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Wie ich als Deutscher Luzern lieben gelernt habe

Kiffende Professoren und vorgegebene Ausgehmöglichkeiten – in Luzern zu leben, ist wie ein ewig andauernder Schulausflug.
Foto von Leiju

Ich habe fünf Jahre in Luzern verbracht und bin an einem ganz anderen Ort zur Welt gekommen. Ich kam als Ausländer in die Stadt und habe sie in den wenigen Jahren, in denen ich in ihr gelebt habe, lieben gelernt.

Vereinfacht gesagt geschah das aus drei Gründen: Weil mich die Stadt mit offenen Armen empfangen hat und ich in der Ausländerbehörde immer gut behandelt wurde (kurzfristiger Dopamin-Ausstoss). Und wegen den Dingen, die ich von dort mitgenommen habe (dauerhafter Dopamin-Ausstoss).

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Ersteres ist dabei schnell erklärt. Ein nicht mehr ganz kleiner Junge will weg von Zuhause und sehnt sich nach Natur und weniger deutschen Landsleuten. Ein German Dream, von dem Eko Fresh immer redet, war das sicher nicht und geografisch betrachtet auch kein "Western Movement"—dafür ein persönlicher Finishing Move. Jedenfalls wollte ich schon immer in das Land, dessen Flagge wie eine gekreuzte Pommesschranke aussieht, und bin bei der Einreise freudestrahlend vier Stunden an der Zollbehörde angestanden, um einen Stempel zu bekommen.

Für mich als Landkind ist die Schweiz der Hit: Alles ist wie im Heimatort, nur mit mehr Bergen und die Idylle verteilt sich auf ein ganzes Land—Leben in einer Postkarte sozusagen. Vor allem aber bringen Grösse und Geschichte mit sich, dass Schweizer sich grundsätzlich (noch) als Gemeinschaft verstehen und ganz anders miteinander umgehen. Und damit meine ich nicht das Argovia-Fäscht, sondern dass man sich füreinander interessiert und sehr offen und herzlich gegenüber Leuten ist, die schon Teil des Teams Schweiz sind oder irgendwann werden wollen. Freunde trifft man zufällig bei einer Zugfahrt quer durchs Land, was sich im ersten Moment lang anhört, aber woanders eher einer S-Bahn-Fahrt entspricht. Und im Ausgang fühlt man sich ohnehin permanent wie auf Klassenfahrt.

Luzern ist davon ziemlich genau die Blaupause und hat sogar noch mehr Vorteile: Die Stadt liegt weit weg von allen Grenzen, aber nah genug an den Bergen, du hast einen der schönsten Seen vor der Nase und es gibt kaum Finance-Studenten, die in Bars nur Unruhe verbreiten, weil sie nach ein paar Bier der Meinung sind, sie hätten einen neuen Leverage-Effekt entdeckt. Ausserdem wollte ich folgende Städte ausdrücklich vermeiden: Zürich (zu viele Deutsche, angesiedelt an einem privaten Wassernaherholungsbereich), Basel (zu viele mit LÖ-Kennzeichen), St. Gallen (HSG), Genf (Sprache und langweiliger Rap), Bern (zu nahe an der Regierung), Schaffhausen (what?), Winterthur (ist das nicht dieses grosse Autobahnkreuz?) und Olten (Olten!). No offense. Und Italienisch kann ich sowieso nicht.

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Foto von Pixabay

Was einem in Luzern zuerst auffällt, ist: Es gibt keine Szene. Oder besser gesagt gibt es eine so durchlässige, dass man sofort und an jeder Ecke Anschluss findet, wenn man sich nicht als totaler Soziopath versteht oder einer von diesen Expats ist, die nur mit anderen Expats rumhängen—ich glaube ja auch, dass diese Gattung nur im Rudel überlebensfähig ist. Alle Luzerner scheinen in derselben Klasse (gewesen) zu sein und bilden eine Gruppe, in der dir scheinbar jeder jeden vorstellen kann. Mit Vor- und Nachnamen. Selten habe ich an einem Ort so schnell so viele Menschen kennen- und lieben gelernt oder eine herzlichere Begrüssung erhalten, so dass ich die erste Zeit nur in lila Wolken unterwegs war—nur gab es eben da die Hookline aus dem Marteria-Song noch nicht.

Wer—vor allem als Deutscher—jammert, die Schweizer würden ihm die Niederlassungsbewilligung so schwer machen oder ihn gar links liegen lassen, dem kann ich nur raten, wieder nach Hause zu fahren. Denn wahrscheinlich liegt es an ihm. Aber das ist ja schon wieder ein anderes Thema.

Jedenfalls bringt sowas im Nachtleben besagtes Klassenfahrtsgefühl mit sich und eine der häufigsten Fragen ist "Du bisch doch där wo … ?". Auf diese Frage musst du eigentlich gar keine Antwort haben, weil sowieso schon alle über alles Bescheid wissen. Ich habe mich in manchen Situationen auch dabei ertappt, mich nach Lehrern umzusehen, die irgendwann die Party auflösen und alle zurück in die Jugendherberge schicken. Von denen ist aber nie einer gekommen. Dafür haben mich Luzerner Dozenten und Professoren morgens vor der Uni des Öfteren mit Joint in der Hand begrüsst.

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Foto von Pixabay

Die mindestens genauso wichtige Frage "Gehsch au zur/in/aufd … ?" lernt man hingegen blind mit "Ja" zu beantworten. Und das nicht nur, weil man es bei/in/auf XY so geil findet, sondern weil man genau dort später auch abgemacht hat und es nichts Anderes als XY gibt.

Auch ist der gemeine "Lozärner" ein sehr bodenständiger und lässiger Typ, der weiss, woher er kommt und deswegen keine Komplexe mit sich bringt. Das hat man auch schon länger im Tourismusmarketing verstanden. Ich glaube, würde Zürich auf einmal am Pilatus aufwachen, würde das keiner mitbekommen, weil alle zu sehr damit beschäftigt wären, Zürcher zu bleiben.

Und wo andere Städte ein eigenes Viertel dafür brauchen, macht ganz Luzern nebenher auf Little China und klatscht sich einen Drachen als Logo auf die Seilbahn (auch wenn der natürlich Swiss Made ist). Dazu war "Studieren" lange Zeit ein Synonym dafür, für Vorlesungen beliebige Räume quer durch die Stadt zu besetzen—wahlweise in Kinos, Kellern, Hotels, Wohn- oder Bürogebäuden, weil sich die Uni den Luxus von eigenen Vorlesungsräumen nicht so hart gönnen wollte. Was ganz Luzern ohnehin zu einem riesigen Schulhof gemacht hat.

Daneben folgten unzählbare Aus- und Höhenflüge mit Freunden oder Nächte in Clubs (in denen der Pizzastand teilweise gefragter war als die Bar) oder im Freien, falls man von den Bünzli-Türstehern schon vor dem Club aus dem Club geworfen wurde. Partys auf Bergen, zu denen man per Autoshuttle gebracht wird und sich am nächsten Morgen mit Sonnenbrille vor Wanderern schützen muss, habe ich ebenso erlebt wie Morgen in fremden Betten und DJ-Gigs—wobei Luzerner unter Techno leider oft Deephouse verstehen und das wiederum fälschlicherweise mit Typen wie Wankelmut verbinden.

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Letzteres macht die Stadt aber wieder damit gut, indem sie mit der Roadhouse Bar eine Einrichtung bereithält, die direkt am Bahnhof alle Hängengebliebenen und Zugereisten aus dem Umland aufsammelt und aus dem Nachtleben ausfiltert. Dort können diese in aller Ruhe eine Hook von will.i.am mitgrölen, anstatt sich mit einer Hi-Hat auseinanderzusetzen.

Foto von Pixabay

Viele neue Freundschaften sind auf diesem Weg dazu- und einige im Eifer des Gefechts auch wieder unter die Räder gekommen. Was aber bleibt, ist die Gewissheit, selten zuvor auf so natürliche Art und Weise neue Freunde kennengelernt zu haben wie in Luzern—einer Stadt, die mit sich selbst im Reinen ist und nicht versucht, irgendwas zu imitieren. Und ich glaube, diese schrullige Natürlichkeit mag ich an der Stadt am meisten.

Vier Jahre konnte ich mich dort einfach treiben lassen, bevor es bergab mit uns ging: ein Idyll eingebettet in ein Idyll. Und trotzdem werde ich der Stadt nie vergessen, was sie für mich getan hat—mir eine neue Heimat zu geben und mich Teil einer Gemeinschaft werden zu lassen, die mich auch nach meinem Wegzug nach Zürich begleitet und mir das Gefühl gibt, daheim zu sein. Oder eben auf Klassenfahrt.

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Titelfoto von Leiju | Wikimedia | CC BY-SA 3.0