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Popkultur

Auf „Cairo Confessions" teilen Ägypter Dinge, über die sie sonst niemals reden könnten

„Ich bin schwul" oder „Ich hatte vor der Ehe Sex" kann man nicht überall auf der Welt einfach so zugeben. Diese Facebook-Seite will dabei helfen.
Foto: imago | Xinhua

Facebook ist—rein vom Datenkraken-Image her—nicht unbedingt der Ort, an dem man über seine intimsten Geheimnisse sprechen würde. Nicht wenigen Deutschen ist das Unternehmen ziemlich suspekt, weil dort Nutzerdaten gesammelt, ausgewertet und weitergegeben werden sollen. Deswegen versuchen viele zumindest, nicht jedes kleinste Detail aus ihrem Leben auf Facebook preiszugeben. Dass das globale Teilen des Innersten allerdings auch etwas Befreiendes haben kann, zeigt sich in Ägypten.

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Vor allem jüngere Ägypter kennen kaum ein Thema, das sie nicht auf Facebook oder anderen Social-Media-Kanälen diskutieren würden. Das liegt hauptsächlich daran, dass sie im Internet einigermaßen anonym bleiben können und nicht riskieren müssen, zum Gespött ihrer Familie oder Freunde zu werden. „Ägypten hat eine sehr konservative Gesellschaft. Es gibt viele Dinge, über die nicht öffentlich gesprochen werden darf", sagt Mohamed Allem.

Der 27-Jährige ist Student aus Kairo und betreut in seiner Freizeit die Facebook-Seite „Cairo Confessions", auf der anonym eingereichte Geständnisse gepostet werden. Dort reden Ägypter über private Probleme oder gesellschaftliche Tabus. Was auch immer sie loswerden wollen, schreiben sie in ein Google-Dokument, auf das Allam und seine acht Kollegen Zugriff haben. Die Betreiber posten die Geständnisse dann wiederum bei Facebook. In den Texten dürfen keinerlei Hinweise auf den Autoren stehen und auch Allam hat absolut keine Ahnung, wer hinter den Texten steckt. Nur ihr Alter und Geschlecht verraten die Autoren manchmal. Auf Facebook können die Geständnisse dann von jedem gelesen und kommentiert werden.

Manche der Beiträge handeln von Themen, die den meisten von uns bekannt vorkommen dürften. Zum Beispiel beschreibt eine Frau, dass sie sich manchmal alleine fühlt: „Ich fühle mich ungewollt und ungebraucht, so als ob ich allen egal wäre. Es fällt mir so schwer, Freunde zu finden." Oder ein 28-jährigen Arzt gibt zu, dass er keine Lust mehr auf seinen Beruf hat: „Ich glaube nicht, dass ich ein guter Arzt bin und ich habe keine Lust mehr auf Medizin. Ich arbeite in einem staatlichen Krankenhaus und verdiene fast gar nichts, ich möchte raus aus meinem Job."

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Ganz ähnlich klingen auch die meisten Postings auf der deutschen Seite beichthaus.com, die nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert, oder auf der amerikanischen App „Secrets", die allerdings im April dieses Jahres pleite gegangen ist. Doch bei vielen Beiträgen auf „Cairo Confessions" wird deutlich, dass Ägypter zusätzlich noch mit ganz anderen Problemen zu tun haben. Problemen, die einer tatsächlichen „Beichte" näher kommen als die ganz normalen Sorgen des Alltags oder Frustration im Job—und die ihre Urheber in Ägypten zum Teil ins Gefängnis bringen könnten.

Ein Thema, das immer wieder auftaucht, ist Sex vor der Ehe. Der passiert in Ägypten zwar genauso wie in Deutschland, ist häufig aber mit großen Schuldgefühlen verbunden. Wie bei diesem Mädchen: „Ich hasse mich und habe das Gefühl, ich werde zu einem schlechten Menschen. […] Ich habe einen Freund und manchmal habe ich sexuelle Gedanken über ihn. Wir haben uns geküsst und er hat meine Brust berührt, aber mehr ist nicht passiert. Jedes Mal schämen wir uns. […] Ich möchte, dass Allah mir vergibt, aber ich denke nicht, dass ich es verdiene. Hilfe, bitte!" Oder bei diesem 28-jährige Mann, der schreibt: „Ich bin verlobt und habe Telefonsex mit ihr, jeden Tag. Wir wissen, dass es ‚haram' ist, wie können wir darüber hinwegkommen? Wir wissen, dass geil werden nie eine Option ist, aber wir müssen noch mindestens zwei Jahre warten, bis wir heiraten können."

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Ein anderes großes Thema sind Frauen, die darüber schreiben, dass sie ihr Kopftuch eigentlich nicht tragen wollen, sich von der Gesellschaft aber dazu gezwungen fühlen. „Ich trage ein Kopftuch. Ich hasse es. Ich habe nicht den Mut es abzunehmen, weil ich eine negative Person bin. […] Ich hasse es zu sehen, wie die Mehrheit auf den Straßen Kopftuch trägt und mindestens die Hälfte ist nicht davon überzeugt, nur die Gesellschaft."

VIDEO: VICE News über sexuelle Gewalt in Ägypten.

Etwa 30 bis 50 solcher Geständnisse kommen täglich bei Allam und seinen Kollegen an. Ungefähr eine Handvoll davon wählen sie aus, wobei sie besonders darauf achten, dass jeden Tag eine gute Themenmischung online geht. Seit März 2013 gibt es die Seite und sie wird immer beliebter. Mit über 62.000 Gefällt-mir-Angaben hat sie auf Facebook deutlich mehr Abonnenten als das deutsche Pendant Beichthaus.com, das gerade mal auf 18.500 Likes kommt. Zusätzlich gibt es in Ägypten noch andere Plattformen, die nach demselben Prinzip funktionieren und auch sehr erfolgreich sind. „Confessions of a married woman" ist zum Beispiel eine private Gruppe, in die nur verheiratete Frauen aufgenommen werden.

Die Beliebtheit der Portale erklärt Betreiber Allam einerseits damit, dass Social Media in Ägypten generell eine größere Rolle als in Deutschland spielt. Andererseits können Ägypter aber auch nur online wirklich offen sein. „Ägypter machen sich die sozialen Medien zunutze. Hier können sie über alles reden, was sie bewegt, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen", sagt Allam. Denn die Gesellschaft wacht sehr penibel über das Verhalten des Einzelnen. Wer nicht der Norm entspricht, hat in der Regel ein großes Problem. „Wenn jemand öffentlich zugibt, dass er beispielsweise schwul ist, wird sich sein ganzes Leben verändern. Die Familie wird sich abwenden, Freunde nicht mehr mit ihm reden", so Allam. Obwohl Homosexualität in Ägypten nicht explizit illegal ist, müssen Schwule und Lesben Verfolgung durch den Staat befürchten. Die Vorwürfe lauten dann „Anstachelung zu unsittlichem Verhalten" oder „Verhöhnung der Religion".

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Wie viel Druck das für die Betroffenen bedeutet, lässt sich aus den Facebook-Posts herauslesen. „Ich spüre so viel Schmerz, weil ich in einen männlichen Kollegen von mir verliebt bin. […] Ich möchte, dass jeder über meine sexuelle Orientierung Bescheid weiß: Ich bin SCHWUL und ich tue niemandem weh …", schreibt etwa ein 21-Jähriger.

Im Internet bekommen die Betroffenen Feedback von anderen und erfahren, dass sie mit ihrer Situation nicht alleine sind. Wenn es nach Allam geht, ist „Cairo Confessions" eine Gemeinschaft, in der die Menschen tolerant sind, sich gegenseitig aufmuntern und umeinander kümmern. Vor allem bei kontroversen Postings über Sex oder Religion tauchen in der Kommentarspalte allerdings immer wieder auch ablehnende Meinungen auf—aus denen zum Teil eklatantes Unwissen spricht.

Unter dem Geständnis von einem Mann, der über seine Homosexualität schreibt, sprechen zwar viele Kommentatoren Mut zu und empfehlen, seine sexuelle Neigung zu akzeptieren. Dazwischen steht allerdings auch: „Es gibt eine Behandlung für dein Problem. Aber du kannst nur behandelt werden, wenn du akzeptierst, dass du wirklich krank bist! […] Wenn die Menge an Aufmerksamkeit und Geld, die in Schwulenrechte investiert wird, in die Erforschung psychologischer und biologischer Behandlungen von Homosexualität gesteckt werden würde, wäre die Welt ein besserer Ort."

Die Betreiber von „Cairo Confessions" lesen sich die Kommentare zwar alle durch und löschen auch immer mal wieder was. Zu ihrer Idee von Offenheit gehört aber, auch konservative oder religiös geprägte Kommentare zuzulassen. „In Ägypten bewegen wir uns immer zwischen den Gegensätzen tolerant und konservativ. Bei ‚Cairo Confessions' wollen wir das gesamte Spektrum an Meinungen abbilden. Solange es nicht verbal beleidigend ist, darf jeder kommentieren, was er denkt", erklärt Allam die Regeln.

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Diesen Vorsatz ziehen die Betreiber durch, auch wenn es ihnen manchmal schwer fällt, bestimmte Kommentare stehen zu lassen. „Neulich hat eine Frau geschrieben, dass sie von ihrem Ehemann vergewaltigt wurde. Da haben einige kommentiert, dass das keine Vergewaltigung sein kann, weil es ja ihr Ehemann ist und dass er vielleicht nur mal etwas Neues ausprobieren wollte", sagt Allam.

Der Student ist vor zwei Jahren von Kairo nach Berlin gezogen und auch mit dem westlichen Lebenstil vertraut. Seiner Meinung nach haben einige Probleme der ägyptischen Gesellschaft ihren Ursprung darin, dass allgemein zu wenig miteinander kommuniziert wird. „Viele Männer haben ein schlechtes Frauenbild, was unter anderem dazu führt, dass sexuelle Belästigung ein großes Problem ist. Diese Männer haben aber häufig ihr ganzes Leben lang kaum Kontakt mit dem anderen Geschlecht gehabt. Sie nehmen Frauen generell nicht als gleichgestelltes Lebewesen mit denselben menschlichen Gefühlen wahr."

Gerade die heftigen, frauenfeindlichen und homophoben Kommentare zeigen, wie wichtig eine Plattform ist, auf der man sich (vergleichsweise) anonym austauschen kann. „Cairo Confessions" und verwandte Seiten sollen eine faire, offene Kommunikation ermöglichen und Probleme damit in Zukunft am besten schon lösen, bevor sie entstehen. Allam nimmt seine Arbeit bei der Facebook-Seite deshalb sehr ernst. „Ich wünsche mir, dass wir eine offenere und tolerantere Gesellschaft werden, die über jedes Thema auf eine zivilisierte Art sprechen kann."

So eine Facebook-Seite kann der erste Schritt in diese Richtung sein.


Titelfoto: imago | Xinhua