The VICE Guide to Mitfahrgelegenheiten
Illustration: Sarah Schmitt

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The VICE Guide to Mitfahrgelegenheiten

Schneller als Fernbusse, günstiger als die Bahn und eine nervenaufreibende Mischung aus Sozialstudie und Todesangst—der ultimative Survival-Guide für Fahrgemeinschaften.

Gerne wird Fernbussen zugeschrieben, dass sie den Untergang der Bahn markieren würden. Schließlich seien sie bedeutend günstiger, böten in aller Regel W-Lan im Fahrzeug an (das manchmal auch funktioniert) und befahren mittlerweile auch große Teile des Landes—oder decken zumindest die allerwichtigsten Knotenpunkte der Republik ab. Tatsächlich gibt es aber noch einen dritten, öffentlich deutlich weniger beworbenen, weil letzten Endes privat organisierten Mitbewerber: Mitfahrgelegenheiten.

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Über Portale stellen Fahrer ein Angebot mit genauer Route, freien Plätzen und Kostenbeteiligung ins Netz, registrierte User können sich daraufhin mit dem Anbieter in Verbindung setzen und einen Platz im Auto buchen. Für junge Menschen mit überschaubarem Einkommen oder Studenten ist das insbesondere in der Ferienzeit oder vor größeren Feiertagen sinnvoll: Irgendwie muss man ja auch ohne eigenen fahrbaren Untersatz zur Familie kommen.

Schneller als Fernbusse, günstiger (und meistens auch pünktlicher) als die Bahn—warum fährt überhaupt noch jemand NICHT Mitfahrgelegenheit, könnte man sich fragen. Nun ja. Wie immer, wenn Menschen involviert sind und alles ein bisschen weniger professionell ist als bei seit Jahren bestehenden Großkonzernen, gibt es natürlich auch jede Menge Fallen und Nachteile. Deswegen bekommt ihr an dieser Stelle den ultimativen Leitfaden für die soziale Grenzerfahrung. Bedankt euch später, Kinder. Wir mussten es auf die harte Tour lernen.

Das Vorspiel

Vielleicht bin ich ein ausgesprochen paranoider Mensch und entwerfe in meinem Kopf gerne abstruse Horrorszenarien, aber: Seitdem ich einmal von einem Fahrer sitzengelassen wurde und dachte, ich müsste Weihnachten auf einem verregneten Lidl-Parkplatz verbringen, habe ich kein blindes Vertrauen mehr in mir unbekannte Mitfahrgelegenheitsanbieter. Deswegen würde ich jedem, wirklich jedem raten, schon im Vorfeld das richtige Maß an „Ich gehe der Person nicht auf die Nerven und baue trotzdem schon so eine Art von Verbundenheit auf, dass sie sich richtig scheiße fühlen würde, wenn sie mich einfach sitzen lässt" zu finden. Fragt freundlich nach, wie groß eure Reisetasche sein darf, kommt dem Fahrer beim Treffpunkt entgegen (oder suggeriert zumindest, dass ihr auf gar keinen Fall irgendwelche Umstände machen wollt) und seid lieber überpünktlich, als panisch „ICH BIN ECHT GLEICH SOFORT DA! BITTE BITTE WARTE AUF MICH, SONST VERBRINGE ICH DIE FEIERTAGE ALLEINE IN MEINER EINZIMMERWOHNUNG!!!" ins Telefon hacken zu müssen.

Kurzum: Tut alles, damit der Fahrer euch mag, bis ihr im Auto sitzt und euch erfolgreich davor gedrückt habt, euch zwischen zwei anderen Mitfahrern auf die Rückbank quetschen zu müssen. Dann wird euch nämlich auch verziehen, wenn ihr euch unelegant vor dem nächsten großen Punkt drückt.

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Fun. Foto: imago | Plusphoto

Smalltalk

Wenn Mitfahrgelegenheitsportale für sich werben, bemühen sie gerne das Bild eines vollen Autos voller faszinierender, lustiger Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, die sich für die Dauer von wenigen Stunden in eine homogene Gemeinschaft der zwischenmenschlichen Glückseligkeit verwandelt. Statt die ultimativen Partner für eine möglicherweise unmittelbar vor der Tür stehenden Zombie-Apokalypse zu finden, stoßt ihr im Allgemeinen auf die Art von Personen, die man auch auf jeder durchschnittlichen WG-Party antrifft. Nur dass ihr nicht einfach den Raum verlassen könnt, wenn sie euch auf die Nerven gehen, weil ihr mit ihnen in ein Fahrzeug eingesperrt seid, das sich mit über hundert Kilometern pro Stunde fortbewegt und jeder Fluchtversuch potentiell tödlich wäre. Bereitet euch also darauf vor, über euren Studiengang zu reden, den Wetterbericht für die kommenden Tage durchzusprechen und jedes Thema, das in eine wütende Diskussion ausarten könnte, weiträumig zu umschiffen. Denn, wir erinnern uns: Ihr müsst mit diesen Leuten die kommenden Stunden irgendwie durchstehen. Eine andere Möglichkeit ist es natürlich, keine der Fragen zu beantworten, stoisch aus dem Fenster zu starren und so zu tun, als wäret ihr gerade an einem anderen, besseren Ort. Sympathiepunkte sammelt ihr damit in aller Regel aber nicht.

Als Transgender zu reisen ist nervenaufreibend und gefährlich.

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Wenn man nur zu zweit im Auto sitzt, ist die Situation natürlich ein bisschen schwieriger. Es gibt nämlich keinen übermotivierten Menschenfreund, der euch das Reden abnehmen könnte. In aller Regel mündet das Ganze in zwei möglichen Szenarien: unangenehm berührtes Schweigen, nachdem jegliche Versuche, ungezwungene Floskeln auszutauschen, dramatisch gescheitert sind. Oder ein wirklich angeregt-angenehmes Gespräch, in dessen Pausen niemand das Gefühl hat, dass er dafür gehasst wird, wenn er jetzt einfach nur mal ein bisschen Musik hören möchte. Bei letzteren Momenten versteht man dann auch endlich, warum es Leute gibt, die freiwillig andere Leute in ihrem Auto mitnehmen, weil sie sich auf langen Autofahrten sonst so unfassbar langweilen. Nicht jeder, der eine Fahrt anbietet, macht das nämlich, weil er sich das Benzingeld sonst nicht leisten könnte.

Staus und Pausen

Ich glaube, ich lüge nicht, wenn ich sage: Niemand steht gerne stundenlang bewegungslos auf einer Autobahn und malt sich zunehmend aggressiver werdend blutige Amokfantasien aus, während er stoisch auf Hunderte Blechdächer vor sich starrt. Was schon dann eine nervliche Zerreissprobe ist, wenn man mit Leuten in ein Fahrzeug gepfercht ist, die man mag, wird mit wildfremden Mitfahrern zur psychischen Ausnahmesituation.

Während die Person, die sich direkt nach Start der Fahrt in ein vorgetäuschtes Koma begeben hat, die Fassade des tiefen Schlafs nicht mehr länger wird aufrechterhalten können, fühlen sich andere erst Recht dazu bemüßigt, die zunehmend passiv-aggressiver werdende Stille durch „echt lustige" Anekdoten aus ihrem Leben zu füllen. Solltet ihr irgendwann auch noch dringenden Harndrang verspüren und die unfreiwillige Pause dazu nutzen wollen, euch schnell über die Leitplanke in Richtung Autobahn-Begrünung zu verdrücken, steht ihr vor dem ultimativen Dilemma: Wie sehr traue ich diesen Menschen, die ich erst seit wenigen Minuten/gefühlt zu vielen Stunden kenne? Was, wenn der Stau sich in dem Moment auflöst, in dem ich im Gebüsch hocke? Fahren sie einfach weiter oder warten sie auf mich?

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Ähnliches gilt für Raucher- und Toilettenpausen, die gerne dann noch mal kurz eingeschoben werden, wenn sich das zu erreichende Ziel nur noch wenige Kilometer vor einem befindet. Unnötig viel Zeit mit fremden Menschen in einem überfüllten Fahrzeug zu verbringen, macht schließlich richtig viel Spaß. Warum die Experience nicht so lange wie nur eben möglich auskosten?

Potentielle Serienmörder und Todesangst

„Wie? Du fährst da einfach mit fremden Menschen mit?!" ist ein Satz, den wahrscheinlich jeder schon mal gehört hat, der auf die mütterliche Frage danach, wie man denn nun in die Heimat komme, irgendwas mit „Mitfahrgelegenheit" in den Hörer gemurmelt hat. Und ja, wenn man es so sieht: Man legt sein Leben temporär absolut in die Hände einer Person, die man nicht kennt. Ist das wirklich ein süßer Student, der sich etwas Benzingeld dazuverdienen will, oder ein wahnsinniger Serienkiller? Entpuppt sich die nette, ältere Dame als Philipp-Poisel-Hörerin und verwandelt ihren in die Jahre gekommenen Golf in eine akustische Folterkammer?

Neben dem durchaus vorhandenen Psychopathenpotential gibt es da draußen auch wahnsinnig viele Leute, die einfach keine sicheren Autofahrer sind, Blinken beim Spurenwechsel für einen Pussy-Move halten und erst dann richtig aufzuleben scheinen, wenn sie jeden ihrer Mitfahrer in absolute Todesangst versetzt haben. In meiner jahrelangen Mitfahrgelegenheitserfahrung gab es mehrere Momente, in denen ich tief durchgeatmet, aus dem Fenster geguckt und gedacht habe: „Das war es also. So wirst du sterben." Dann habe ich mit einem entrückten Lächeln auf den Lippen die Augen geschlossen und auf den Knall gewartet. Glücklicherweise kam er nie.

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In jedem Fall empfiehlt es sich, während der Fahrt immer wieder so zu tun, als stünde man mit Leuten in Kontakt, die einen schon sehnlichst erwarten. Suggeriert, dass ihr auf jeden Fall vermisst werdet, würdet ihr nicht am vereinbarten Ankunftsort auftauchen, und schickt Familie/Freunden/Bekannten Infos dazu, bei wem ihr gerade mitfahrt. Sicher ist sicher.

Foto: imago | Müller-Stauffenberg

Wechselgeld

Man sollte davon ausgehen, dass jemand, der routiniert und durchgeplant mehrmals im Monat Menschen gegen Geld durch die Republik karrt, sich zumindest an die grundlegenden Service-Pfeiler der Dienstleistungsbranche hält. Zumindest etwas Wechselgeld bei sich zu tragen, zum Beispiel. Oft genug ist es aber so, dass dann, wenn man die Fahrt hinter sich gebracht hat und es ans Bezahlen geht, der soziale Eiertanz erst so richtig anfängt. Dutzende Geschichten habe ich von gehört, nach denen Fahrer die Differenz zwischen Fahrpreis und gegebenem Schein ganz selbstverständlich als „Trinkgeld" (für was? Dass wir alle lebend am Zielort angekommen sind?) begriffen haben.

Noisey: Welcher Zug ist deine U-Bahn-Linie? Berlin Edition.

Das ist natürlich nicht die Regel und dabei mag es sich um wenige schwarze Schafe in einem Meer aus ehrlichen, fairen Auto-Engeln handeln, aber: Passt besonders bei Angeboten auf, die ein, zwei Euro unter dem Normalpreis für die jeweilige Strecke liegen—jemand also beispielsweise 18 statt 20 Euro verlangt. Wenn ihr es nicht bis auf den letzten Euro passend habt, kann es durchaus passieren, dass euer freundlicher Fahrer mit treuherzigem Augenaufschlag den Zwanni einsteckt und euch noch einen schönen Tag wünscht. Und was für ein Monster wäret ihr, ihm wegen zwei Euro eine Szene zu machen, nachdem er euch durchs halbe Land kutschiert hat? Mitfahrgelegenheiten stellen Höflichkeitsfloskeln und die grundlegenden Problemvermeidungsstrategien unseres zwischenmenschlichen Miteinanders gewaltig auf die Probe.

Kopfhörer

Bezeichnet mich als asozial, eigenbrötlerisch und unsympathisch, ich persönlich habe aber die für mich perfekte Möglichkeit gefunden, die auch noch so belastendste Fahrt mit minimalem psychischen Stress durchzustehen. Setzt euch ins Auto, beantwortet zwei, drei komplett irrelevante Fragen zu eurer Person, lächelt dann schüchtern und sagt entschuldigend „Sorry, aber ich bin echt müde. Ich glaube, ich muss jetzt erst mal kurz ein bisschen schlafen." Anschließend stopft ihr euch die Kopfhörer in die Ohren, dreht eure „Melancholisch lasse ich die Welt jenseits der Autobahn an mir vorbeiziehen"-Playlist auf und tut für den Rest der Fahrt so, als befändet ihr euch im absoluten Tiefschlaf.

Meine Fahrgast-Bewertungen auf diversen Portalen geben mir übrigens recht. Ich werde durchgehend als „unkompliziert" oder „angenehm" bezeichnet und mit dem Rezensions-Äquivalent eines wohlwollenden Schulterklopfens („gerne wieder") bedacht. Vielleicht wollen die ganzen Fahrer da draußen also auch nichts anderes, als möglichst entspannt von A nach B zu kommen. Und wünschen sich nichts mehr, als dass diese nervigen Mitfahrer, die ihnen das Benzin finanzieren, endlich mal den Mund halten.

Wenn Lisa nicht gerade so tut, als würde sie schlafen, hängt sie gerne auf Twitter rum. Folgt ihr doch mal.