann begann die Revolution. „Alles versank im Chaos“, berichtet er. „Ich bekam Anrufe von jemandem, der sagte, dass ich ihm Geld geben sollte, oder meine Familie würde erfahren, dass ich schwul bin. Ich änderte meine Nummer, aber die Anrufe hörten nicht auf. Ich bin mir sicher, dass der Geheimdienst meinen Namen auf eine Liste gesetzt hat, denn fortan wurde ich an jedem Checkpoint der Regierung angehalten und befragt.“   Zuerst bezahlte Steve den Erpresser. Er verlobte sich mit einer Frau, um die Gerüchte über seine Homosexualität zu stoppen. Doch eines Tages passierte das, wovor es ihm gegraut hatte: Er wurde entführt. „Ich gab ihnen 600 Dollar, mein Handy und meine Tasche, dann ließen sie mich gehen“, erzählte er. „Aber am nächsten Tag passierte es wieder.“ Weil er fürchtete, dass man ihn irgendwann umbringen würde, und er sich nicht auf die Unterstützung seiner Familie verlassen konnte, verließ er die Stadt und ging nach Beirut. „Ich habe meinen Eltern erzählte, dass die Leute diese Gerüchte streuen, weil sie neidisch auf mich sind“, sagte Steve. „Sie sind wahrscheinlich verwirrt—sie wissen nicht, was sie glauben sollen. Aber in dieser Kultur wird Homosexualität nicht akzeptiert und Kriminelle nutzen jetzt jede Schwäche, um Geld zu verdienen.“ Schon vor dem Aufstand waren Homosexuelle eine der meistgefährdeten Gruppen der syrischen Gesellschaft. Das machte sie besonders angreifbar—sowohl für die Islamisten, die sie aus religiösen Gründen töten wollen, als auch für Kriminelle, für die sie leicht erpressbar sind. „Schwule sind die einfachsten Opfer, deshalb werden wir überall und von allen misshandelt“, sagte Shadi. Auch wenn die Männer, die ich interviewt habe, unterschiedlich alt waren und verschiedene Hintergründe hatten, lassen sich zwei Gemeinsamkeiten feststellen: Alle flohen allein aus Syrien und keiner von ihnen glaubt, dass er jemals zurückkehren kann. Das Netzwerk der schwulen Freunden, auf das sie sich früher verlassen konnten, ist zusammengefallen, und ihre Familien brachen den Kontakt ab, als sie herausfanden, dass sie homosexuell sind. In dem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich ein Urteil erlassen, dass homosexuellen Flüchtlingen ein Anspruch auf Asyl zugesteht, wenn sie wegen ihrer sexuellen Orientierung in ihrer Heimat verfolgt worden sind. Um das in Anspruch zu nehmen, müssten die Männer aber erst einmal aus dem Libanon auf europäischen Boden gelangen. Patricia el-Khoury ist Psychologin in Beirut und therapiert stark traumatisierte Schwule, die aus Syrien geflohen sind. Sie sagte, dass es die Isolation ist, die ihre Patienten am meisten belastet und die sie verletzlicher macht als die Zehntausenden anderen Flüchtlinge, die in den Libanon geströmt sind. „Diese Männer sind beladen von Schuldgefühlen“, sagte sie. „Sie glauben, dass es ihre Schuld ist, dass sie ihre Familien verloren haben.“ Genau wie Shadi und Kenan floh auch der 24-jährige Pierre aus ar-Raqqa, als die al-Nusra-Front im Februar anfing, die Kontrolle zu übernehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste Pierres Familie nichts von seiner Homosexualität. Doch dann ließ man seinem Bruder ein Video zukommen, in dem er als Transvestit gezeigt wurde. Der Bruder erzählte es dem Rest der Familie und schoss Pierre zweimal ins Bein. Als wir uns unterhielten, zog er seine Jeans hoch, um mir eine entzündete rote Narbe an seinem Fußgelenk zu zeigen. „Dieser Schuss hat mir den Knochen gebrochen“, sagte er.

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Als er erfuhr, dass sein Bruder ihm eine Braut besorgt hatte, die er heiraten sollte, floh Pierre in den Libanon. Seitdem hat er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. „Ich werde nie wieder zurückkehren“, sagte er. „Ich könnte nur zurück, wenn meine Eltern sich ändern würden. Die Freunde, die ich hatte, sind weggegangen. Es gibt nichts mehr, was mich noch mit dem Ort verbindet.“ Das Leben als Schwuler mag in Beirut, wo die Schwulenszene viel sichtbarer ist als in Syrien, in vielerlei Hinsicht einfacher sein, doch eben diese Unbeschränktheit und die gelegentliche Extravaganz können einen Kulturschock bewirken. „Obwohl Syrien und Libanon Nachbarländer sind, liegen sie gesellschaftlich weit auseinander“, erzählte mir Patricia. „Die Männer befinden sich plötzlich in einem ganz anderen Umfeld. Sie sind an einem freieren Ort, aber oftmals sind sie darauf nicht vorbereitet, deshalb tendieren sie zu extremen Reaktionen. In der libanesischen Schwulenszene sind Prostitution und Drogenkonsum sehr verbreitet.“ Schon kurz nach seiner Ankunft in Beirut geriet Jihad in Schwierigkeiten. Er hatte kein Geld, wenige Freunde, und zu der Familie, auf deren Unterstützung er sich normalerweise verlassen hätte, hatte er keinen Kontakt mehr. Als er hörte, dass in einem Hamam Jobs vergeben wurden, beschloss er, sich dort zu bewerben. Schnell musste er einsehen, dass die Arbeit auch bezahlten Sex mit Männern einschloss. „Es ist, als würde man sich selbst verkaufen“, sagte er. „Man bekommt kein Gehalt, sondern nur Trinkgeld für den Sex mit Kunden.“ Doch in diesem Land, das mit der Last von über einer Million syrischer Flüchtlinge zu kämpfen hat—und in dem die Lebenskosten, im Vergleich zu Syrien, horrend sind—blieb ihm kaum eine Alternative. Der libanesische Schwulenaktivist Bertho Makso erzählte mir, dass die meisten schwulen Syrer im Libanon entweder in billigen Hotels unterkommen, in denen sie sich ein Zimmer mit zwei oder drei Fremden teilen müssen, oder auf der Straße schlafen. In beiden Fällen sind sie der Gefahr von Diebstahl und Missbrauch ausgeliefert. Wer Glück hat, findet vielleicht einen Freund, der einen für kurze Zeit bei sich wohnen lässt. „Die Unterkunft stellt das größte Problem dar“, sagte er. „Ich will unbedingt ein paar große Wohnungen in Beirut mieten, die wir als sichere Unterkünfte nutzen können, um den Männern auf die Beine zu helfen, wenn sie hier ankommen. Aber zuerst müssen wir eine Finanzierung finden. Zwei Wohnungen zu mieten, kostet um die 1.500 Dollar pro Monat. Beirut ist eine teure Stadt.“ Da sich die Lage in Syrien weiter zuspitzt, strömen weiterhin Flüchtlinge mit allen möglichen Hintergründen in den Libanon. Einigen Schätzungen zufolge besteht die Bevölkerung dieses winzigen und politisch fragilen Landes bereits zu einem Viertel aus syrischen Flüchtlingen. Während viele Libanesen an den Geschehnissen in ihrem Nachbarland Anteil nehmen, sind auf den Straßen Beiruts eine gewisse Feindseligkeit, eine diffuse Wut und die Angst wahrnehmbar, dass der Konflikt über die Grenze schwappt. Explodierende Autobomben und die Kämpfe zwischen Sunniten und Alawiten in der nördlichen Stadt Tripolis haben die bereits bestehenden Ressentiments Syrern gegenüber weiter angefacht. Die Männer, denen ich begegnet bin, mögen Tod, Entführung und Folter in ihrer Heimat entkommen sein. In Sicherheit sind sie noch nicht. „Schwule haben in Beirut keine Probleme“, sagte Steve. „Syrer hingegen haben hier viele. Ich fühle mich noch immer nicht sicher.“

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