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,Trace the Face‘ hilft Geflüchteten bei der Suche nach vermissten Angehörigen

Mit einer neuen Homepage hilft das Rote Kreuz Geflüchteten bei der Suche nach vermissten Familienangehörigen.

Als in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach und die ersten Bomben auf seine Heimatstadt fielen, beschloss Latif Hussein*, sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen und nach Europa zu flüchten. Als erstes sollte sein fünfjähriger Sohn Mohammad* in Begleitung seines Onkels das Land verlassen. In der Nähe von Izmir in der Türkei bestiegen sie ein völlig überfülltes Boot, das sie nach Griechenland bringen sollte. Auf halbem Wege wurden die Flüchtenden von der griechischen Küstenwache entdeckt und aufgehalten.

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Frauen und Kinder wurden auf eine griechische Insel gebracht, die Männer sollten warten und später ebenfalls abgeholt werden. Stattdessen wurden sie aber von einem anderen Schiff zurück in die Türkei gebracht. So wurde der fünfjährige Mohammad von seinem Onkel getrennt. Latif Hussein erinnert sich noch an den Anruf seines Bruders: „Im Morgengrauen klingelte das Telefon. Es war mein Bruder, der gerade zurück in die Türkei gekommen war. Er schrie: Ich habe Mohammad verloren, ich habe Mohammad verloren!"

Doch obwohl mit der Nachricht für Latif Hussein eine Welt zusammenbrach, gab er nicht auf: „Manchmal kann eine schlechte Erfahrung dein Leben bestimmen. Aber nur wenn du akzeptierst, was passiert ist, kannst du weitermachen. Ich musste etwas tun." Hussein wandte sich an das „Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)" in Damaskus, die in Zusammenarbeit mit dem IKRK in Athen seinen Sohn bereits nach 24 Stunden in einer griechischen Polizeistation ausfindig machten. Mittlerweile ist auch Latif Hussein nach Griechenland geflüchtet. Irgendwann will er aber zurück nach Syrien: „Ich hoffe, dass ich eines Tages nach Syrien zurückkehren kann. Dann werde ich Freiwilliger fürs Rote Kreuz, damit ebenfalls anderen helfen kann."

Viele Refugees, die mit Verwandten oder Freunden gemeinsam die Flucht antreten, werden irgendwann voneinander getrennt—an Grenzen, bei der Aufteilung in Busse und Züge, bei Festnahmen, oder wie im Fall von Mohammad und seinem Onkel bereits auf offenem Meer. Ein weiterer häufiger Grund, warum sich Familien aus den Augen verlieren, ist die Abhängigkeit von Schleppern und Fluchthelfern.

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Gerade Schlepper teilen die Flüchtenden oft in geschlechtergetrennte Gruppen auf. Nicht selten werden die Refugees aber aufgrund von stark überwachten Grenzen, verschärften Kontrollen und Risikominimierung für die Schlepper dann gar nicht bis ins vereinbarte Zielland gebracht, sondern irgendwo zurückgelassen—ohne eine Ahnung davon zu haben, wo sie sich überhaupt befinden.

Während der eine Teil der Familie es vielleicht bis Österreich schafft, bleibt der andere in Rumänien hängen. In dem Chaos, das an den Grenzen, auf den Bahnhöfen, in den Lagern und Quartieren innerhalb Europas derzeit herrscht, ist es schwer bis unmöglich, sich wiederzufinden.

Foto: Screenshot via YouTube

Um die Situation zumindest ein bisschen zu verbessern, haben sich mehrere nationale Gesellschaften des Roten Kreuz in Europa zusammengeschlossen und die Plattform ,Trace the Face' gegründet. Das Rote Kreuz betreibt schon seit dem ersten Weltkrieg einen Suchdienst an, dem sich 189 nationale Gesellschaften der Organisation beteiligen. Dieser war jedoch für die derzeitige Flüchtlingsbewegung nicht mehr ausreichend, weshalb die Website tracetheface.org ins Leben gerufen wurde. Auf dieser Seite können Menschen, die auf der Flucht Familienmitglieder verloren haben, ein Foto von sich selbst hochladen. Die Fotos können dabei ohne Preisgabe des eigenen Aufenthaltsortes und ohne Bekanntgabe von Namen veröffentlicht werden.

Via der Website, Social-Media-Kanälen und Plakaten in Polizeistationen, sowie Anlauf- und Sammelstellen für Refugees, sollen so vermisste Personen darauf aufmerksam gemacht werden, dass nach ihnen gesucht wird. In die entgegengesetzte Richtung, also mit Bildern von vermissten Personen, funktioniert ,Trace the Face' hingegen aus datenrechtlichen Gründen nicht. Da es sich außerdem größtenteils um Kriegsflüchtlinge handelt und somit auch eine Gefahr für etwa zurückgebliebene Familienangehörige bestünde, sei man auch allein schon aus diesem Grund bemüht, nur Bilder von Personen hochzuladen, die das auch ausdrücklich wünschen, sagt Andrea Janousek, Pressesprecherin vom Roten Kreuz Österreich.

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Zusätzlich zur öffentlichen Seite von ,Trace the Face' gibt es noch eine versteckte Seite, die nur von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Roten Kreuz in Österreich, der Schweiz, Deutschland und Kroatien aufgerufen werden kann. Auf dieser Seite finden sich vor allem Fotos von allein reisenden, minderjährigen Flüchtenden. „Versteckt ist die Seite deshalb, weil es problematisch wäre, Fotos von Kindern und Minderjährigen zu veröffentlichen. Nicht nur aus rechtlichen Gründen, sondern auch, weil wir zum Beispiel nicht sagen wollen, dass an diesem und jenem Ort gerade ein Mädchen alleine unterwegs ist", erklärt Janousek gegenüber VICE.

Foto: Screenshot via YouTube

Mit der öffentlichen Seite von ,Trace the Face' konnte in Österreich bisher noch keine Wiedervereinigung herbeigeführt werden, obwohl sie von mehreren Personen, die sich derzeit in Österreich aufhalten, genutzt wird. International gibt es aber bereits einige Erfolgsfälle und mit der versteckten Seite der Plattform konnte eine Familie in Salzburg ihren 14-jährigen Sohn wiederfinden.

Die Homepage ist nicht nur wichtig, weil damit zeitnah auf Veränderungen an den Flüchtlingsrouten und auf den Aufenthaltsort von betroffenen Personen reagiert werden kann, sondern vor allem auch, weil sie die Angehörigen von Vermissten aktiv in die Suche einbindet. „Mit der Seite nimmt man die Menschen aus ihrer passiven Rolle heraus und bezieht sie selbst in die Suche mitein. Das hat auch positive Auswirkungen auf die Psyche, weil man nicht nur einen Suchauftrag delegiert und dann wartend herumsitzt", meint Andrea Janousek.

Insgesamt nehmen derzeit offiziell 23 europäische Gesellschaften des Roten Kreuz an dem Projekt teil. Die Türkei ist zwar noch kein offizielles Mitglied des Projekts, man arbeitet aber trotzdem stark mit dem Roten Halbmond zusammen. „Derzeit scheitert es in der Türkei noch an organisatorischen Verhandlungen mit der Regierung", sagt Janousek, wodurch das Aufhängen von Plakaten noch nicht möglich ist. Die Homepage wird aber auch in der Türkei bereits genutzt und verbreitet.

„Das Rote Kreuz setzt alles daran, dass diese Personen Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen erhalten, deshalb ist es wichtig, dass viele Menschen über die Möglichkeit dieser Online-Suche erfahren", meint Gerald Schöpfer, Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes, abschließend.

* Name zum Schutz der Person geändert