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John Gray nennt Fortschritt einen modernen Mythos

Ja, die Menschheit besitzt Drohnen und Impfstoffe, aber heißt das, dass wir uns immer weiterentwickeln? Der politische Philosoph, Autor und Kolumnist John Gray glaubt, dass Fortschritt nur ein moderner Mythos ist.

John Gray, Foto von Justine Stoddart

Haben wir Menschen es nicht weitergebracht? In den letzten 200 Jahren haben wir die Sklaverei abgeschafft (also, um genau zu sein, haben wir sie outgesourcet), wir sind immer umweltbewusster geworden (wenn du drüber nachdenkst, sind die schmutzigen Fabriken halt heute einfach in der Dritten Welt) und der glorreiche Westen hat Menschenrechte, Frieden und Demokratie in jedes unentwickelte Hinterland dieses Planeten gebracht—mittels langwieriger, sinnloser, blutiger Kriege. Fortschritt, Friede, Aufklärung um jeden Preis.

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Denn wir sind wirklich der hellleuchtendste Diamant in der ansonsten schäbigen, schmutzigen Kloake außerhalb der Ersten Welt. Und jeder, der noch nicht die Süße des westlichen Fortschrittswahns gekostet hat, wird dies hoffentlich bald können—vermutlich mittels flächendeckender Bombardierung. Wir sind eben erleuchtet. Der Rest der Welt muss noch ins Licht gebracht werden. Im Namen vom Frieden führen wir Krieg. Im Namen von Menschenrechten foltern wir. Und uns fallen diese himmelschreienden Widersprüche nicht einmal auf.

Der bekannte politische Philosoph, Autor und Kolumnist für The Guardian und den New Statesman John Gray ist einer der wenigen im Westen, die sich trauen, das ganze Bauerntheater beim Namen zu nennen. In seinem neuen Buch The Silence of Animals betrachtet er die Geschichte und stellt fest: Wenn wir jetzt tatsächlich besser wären als alle Menschen vor uns, dann wäre die gesamte Geschichte der Menschheit bis vor 200 Jahren ein schlechter Witz. John nennt Fortschritt daher einen modernen Mythos. Was genau er damit meint, hat er mir letzte Woche in London während einem seiner seltenen Interviews erzählt. Wir haben uns köstlich über moderne Ersatzreligionen wie den Atheismus und virtuelle Unsterblichkeit amüsiert.

VICE: Könnten Sie zunächst erklären, wie Sie den Begriff „Fortschritt“ verstehen und warum Sie ihn für einen Mythos halten?
John Gray: In meinem neuen Buch definiere ich Fortschritt als jede Art von Entwicklung, die kumulativ ist. Das heißt, was in einer bestimmten Periode erreicht worden ist, ist die Basis für jede weitere Entwicklung, die dann unwiderruflich ist. In den Naturwissenschaften und der Technologie ist Fortschritt also kein Mythos. Der Mythos ist, dass der gleiche unwiderrufliche Fortschritt auch in Ethik, Politik oder, einfach ausgedrückt, in der Zivilisation gemacht werden kann. Dass also positive Entwicklungen heute zu mehr positiven Entwicklungen morgen führen werden. Kurz: Alles wird immer besser.

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Was wäre ein Beispiel?
Zum Beispiel Sklaverei. Wenn man die Abschaffung der Sklaverei erreicht, dann kann man darauf aufbauend Demokratie erreichen. Mein Geschichtsverständnis ist, dass es für die Zivilisation nicht so einfach funktioniert. Ich unterstütze natürlich mit allem Nachdruck Entwicklungen wie die Emanzipation von Frauen und Homosexuellen sowie die Abschaffung der Folter, aber das alles kann extrem einfach wieder zusammenbrechen.

Wie wir ja zum Beispiel im Falle von Guantanamo Bay und Abu Ghraib gesehen haben. 
Genau. Es gab gute Entwicklungen in der Ethik und der Politik, aber sie wurden berechtigterweise von George W. Bush und seiner Gang „entspannt“. Und zwar in der größten Demokratie der Welt und nicht in einer obskuren Diktator irgendwo. Im Februar 2003, also noch vor Beginn des Irakkriegs, veröffentlichte ich einen satirischen Artikel im Stile von Jonathan Swift mit dem Titel „A Modest Proposal“. Basierend auf tatsächlichen Entwicklungen in der amerikanischen Öffentlichkeit argumentierte ich für die Wiedereinführung von Sklaverei als notwendiges Mittel, um weltweit Menschenrechte zu propagieren.

Wie waren die Reaktionen?
Die Leute fanden es lächerlich, pervers menschenverachtend und pessimistisch. Sogar diejenigen, die verstanden, dass es satirisch war.

Typische Reaktion von Gutmenschen. Manche Themen sind einfach unantastbar.
Aber weniger als ein Jahr später tauchten Bilder aus Abu Ghraib auf. Es war wirklich nicht schwer, das vorherzusehen. Aber das zeigt eindrücklich und erschreckend, wie schnell wichtige Entwicklungen wie die Abschaffung der Folter vergessen werden. Folter liegt eigentlich jenseits der Grenzen von Zivilisation. Kann aber jederzeit wieder eingeführt werden.

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Ich halte uns Menschen im Westen für Meister des Selbstbetrugs.
Kannt man so sagen, ja.

Wir nehmen uns als äußerst moralisch wahr. Wenn du im richtigen Laden einkaufen gehst, rettest du gleich noch die Welt mit, ohne wirklich irgendetwas zu tun. Die Kleidung, die wir tragen, wird größtenteils von Lohnsklaven in der Dritte Welt produziert. Wir haben die Sklaverei eigentlich nur outgesourcet, aber nicht wirklich abgeschafft.
Ja, tatsächlich. Wir haben den Namen geändert und sie in andere Länder verfrachtet. Das Gleiche haben wir mit Verschmutzung der Industrie gemacht. Wir haben hochgiftige Produktionsprozesse nach China und Indien outgesourcet, damit wir uns schön umweltbewusst fühlen können. Aber die Güter, die wir nutzen, werden ja trotzdem noch genauso umweltverschmutzend hergestellt. Ich bin da auf Ihrer Seite, aber ich würde es dennoch nicht als Heuchelei bezeichnen. Denn Heuchelei setzt voraus, dass man die Wahrheit kennt.

Das macht das Ganzen noch schlimmer—totale Verblendung.
Tony Blair ist ein gutes Beispiel. Die Leute halten ihn für einen Lügner, aber ich glaube, das ist ein zu großes Kompliment! Ihm fehlt das moralische Vermögen, um überhaupt zu lügen. Was auch immer er gesagt, während des Irakkriegs, hat er geglaubt. Bei den Konflikten in Irak, Afghanistan usw. geht es nicht primär um Ressourcen. Westliche Anführer, aber auch Kommentatoren glauben tatsächlich, dass sie Aufklärung betreiben und fortschrittliche Werte in der ganzen Welt verbreiten.

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Sie glauben also nicht, dass es sich um nett formulierten Imperialismus handelt?
Nein, denn es wird in dem echten Glauben gehandelt, dass westliche Werte die ultimativen Werte dieser Welt sind. Trotz der immensen Probleme, die wir im Westen haben, glauben viele hier, wir seien die Krone der Geschichte. Das ist ein Mythos. Und hinter jedem Mythos steht der Wunsch nach Bedeutung für das eigene Leben.

Menschen brauchen jedoch Bedeutung. Ein sinnloses Leben ist unmöglich.
Ich verneine nicht, dass wir Menschen Bedeutung selbst schaffen können, das ist eine der großen Gaben des Menschen. Aber es gibt keine im Universum eingeschriebene Bedeutung. Auch die Geschichte bewegt sich nicht auf einen Zielzustand zu. Mein Rat an alle, die Bedeutung brauchen, die darüber hinausgeht, was sie selbst für sich schaffen können, ist, sich einer Religion anzuschließen. Diese alten Mythen sind um einiges weiser als unsere modernen säkularen wie der Fortschrittsglaube.

Würden Sie also den Fortschrittsmythos auch als eine Art von Religion bezeichnen?
Definitiv. Unsere säkularen Mythen sind nichts anderes als religiöse Mythen recycelt. Minus die ganzen guten Eigenschaften.

In diesem Sinne könnte auch moderner Atheismus als Religion bezeichnet werden.
Atheisten werden sehr sauer, wenn ich sie als religiös bezeichne. Wenn Atheismus bedeutet, was es bedeuten sollte—also keine Verwendung für das Konzept „Gott“ zu haben—, dann bin ich ein Atheist. Aber ich bin Prediger. Die Tatsache, dass vor ein paar Jahren Busse in London umhergefahren sind, auf denen stand „There's probably no God!“, ist absolut lächerlich. Du kannst Atheisten definitiv als religiös bezeichnen, wenn sie predigen und andere konvertieren wollen.

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Sind sie dabei eigentlich erfolgreich? Leute wie Richard Dawkins etwa?
Nein. In Afrika konvertieren gerade Millionen zum Islam und immer mehr Chinesen werden Christen. Der Atheismus ist dagegen ein schlechter Witz der Geschichte. Was wir heute sehen, ist eher eine Riesenexpansion traditioneller Religionen. Der Atheismus ist ein Medienphänomen.

Ein anderer moderner Mythos ist das Glück. „Wie werde ich glücklich?“, schreit es uns von allen Seiten entgegen. Ich habe erst vor Kurzem einen Vortrag eines Akademikers besucht mit dem Titel „Wird das Glück die Welt retten?“.
Hahaha. Das ist kurios!

Die Lösung wird dann wohl sein, dass wir einfach allen Antidepressiva geben, um alle messbar gleich glücklich zu machen …
Glück, so wie wir es heute verstehen, ist überhaupt kein sinnvolles Ziel, glaube ich. Denn wenn Glück das Ziel deiner Handlungen ist, dann bist du viel weniger risikobereit. Moderne Glücksvorstellung ist der falsche Glaube an Zufriedenheit. Der Irrglaube ist, dass du einen gewissen geistigen Zustand haben wirst, wenn du dein Leben auf eine bestimmte Art arrangierst. Ich denke aber, dass es viel spannender und erfüllender ist, einfach zu leben und das zu tun, was dich wirklich interessiert. Denn du weißt nie, wie sich irgendwas entwickelt und ob du am Ende wirklich zufrieden bist oder nicht.

Aber irgendwie halten sich viele Leute für Maschinen, die man optimieren kann und muss.
Ja, das ist zunehmend der Fall. Und, wie du sagst, wenn jemand so denkt, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zur chemischen Optimierung deines Glücksgefühls. In Amerika und anderswo in der westlichen Welt steigt der Verbrauch von Antidepressiva rasant an. Früher gab es so was nicht. Ich frage mich also, was die Leute früher gemacht haben. Waren die die ganze Zeit depressiv?

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Hahaha. Ja bestimmt.
Ich habe Fortschritt mal das Prozac der Intellektuellen genannt. Viele Leute haben zu mir gesagt: „Wenn ich nicht an Fortschritt glauben würde, könnte ich in der Früh nicht aufstehen.“ Aber da der Glaube an Fortschritt erst 200 Jahre alt ist, frage ich sie dann gerne: „Was haben die Leute denn früher getan? Lagen die die ganze Zeit im Bett?“

Das Erbe der Aufklärung hat uns immer noch fest im Griff. Alles davor war, wie man meint, das Mittelalter.
Ja. Die ganze Geschichte der Menschheit bis zur Aufklärung war ein Vorspiel für uns bessere Menschen heute. Diese Annahme ist so absurd! Laut der Aufklärung wäre jeder vor ihr—also Leute wie Shakespeare—ein unentwickelter Mensch. Die Befürworter der Aufklärung und der Fortschrittsidee glauben gerne, dass sie ein ganz besonders wichtiges Kapitel in dieser großen Geschichte sind. Leider existiert diese Geschichte aber nicht einmal. Es ist eine lächerliche Fiktion.

Ist nicht der Glaube, dass alles immer besser wird, ein bisschen schizophren, wenn man bedenkt, dass wir gleichzeitig seit den 1970ern in einer Krise leben?
Die rasanten Entwicklungen in der Technologie kreiert ein Phantom des Fortschritts. Handys werden immer besser, kleiner, billiger. Die Technologie verändert unser tägliches Leben permanent. Das gibt den Leuten auch das Gefühl, dass sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Aber in vielerlei Weise wird alles eher schlimmer. Unsere Lebensstandards sind in den letzten Jahren wieder drastisch gefallen.

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Generell heißt ja auch technologische Optimierung nicht automatisch eine Verbesserung des Lebens.
Natürlich nicht. Technologischer Fortschritt ist ein zweischneidiges Schwert. Das Internet, zum Beispiel, hat mehr oder weniger die Privatsphäre zerstört. Alles, was du tust, hinterlässt eine elektronische Spur.

Einige träumen sogar davon, ihren Geist zu digitalisieren und dann im Internet ewig zu leben.
Das ist schon irgendwie rührend. Aber auch absolut absurd. Sogar, wenn es möglich wäre, dein ganzes Gehirn hochzuladen, wärest das nicht du.

Es scheint ein großes Missverständnis zu geben, was es bedeutet, du selbst zu sein. 
Ja. Du hast das Selbst, das du bist, nicht gewählt. Du bist unersetzbar. Einzigartig. Wir sind, wer wir sind, wegen der Leben, die wir haben. Und das beinhaltet, einen Körper zu haben, geboren zu werden und zu sterben.

Vor allem sterben …
Ja, das vor allem. Viele der modernen Phänomene wie der Fortschrittsglaube sind eigentlich nichts anderes als der Versuch, der Realität des Todes zu entgehen. Jedes unserer Leben ist aber einmalig. Und endgültig. Es gibt keine zweite Chance. Das hier ist keine Probe. Es ist sehr einfach, dieser Realität zu entfliehen mittels Religion, aber das verachte ich nicht. Wenn jemand das braucht, ist das OK. Was ich aber auf jeden Fall verachte, sind Leute, die eigentlich Religion verachten und auf einmal ein Verlangen nach religiösen Ausflüchten wie dem Hochladen des Geistes ins Internet entwickeln. Das Verlangen selbst nicht.

Sich selbst ins Netz hochzuladen, klingt irgendwie verdammt stark, wie nach dem Tod in den Himmel zu kommen.
Ich bin ein komplett nichtreligiöser Mensch. Aber im Vergleich zu dieser ganzen virtuellen Unsterblichkeit ist sogar die Wiederauferstehung der Toten noch glaubwürdiger. Denn es ist per Definition ein Wunder und unerklärbar. Was ist denn die Realität des Cyberspace? Cyberwar! Hinter diesem ganzen Gerede über virtuelle Unsterblichkeit steht eigentlich eine christliche Weltanschauung.

Folgt Johannes bei Twitter: @JohnVouloir