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Ich habe als Geschworener einen Menschen zum Tode verurteilt

Im Grunde hätte ich nur eine Sache tun können, nämlich die Entscheidungsfindung blockieren. Leider besaß ich damals nicht die mentale Stärke, um das auch in die Tat umzusetzen.
Foto: ​Joe Gratz | Flickr | Public Domain

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden.

2008 erhielt Sven Berger einen Brief, in dem er dazu aufgefordert wurde, bei einer Gerichtsverhandlung als Geschworener zu fungieren. So wurde er zu einem der Geschworenen im Fall von Paul Storey, einem jungen Schwarzen, dem in Texas der Prozess gemacht wurde, weil er den Minigolf-Angestellten Paul Cherry erschossen hatte. An seiner Schuld bestanden quasi keine Zweifel und Storey sah sich mit der Todesstrafe konfrontiert. Berger und die elf anderen Geschworenen mussten nun darüber entscheiden, ob der Angeklagte für sein Verbrechen sterben sollte oder nicht.

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Die Geschworenen kamen einstimmig zu dem Ergebnis, dass Storey das sollte, und so sitzt der junge Mann heute immer noch im Todestrakt eines texanischen Gefängnisses. Zwei Jahre nach der Verhandlung rief der Anwalt, den Storey für seinen Einspruch engagiert hatte, bei den Geschworenen an und fand so heraus, dass Berger inzwischen Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung bekommen hatte.

Besagter Anwalt zeigte Berger dann auch ein neues psychologisches Gutachten, in dem von Storeys kaum vorhandener intellektueller Leistungsfähigkeit, von seiner Depressionsvorgeschichte sowie von anderen strafmildernden Umständen die Rede war—alles Beweise, die Storeys Anwälte während des Gerichtsverfahrens nicht vorgelegt hatten. In einer eidesstattlichen Erklärung schrieb Berger dann, dass er nicht für die Todesstrafe gestimmt hätte, wenn er damals über diese Beweise in Kenntnis gesetzt worden wäre.

Heute lebt Berger im US-Bundesstaat Washington und arbeitet dort als Software-Ingenieur. Wir haben uns über einen Zeitraum von mehreren Wochen hinweg am Telefon und per Mail über seine Erfahrungen als Geschworener im Fall Paul Storey sowie über seine diesbezügliche Reue gesprochen. Dabei erzählte er mir folgende Geschichte:

Während der Auswahl der Geschworenen wurde ich von diversen Anwälten und Staatsanwälten befragt. Dabei sah ich Paul Storey im Gerichtssaal sitzen. Er war von schmächtiger Statur und trug einen Anzug, der ihm ganz offensichtlich nicht passte. Außerdem war seine Krawatte schlecht gebunden und hing viel zu lang runter. Da ich damals jeden Tag Anzug trug, fiel mir das sofort auf. Er machte jedoch auch einen freundlichen Eindruck. Augenkontakt schien er trotzdem eher zu vermeiden. Vielleicht hatte er vorher irgendwie einen Benimmkurs absolviert.

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Meine Geschworenenkollegen habe ich erst am Anfang der eigentlichen Gerichtsverhandlung kennengelernt. Ich war bestimmt zehn Jahre jünger als alle anderen. Die Präsentation der Beweise zog sich dann ewig hin und war teilweise sogar richtig langweilig. Jeder wirkte ein wenig angespannt, was ja auch kein Wunder war, wenn man bedenkt, dass eigentlich niemand wirklich da sein wollte.

Als wir Storey dann für schuldig befunden hatten—es bestanden eigentlich keine Zweifel, denn er hat die Tat ja auch mehrere Male zugegeben—, brachten die Anwälte über einen Zeitraum von zwei oder drei Tagen hinweg ihre Argumente für bzw. gegen die Todesstrafe vor. So gab die Verteidigung auch zu Protokoll, dass Storey während der Haftzeit vor dem Prozess keinen Ärger machte und in der Bibelgesprächsgruppe aktiv war. Das löste in mir gemischte Gefühle aus: Natürlich ist es immer gut, Konflikten aus dem Weg zu gehen, aber die ganze Sache mit der Religion ließ mich doch ein wenig an Storeys Intentionen zweifeln. Ich stellte mir einen stereotypen Gefangenen vor, der im Knast vorgibt, zu Gott gefunden zu haben, um seine Chancen auf Bewährung zu erhöhen. Natürlich waren solche Gedanken total haltlos, aber ich meine, wir haben doch alle schon mal einen Krimi gesehen, in dem ein „geläuterter" Verbrecher aus dem Gefängnis kommt und dann noch mehr Schaden anrichtet.

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Um einen Angeklagten in Texas zum Tode zu verurteilen, müssen die Geschworenen auch darüber entscheiden, ob der besagte Angeklagte dazu fähig sein könnte, in Zukunft weitere Gewaltverbrechen zu begehen. Auf Grundlage dessen, was ich während des Prozesses beobachtete, konnte ich mir das bei Storey nicht vorstellen. Irgendwie hatte ich einfach nicht das Gefühl, dass er eine Gefahr war. Mit der Ausnahme einer Frau, die etwas Mitleid zeigte, schienen die anderen Geschworenen jedoch ziemlich erpicht darauf zu sein, Storey das Todesurteil auszusprechen.

Die ganze Situation war unglaublich stressig und mein Gehirn scheint solche Dinge dann einfach auszublenden. Deswegen fällt es mir auch schwer, mich an die ganze Sache zurückzuerinnern. Ich weiß allerdings noch, dass unsere Diskussion nicht lange dauerte—vielleicht so ein oder zwei Stunden. Im Geschworenenzimmer war es ziemlich still und ich hatte das Gefühl, dass alle schon vor vornherein wussten, wie sie abstimmen würden. Alle Geschworenen waren der Meinung, dass Storey die Todesstrafe bekommen sollte.

Im Grunde hätte ich nur eine Sache tun können, nämlich die Entscheidungsfindung blockieren. Leider besaß ich damals nicht die mentale Stärke, um das auch in die Tat umzusetzen. Ich war zwar schon 28, aber trotzdem noch ziemlich unreif. Seitdem bin ich doch ein gutes Stück erwachsener geworden, aber zu dieser Zeit fiel es mir noch schwer, meine Meinung laut auszusprechen und dafür einzustehen. Als wir dazu aufgefordert wurden, ein Urteil zu fällen, schoss das Adrenalin durch meinen Körper und mein Stresspegel war kaum auszuhalten. Ich bin mir aber auch sicher, dass es nicht nur mir so erging. In solchen Situationen denke ich nicht so klar und rational wie sonst. Ich bin der Meinung, dass es in solchen Fällen für Geschworene Pflicht sein sollte, erst eine gewisse Zeit über die Entscheidung nachzudenken.

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Als wir unser Urteil verkündeten, war die Stimmung sehr emotional. Die Geschworene, die wie ich Mitleid gezeigt hatte, fing sogar an zu weinen. Ich reichte ihr ein Taschentuch.

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Eine solche Entscheidung sagt viel über den Charakter aus und viele Menschen wollen sich nicht eingestehen, dass ein Teil von ihnen dazu bereit ist, einen anderen Menschen zum Tode zu verurteilen und ihn damit zu töten.

Nachdem wir das Todesurteil gefällt hatten, teilte man uns mit, dass wir entweder vorne raus gehen und mit der Presse sprechen oder heimlich durch einen Hinterausgang verschwinden könnten. Jeder entschied sich für den Hinterausgang.

Aufgrund meiner Entscheidung fühlte ich mich schuldig. Und traurig. Und etwas hilflos. Ich redete sowohl mit meinen Eltern als auch mit meiner Frau darüber, wie mir das Ganze zu schaffen machte. Irgendwann sagte ich auch: „Ich glaube, ich habe mich falsch entschieden." Einer meiner Freunde war damals Polizist und er wollte mir wohl gut zureden, als er meinte, dass man Storeys Urteil sowieso anfechten und sich der ganze Fall noch ewig hinziehen würde.

Storeys Mutter richtete eine Facebook-Seite für ihren Sohn ein. Ich überlegte, ob ich ihm eine Freundschaftsanfrage schicken sollte, aber dann dachte ich auch darüber nach, wie komisch das anmuten würde, wenn es jemand herausfinden sollte. Einmal im Monat klickte ich jedoch auf besagte Seite und schaute mir die Fotos von Storey im Gefängnis an, denn ich wollte sehen, wie es ihm ergeht oder ob er vielleicht irgendwie begnadigt wurde. In Texas passiert das Zweitgenannte jedoch nicht sehr häufig.

Ich hatte immer den Wunsch, Storey zu kontaktieren, aber irgendwie fühlte es sich einfach nie richtig an. Was hätte ich denn überhaupt zu ihm sagen sollen? Und was hätte er mir antworten sollen? Ich weiß ja selbst nicht, ob ich jemals dazu in der Lage wäre, mit dem Menschen zu sprechen, der mein Todesurteil gefällt hat.


Titelbild: Joe Gratz | Flickr | Public Domain